Christliche Werte nicht nur in Rußland durch Harry Potter in Frage gestellt?
Eine sozialpsychologische Reparaturaufgabe für etliche Generationen
Zunächst einige Worte zur Bedeutung unseres erneuten Reisezieles Nishny Nowgorod. „Die für die
russische Geschichte bedeutsame Stadt entwickelte sich um 1850 zur Drehscheibe des russischen
Handels und während der Zeit der Sowjetunion zu einer bedeutsamen Industrie-Metropole. Nischni
Nowgorod ist heute ein wichtiges politisches, wirtschaftliches, wissenschaftliches und kulturelles
Zentrum Russlands. Es ist der größte Verkehrsknotenpunkt und Regierungszentrum des
Förderationskreises Wolga und eines der Hauptziele des Flusstourismus in Russland. Im
Stadtzentrum befinden sich Universitäten, Kirchen, Museen und Theater. Der Kreml ist das
wichtigste Bauwerk in der Nischni Nowgoroder Altstadt. Auf seinem Territorium konzentrieren
sich die städtischen Behörden“ ( https://de.wikipedia.org/wiki/Nischni_Nowgorod).
Besuch im Kloster – Wiederbegegnung mit unserem Glauben
Mit einer gemütlichen Schiffstour auf der Wolga begann unsere Reise 2019 in Nishny Nowgorod.
Schon von Weitem fiel uns erneut die stattliche Kremlanlage ins Auge. Die strahlenden Kuppeln
der russisch-orthodoxen Kirchen erfreuten uns. Nun konnten wir auch die ausladende Klosteranlage
erblicken, das Ziel unseres ersten Besuches. Dort empfing uns der Leiter des Priesterseminars, um
uns durch das Anwesen zu führen. Uns umfing ein anschwellender Gesang, der aus einem der
größeren Räume erklang. Eine Stimmbildnerin leitete den Männerchor. Der Priester führte uns in
ein Museum, das anhand sakraler Gegenstände die historisch bedeutsamen Stationen der
Klosterentwicklung dokumentierte. Grundsätzlich sind in Rußland Kirche und Staat getrennt. Die
Glaubensgemeinschaften müssen sich selber ernähren. So zahlen die Unterstützer der russischorthodoxen
Kirche eine Art innere Steuer.
Das Seminar beherbergt Studenten aus ganz Rußland. Die Absolventen des Seminars werden als
Kirchendiener arbeiten, nachdem sie sich entschieden haben, zu heiraten oder nicht zu heiraten. Im
Falle einer Familiengründung ziehen sie mit ihrer Familie in die Nähe der gewählten Kirche. Wer
ledig bleiben will, erhält keine Gemeinde und geht in der Regel ins Kloster. Im Falle von NY
exitiert in der Nähe des Klosters eine Mädchenschule, in der die Seminarsieten sich nach einer Frau
umschauen können. Wenn beim ersten Schultag einer Schule die Mädchen ein Kopftuch tragen, so
entspricht das derTradition. Jede Einrichtung hat eben ihre Traditionen. Wir kennen das Tragen
einer Kopfbedeckung auch aus der katholischen Kirche.
Obwohl in der Zeit des Kommunismus nach 1917 die Kirchenbauten zu Bäckereien o.ä. umgenutzt
wurden, hat sich der tiefverwurzelte Glaube einer Suche nach Wahrhaftigkeit dennoch erhalten.
„Der wahre Glaube an Christus ist im Herzen, und er ist fruchtbar, demütig, geduldig, liebevoll,
voll von Erbarmen, voller Mitgefühl, er hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; er entfernt sich
von weltlichen Begierden und heftet sich allein an Gott, er strebt und sucht stets nach dem
Himmlischen und Ewigen, kämpft gegen jede Sünde, und ständig trachtet und bittet er dafür um
Hilfe von Gott“.(Hl.Tichon von Zadonsk) „Der Glaube eines Christen beinhaltet die Liebe; ein
Glaube ohne Liebe ist der des Teufels“ (Sel.Augustin)“ (https://www.deutsch-orthodox.de/unserglaube/).
Die Orthodoxie sieht es als ihre Aufgabe an, das Leben einzelner Heiliger als Überlieferung im
Fühlen der Gläubigen zu tradieren. Die aktuelle Bedeutung des Christentums wird dabei darin
gesehen, nach der gottlosen Zeit des Kommunismus wieder ein gemeinsam zu erstrebendes
Wertefundament bei der jungen Generation aufrichten.
