Klagegegner –wegen: Feststellung der Unwirksamkeit von Vorschriften der Vierten Corona-Bekämpfungsverordnung Rheinland-Pfalzwird unter Verweis auf die beigefügten Kopien der Anwaltsvollmachten angezeigt, dass der Kläger von den Unterzeichnenden vertreten wird. Im Übrigen wird die ordnungsgemäße Bevollmächtigung anwaltlich versichert.Namens und im Auftrag des Klägers wird beantragt, s. unter 1.

Klagegegner –
wegen: Feststellung der Unwirksamkeit von Vorschriften der Vierten Corona-Bekämpfungsverordnung Rheinland-Pfalz
wird unter Verweis auf die beigefügten Kopien der Anwaltsvollmachten angezeigt, dass der Kläger von den Unterzeichnenden vertreten wird. Im Übrigen wird die ordnungsgemäße Bevollmächtigung anwaltlich versichert.
Namens und im Auftrag des Klägers wird beantragt, s. unter 1.

Vorbemerkung
Den Kollegen Rechtsanwalt Christian Becker und Rechtsanwalt Ralf Ludwig sei gedankt für die Zurverfügungstellung ihrer Schriftsätze. Teile ihrer Arbeiten sind in diesen Schriftsatz eingeflossen. Die des Kollegen Becker in Bezug auf die statthafte Klageart und die des Kollegen Ludwig in Bezug auf die Prüfung der Legitimität des mit den angeordneten Maßnahmen verfolgten Zwecks (Eindämmung des Infektionsgeschehens), S. 98-132 des Schriftsatzes.
Jessica Hamed
Rechtsanwältin
Zulassungssitze nach § 10 Abs. 1 BORA: RAe Bernard, Ricci, van Boekel: Gustav-Stresemann-Ring 1, 65189 Wiesbaden; RAe Korn, Guettat, Deus-Cörper, Hery, Skaric-
Karstens: Hindenburgplatz 3, 55118 Mainz; RAe Hartmann, Berneit, Wöllstein: Stromberger Straße 2, 55545 Bad Kreuznach; RAin Hamed: Bienenbergweg 9, 65375 Oestrich-
Winkel
Feststellungsklage
und
Antrag auf einstweilige Anordnung
In dem Verwaltungsrechtsstreit
des Herrn Jens Wernicke,
,

  • Kläger –
    Verfahrensbevollmächtigte:
  1. Rechtsanwältin Jessica Hamed, Kanzlei Bernard Korn & Partner, Hindenburgplatz 3, 55118 Mainz, Az.: 365/2020-JH
  2. Rechtsanwältin Viviane Fischer, Waldenser Str. 22, 10551 Berlin, Az. 744/2020
  3. Rechtsanwalt Prof. Dr. David Jungbluth, Cunostraße 36, 60388 Frankfurt am Main, Az. V 2020/5
  4. Rechtsanwalt Timo Korn, Kanzlei Bernard Korn & Partner, Hindenburgplatz 3, 55118 Mainz
    DATUM
    AKTENZEICHEN
    DURCHWAHL
    E-MAIL
    27.04.2020
    0365/2020-JH
    (06131) 5547666
    hamed@ckb-anwaelte.de
    Verwaltungsgericht Mainz
    Ernst-Ludwig-Straße 9
    55116 Mainz
    Seite 2 von 289
    g e g e n
    das Land Rheinland-Pfalz, vertreten durch die Ministerin für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Demographie, Bauhofstraße 9, 55116 Mainz
  • Klagegegner –
    wegen: Feststellung der Unwirksamkeit von Vorschriften der Vierten Corona-Bekämpfungsverordnung Rheinland-Pfalz
    wird unter Verweis auf die beigefügten Kopien der Anwaltsvollmachten angezeigt, dass der Kläger von den Unterzeichnenden vertreten wird. Im Übrigen wird die ordnungsgemäße Bevollmächtigung anwaltlich versichert.
    Namens und im Auftrag des Klägers wird beantragt,
  1. festzustellen, dass die in § 1, § 2 § 3 und § 4 der Vierten Corona-Bekämpfungsverordnung Rheinland-Pfalz vom 17. April 2020, in der Fassung der Änderungen durch Art. 1 und Art. 2 der ersten Landesverordnung zur Änderung der Vierten Corona-Bekämpfungsverordnung Rheinland-Pfalz vom 20. April 2020, zuletzt geändert durch Art. 1 und Art. 2 der zweiten Landesverordnung zur Änderung der Vierten Corona-Bekämpfungsverordnung Rheinland-Pfalz vom 24. April 2020 enthaltenen Bestimmungen ihn in seinen ihn in seinen Rechten in Form der Grundrechte des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 GG), der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG), der körperlichen
    Seite 3 von 289
    Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG), der Bewegungsfreiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) der Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG), der Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG), der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) sowie der grundrechtsgleichen Rechte des Bestimmtheitsgebots (Art. 103 Abs. 2 GG und Art. 20 Abs. 3 GG) verletzen und unwirksam sind,
  2. hilfsweise wird beantragt,
    festzustellen, dass die in § 1, § 2 § 3 und § 4 der Vierten Corona-Bekämpfungsverordnung Rheinland-Pfalz vom 17. April 2020, in der Fassung der Änderungen durch Art. 1 und Art. 2 der ersten Landesverordnung zur Änderung der Vierten Corona-Bekämpfungsverordnung Rheinland-Pfalz vom 20. April 2020, zuletzt geändert durch Art. 1 und Art. 2 der zweiten Landesverordnung zur Änderung der Vierten Corona-Bekämpfungsverordnung Rheinland-Pfalz vom 24. April 2020 enthaltenen Bestimmungen ihn in seinen Rechten in Form der Grundrechte des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 GG), der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG), der körperlichen Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG), der Bewegungsfreiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) der Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG), der Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG), der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) sowie der grundrechtsgleichen Rechte des Bestimmtheitsgebots (Art. 103 Abs. 2 GG und Art. 20 Abs. 3 GG) verletzen und ihm gegenüber keine Wirksamkeit entfalten und
  3. dem Klagegegner die Kosten dieses Verfahrens aufzuerlegen.
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    Weiterhin wird beantragt,
  4. die in § 1, § 2, § 3 und § 4 der Vierten Corona-Bekämpfungsverordnung Rheinland-Pfalz vom 17. April 2020, in der Fassung der Änderungen durch Art. 1 und Art. 2 der ersten Landesverordnung zur Änderung der Vierten Corona-Bekämpfungsverordnung Rheinland-Pfalz vom 20. April 2020, zuletzt geändert durch Art. 1 und Art. 2 der zweiten Landesverordnung zur Änderung der Vierten Corona-Bekämpfungsverordnung Rheinland