Insofern besteht die Aufgabe eines Unterrichtenden darin, den Glauben des Einzelnen zu stärken,
den Schwächeren dieselben ausgleichen zu helfen und eine Klassengemeinschaft zu formen.
Insofern verbietet sich ein individualisierter Unterricht, in der wie etwa in Deutschland jeder
Schüler eine getrennte Aufgabenstellung erhält und es keine gleichen Ziele mehr geben kann. Dabei
gibt es keinesfalls das Phänomen der Inklusion, denn es gibt keine Kirchendiener mit
irgendwelchen Gebrechen, die ihn an seiner Aufgabe in der Gemeinde hindern könnten. Hinzu
kommt, daß individualisierter Unterricht und gemeinsame Glaubenserfahrung einander
ausschließen. Jeder Unterrichtende hat die Aufgabe in seinem Seminar ein Kollektiv zu
schmieden.Wenn eine Klasse nicht zusammensteht, hat es der Vortragende außerordentlich schwer,
sein Wissen an den Mann zu bringen. Eine Gemeinschaft lebendiger Menschen und Gläubigen statt
atomisierter, unverbundener Aufgabenbewältigung etwa per Tablet formen, nur so kann auch ein
gleichwertiger Zusammenhalt zwischen den Generationen entstehen.
Ethik in Verbindung vor allem mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte
Diese und auch nachfolgende Gedanken erinnern sehr an die Grundlagen der Allgemeinen
Erklärung der Menschenrechte. „Die Würde des Menschen muss, wenn sie nicht blosses Postulat
bleiben soll, eine erlebte emotionale Qualität sein, die sich nur im sozialen Bezug vollziehen und
festigen kann. Sie beruht auf einem gegenseitigen Geben und Empfangen. Familie und Schule
sowie die Gesellschaft können die Bedingungen schaffen, dass die Würde des Menschen nicht nur
geachtet, sondern gelebt wird. Es war nicht von ungefähr, dass dieses Postulat 1948, nach dem
Desaster des Zweiten Weltkrieges, als erster Punkt in die Allgemeine Erklärung der
Menschenrechte der Vereinten Nationen aufgenommen wurde:
„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und
Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.“1
Pater Sergej schloß sich dem Gedanken der großen Genfer Philosophin Jeanne Hersch an, daß jede
Generation auf den Schultern der vorherigen stehen müsse. Würde das vernachlässigt und die
Jugend springe von den Schultern herunter, komme es zum gesellschaftlichen Zusammenbruch.
Statt Hinführung zu einem gemeinwohlorientierten, freiheitlichen Denken in direkter Demokratie,
einer Erziehung zum unbedingten Eintreten für eine antimilitaristische Sozialpolitik und gegen den
Krieg, konnte die junge Generation durch Propaganda beim Drogenkonsum und Orientierung auf
eine Freizeit– und Event„kultur“ auch zu einer Entsolidarisierung der Generationen hingeführt
werden. Den jungen Leuten wird vorgegaukelt, in der Verfolgung „ihrer“ Freizeitinteressen sei ihre
sogenannte „Jugendkultur“ verkörpert, obwohl sie nur ein Abziehbild des neoliberalen, politischen
Mainstreams darstellt.
„In Wirklichkeit ist eine der Quellen des Unglücks für einen Teil der heutigen Jugend meiner
Ansicht nach keineswegs die Repression, sondern die Abwesenheit von echten Erwachsenen in
unserer Gesellschaft. Wenn es heisst, ‚alles ist erlaubt‘, so bedeutet das, dass es nichts gibt – nichts,
das zu etwas zwingt, nichts, das etwas wert ist, nichts, das sich aufdrängt. Da alles erlaubt ist,
erwartet man von jemandem etwas. Das habe ich die nihilistische Leere genannt“ (Aus: Jürgen
Oelkers. Jeanne Hersch, Schule und Reformpädagogik, Vortrag auf der Tagung „Ideal, Macht,
Utopie: Symposion zum 100. Geburtstag von Jeanne Hersch“ am 15. Juni in der Universität Zürich,
1990).
Die Glaubenswahrheit will stets neu erkannt werden
Es gebe jedoch den Begriff der Wahrheit, so erläuterte Pater Sergej weiter: Denn schon Christus
habe zu Pilatus gesagt, er sei gekommen, die Wahrheit wieder aufzurichten. Und Pilatus habe
geantwortet: Was ist Wahrheit, was ist gut, was böse, was heißt Objektivität? Wir müssen, so Pater
Sergej weiter, die Antwort darauf finden, was ist Wahrheit? Wir haben eine außerordentlich
reichhaltige Historie und Kultur. Wenn wir diese verfolgen, finden wir die Wahrheit, aber nur
körnchenweise. Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart überhaupt erst erkennen und
damit seine Zukunft gestalten. Konkret geht es in der Orthodoxie darum, auf den Traditionen
dergestalt aufzubauen, das Leben der Heiligen aufzuschreiben, zu erforschen, zu studieren und so
am Leben zu erhalten.
Daran schloß sich ein kurzer Exkurs zu einer Rede des Präsidenten Wladmir Putin an: Der
moralische Zerfall der Kultur beginne bei der Verneinung christlicher Werte. „Wir sehen, dass viele
euro-atlantische Staaten einen Weg eingeschlagen haben, auf dem sie ihre eigenen Wurzeln
verneinen bzw. ablehnen, einschließlich der christlichen Wurzeln, welche die Grundlage der
westlichen Zivilisation bilden.“ In diesen Staaten würden moralische Grundlagen und jede
traditionelle Identität verneint, sowie nationale, religiöse, kulturelle oder sogar geschlechtliche
Identitäten verneint bzw. relativiert. Dort werde Politik gemacht, die eine kinderreiche Familie mit
homosexueller Partnerschaft (juristisch) gleichsetzt, sie setze den Glauben an Gott mit dem Glauben
an Satan gleich. Die Exzesse bzw. Übertreibungen der politischen Korrektheit in diesen Ländern
führten dazu, dass sogar bei jenen Parteien die Legitimitätsfrage ganz seriös gestellt wird, welche
Pädophilie propagieren. Es würden in Europa christliche Feiertage und Feste abgeschafft, oder sie
1 „Grundprinzipien aus Sicht der personalen Psychologie,“ Dr. Annemarie Buchholz-Kaiser,
werden neutral umbenannt, als würde man sich für diese christlichen Feste schämen. Damit
versteckt oder verheimlicht man den tieferen moralischen Wert von diesen Festen“
(https://www.epochtimes.de/politik/welt/putins-warnung-an-westliche-nationen-ohne-moralischewerte-
verlieren-menschen-ihre-wuerde-a2041332.html).
Die Zerstörung unsere kulturellen Werte wird durch das Langzeitprogramm Harry Potter
eingeflößt – Kurze Beobachtungen aus Universität und deutschsprachigen Gymnasium
Auch wenn Schüler und Studenten nicht alle Bücher gelesen haben, so ist ihre Begeisterung über
die in den Filmen dargestellte Welt anzumerken. Wurde bereits vor etwas 20 Jahren die Harry
Potter-Welt aufgerichtet und mit einer unglaublichen Medienhysterie inklusive sieben Filmen
eingespeist, so wäre die damit verbundene Umsteuerung der Gesellschaft – was an Reaktionen aus
den Dialogen mit Schülern und Studenten in Rußland ebenfalls erfahrbar war – ohne die
Politpropaganda nicht gegangen.2 Dabei kamen wir jeweils konkret auf den Eingang und den
Einfluß von Harry Potter in die Gedankenwelt von jungen Leuten zu sprechen. Es gab junge Leute,
die es verteidigen, daß man sich als Teil der Realität auch damit beschäftigen müsse.
Selbtverständlich sei damit auch eine Rechtsordnung verknüpft, die eine streng hierarchische
Willkürherrschaft mit drakonischen Strafen bis hin zur Todesstrafe durch einen Henker eine
gewisse Berechtigung zukomme. Dem Schulleiter wird dabei zugestanden, den Schülern gegenüber
die Grenzen ihrer Bewegungsfreiheit im Gebäude jeweils vorzuschreiben und mit Todesdrohungen
durchzusetzen. Somit wird sichtbar, daß die Schüler in Universität und Gymnasium bereits eine
gewisse Bereitschaft verinnerlicht haben, daß sie in dedn Filmen gezeigte Brutalität und den in den
Geschichten enthaltenen Rassismus und sozialdarwinistische Auslese akzeptieren gelernt haben.
Den Kirchendienern sowohl in russisch-orthodoxer wie auch in armenischer Kulturvermittlung
wurde aus den Schilderungen deutlich, daß man mit einer solchen Sichtweise der Botschaft Jesu
Christi nicht mehr nachfolgen könne. Das sind zwei völlig getrennte Welten und es sei nicht zu
akzeptieren, daß eine damit verbundene geistige Führungsrolle für die Jugend eingeräumt werden
dürfe. Nun gebe es jedoch Befürworter, die Harry Potter als modernes Mtärchen behaupten. Im
Märchen steht allerdings das Gute im Mittelpunkt und das Böse umkreis es. Bei Harry Potter ist es
umgekehrt, denn hier steht das Böse im Zentrum und das Gute umkreist es. Das könne nicht als
christlich bezeichnet werden, denn der Kanon eines Märchens werde mit diesem Vorgang zerstört
und das sei das Dämonische, weil Menschenrechte verneinende.
Züchtung von Macht- und Überlegenheitstreben auf der Zauberschule Hogwarts –
Bindungsfähigleit von Kindern und Jugendlichen bedarf hingegen fürsorglicher Anleitung
Die Förderung von Kampf und Überlegenheitsstreben bei Kindern und Jugendlichen unterbindet
allerdings jedwede auf Sozietät gerichtetes Bildungsinteresse. Die prinzipielle Erziehugsfähigkeit
und –bedürftigkeit in der Bindung zwischen Mutter und Kleinkind stärkt die Kooperationsfähigkeit
als Grundlage jeder Kultur.
„Versuche mit Kleinkindern zeigen, daß sie einem Erwachsenen unaufgefordert beim Bewältigen
bestimmter Tätigkeiten helfen, sei es, indem sie Hand anlegen oder ihm Informationen zukommen
lassen, etwa über den Ort, an dem sich ein von ihm gesuchtes Ding befindet. Und auch das Teilen
macht, selbst wenn egoistisches Verhalten manchmal die Oberhand gewinnen kann, keine
besonderen Schwierigkeiten. Diese tief angelegte kooperative Sozialität, wie sie die zwischen
Primaten und Menschenkindern verschiedener Herkunft vergleichenden Experimente von Michael
Tomasellos Arbeitsgruppe vor Augen führen, ist offensichtlich ein entscheidender Faktor für die
spezifisch menschliche kulturelle Evolution. Denn alle für die kulturell beschleunigte Entwicklung
notwendigen Übereinkünfte, von geteilten einfachen Verhaltensnormen über symbolischen
Austausch bis zu höherstufigen sozialen Institutionen, liefen ins Leere, würden sie nicht an diese
primäre Kooperationsfähigkeit andocken können.“3
Kinder und Jugendliche müssen folglich mithilfe erwachsener Vorbilder zur gegenseitige Hilfe
unter Aufgreifen kooperativer Bereitschaften empathisch geführt werden. „Soziale Verbundenheit
2 „Danke, Harry Potter! Kinder lesen wieder mehr“
https://www.bild.de/news/2007/harry-potter-buecher-1414386.bild.html
3 Michael Tomasello: Warum wir kooperieren: Teilen lernt nur, wer es schon kann,
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/michael-tomasello-warum-wir-kooperieren-teilenlernt-
nur-wer-es-schon-kann-11071354-p2.html
mit der näheren und weiteren menschlichen Umgebung ist eine weitere Grundvoraussetzung für
seelische Gesundheit und eine volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit. Ohne ein
feinfühliges wechselseitiges Zusammenspiel von Mutter und Säugling – die Empathie – kann sich
das Urvertrauen im Kinde nicht bilden. Ohne sichere Bindung und seelische Verankerung des
Kindes in der ganzen Familie(einschliesslich des Vaters, der Geschwister, der Verwandten und
derFreunde) kann das Kind seine Individualität nicht voll entfalten und festigen, kann es nicht volle
Eigenständigkeit, Mitgefühl und Verantwortungssinn entwickeln. Ohne inneres Zuhause in seiner
Ursprungsfamilie ist der Jugendliche im Übergang zum Erwachsenwerden, der Pubertät, den
Gefahren des Drogenkonsums, der Gewalt, der Perversionen, von Formen der Dissoziation oder der
politischen Verführung in viel höherem Masse ausgeliefert; er hat in gewissem Sinne kein
seelisches Immunsystem und keine ruhende innere Balance. Ohne soziales Verbundensein ist der
Erwachsene viel schlechter gerüstet, um eine dauerhafte Ehe zu gestalten, was schwierig genug ist,
eine neue Familie zu bilden, den vielfältigen Anforderungen des modernen Berufslebens
standzuhalten und schliesslich die Rückschläge, die Enttäuschungen und Tiefschläge des Lebens
ohne Depressionen, psychosomatische Erkrankung, Suizidalität etc. durchzustehen. Und dieser Sinn
des Lebens und die Stärke und Kraft des Menschen durch menschliches Verankertsein macht
schliesslich auch für den älter werdenden Menschen den ganzen Unterschied bezüglich seelischer
Verfassung, Gesundheit und weiterem Hintergrundbeitrag zum Leben der zwei nächsten
Generationen aus. Wir befürworten deshalb auch in vollem Umfange ein Wiederbeleben des Drei-
Generationen-Modells (Grosseltern, Eltern, Kinder) und machen damit die besten Erfahrungen.“4
Die Schule wird zum brutalen Kampfplatz ums Überleben glorifiziert
Im Gespräch mit den jungen Leuten wurd deutlich, wie tief die Verwüstungen der Seelen bereits
erfaßt waren. Immer wieder kamen ähnliche Stellungnahmen zutage, die Zaubereiübergänge in
Wunschwirklichkeit einfließen ließen. So etwa die Vorstellung, mit einem Fingerschnipsen den im
Studium geforderten Buchinhalt im Gedächtnis präsent zu haben. Der Dekan war erstaunt und
versuchte Studentinnen begreiflich zu machen, daß das eigene Lesen und gedankliche Durchdringen
einer Thematik doch einen Persönlichkeitsgewinn darstellt. Die sprachliche Verbundenheit mit dem
Mitmenschen bedeutet ein Verankertwerden in der Kulur zwecks Befähigung zu eigener
Lebensgestaltung.
Das Recht auf körperliche Unversehrheit, die Grenze der Persönlichkeitssphäre wird damit auch
dem Leser offensichtlich systematisch abtrainiert, denn scheinbar berechtigte Handlungen aus
Rache und Vergeltung werden gefühlsmäßig zunehmend in die zwischenmenschlichen
Begegnungen eingespeist (vgl. Band 1, S. 68/101).
Die bahnbrechenden Erkenntnisse der Tiefenpsychologie bzw. der Anthropologhie nötigen uns,
dem durch Harry Potter in unsere Gesellschaften wie ein trojanisches Pferd hineingeschobenen
Menschenbildes dringend entgegenzuarbeiten. Konnte in Laufe der letzten Jahrzehnte manche
„überlieferte Auffassung über das Wesen der kindlichen Seele [aufgegeben werden], um sie durch
bessere und stichhaltigere Erkenntnis zu ersetzen [so ist das geänderte Erziehungsgeschehen
bedroht]. Von manchem Vorurteil, das im Laufe der Jahrhunderte den Charakter der Ehrwürdigkeit
angenommen hat, müssen wir uns trennen.
Die individualpsychologische Betrachtungsweise lehrt uns, die Persönlichkeit des Kindes als einen
Eigenwert zu achten; die kindliche Persönlichkeit kann sich aber nur dann entfalten, wenn die
Erziehung sich vor allem jener Formen enthält, die nachweisbar «neurotisierend» sind: Über die
verhängnisvolle Nachwirkung von verwöhnender, verzärtelnder, strenger, harter, autoritärer
Erziehung gibt uns die tiefenpsychologische Kasuistik umfassenden Aufschluß.
Falsche Erziehung prägt charakterliche Fehlhaltungen, welche die Einfügung des Kindes und des
späteren Erwachsenen in die mitmenschliche Gemeinschaft erschweren oder verunmöglichen; die
Irrtümer der Erzieher «produzieren» Trotz und Angst des Kindes, kindliche Aggressivität, und
bereiten so die Entwicklung zum asozialen Menschentypus vor, der sich entweder «neurotisch» von
Arbeit und Mitmenschlichkeit ausschließt oder sich kriminell gegen den als feindlich empfundenen
Sozialkörper vergeht“ (Aus: Geleitwort zum Buch Grosse Pädagogen, Friedrich Liebling,
https://www.seniora.org/de/950).
4 Grundprinzipien aus Sicht der personalen Psychologie, Auszug aus: Annemarie Buchholz-Kaiser, „Die Menschen
stärken“, Zürich, 2000, http://www.zeit-fragen.ch/index.php?id=1497
Die Welt von Hogwarts ließ so das sog. finstereMittelalter wieder aufstehen. Gott legitimierte und
bestimmte eine streng hierarchische Gesellschaftsordnung, die pessimistisch den Menschen als
Sünder ansah und Teile, wie den unteren Baernstand, nicht als Individuum/Menschen ansah.
Die realen Lebensaufgaben brauchen mutige Zeitgenossen, keine Surfer in irrealen Welten
Es muß an dieser Stelle darauf verwiesen werden, daß anscheinend in manch einem Werk heutiger
Theoretiker sozialen Verhaltens „romantisch irreführend … lyrische Lobeshymnen auf das
Mittelalter zu finden sind“, so Aldous Huxley in Wiedersehen mit der Schönen neuen Welt. Sollen
wir etwa einem neuen mittelalterlichen System zugedrängt werden, das allerdings durch eine
Entertainmentindustrie permanenten Amüsements versüßt wird, das „annehmbarer sein wird als das
ursprüngliche durch solche Annehmlichkeiten aus der ‚schönen neuen Welt’ wie
Kinderkonditionierung und Hypnopädie und durch Drogen hervorgerufene Euphorie; für die
Mehrzahl der Menschen wird es noch immer eine Art Sklaverei sein.“
Cui bono?
Die Frage bleibt, wem es nützt: Handelt es sich bei „Harry Potter Superstar“ nicht um eine
Massenbewegung mit dem Schein von Freiheit auch als Ergebnis geschickter Marketingstrategie,
flankiert von einem Politiker wie Norbert Blüm, der (anbiedernd?) „Leselust“ wecken offensichtlich
mit dem Wegführen in eine gewalttätige, gefährliche Pseudo–Realität des Okkultismus
„verwechselt“? Tatsächlich also unterscheidet sich das Szenario bei Harry Potter scheinbar kaum
von den aus Zombie– und anderen Horrorfilmen gewohnten Versatzstücken, das heißt, es wird an
bekannte Sehgewohnheiten angeknüpft.
Dämonische Welten statt Nächstenliebe und Anteilahme an den wahren Problemen in der
Welt?
Das könnte wie eine Übung für die globalisierte Welt der Zukunft aussehen, in der es nur ein
Überleben für den geben kann, der die besseren „Waffen“ (Machtstrategien,
Manipulationstechniken, „Gifte“ etc.) entwickelt hat. Hinzu kommt – und davon können mutige
Kirchenvorstände und vereinzelte Eltern ein Lied singen – seitens Medien und Mitbürgern die
versuchte Stigmatisierung oder gar Ausgrenzung all derer, die diese Manipulation der Seelen ihrer
Kinder nicht wollen (die es tatsächlich „wagen“, sich gegen den Strom zu stellen und diese ihre
Meinung auch noch kundtun – obwohl sie selbstverständlich nur ihre Bürgerrechte wahrnehmen).
Es muß stutzig machen, wenn massive Sanktionen gegen all jene ergriffen werden, die „gegen den
Strom“ schwimmen, politisch unkorrekt Bedenken gegen die Harry-Potter-Hysterie anmelden.
Wenn heute im politischen Raum wieder Propaganda für die Abhaltung von „Kreuzzügen“ –
oftmals getarnt als „Auslandseinsätze“ – gemacht wird, so stellt sich die Frage nach dem Ziel der
Harry Potter Medienpropaganda umso drängender. Waren es in den 30er Jahren etwa nicht der
Rückgriff auf Wotan und germanische Kulte, mit denen eine ganze junge Generation mißbraucht
wurde, so muß man doch stutzig werden, wenn heutzutage offenbar das Mittelalter Bühnenbild,
Handlung und die Requisiten für einen neuen „Kinderkreuzzug“ liefern soll. Harry Potter ist
folglich mitnichten ein Kinderbuch, wie man es beispielsweise noch von Enid Blyton her kennt,
sondern erweckt eher den Eindruck eines furchtbaren, politischen Credos und ist keineswegs
harmlos. Wie wir vom Dekan des Germanistischen Seminars erfahren haben, hat unsere kurze
Vorlesung „Harry Potter – Gut oder Böse?“ im obigen Sinn mit anschließender Diskusion doch
Nachhall und Nachdenklichkeit hinterlassen.
© Werne Schramm 6/2020 Höchstadt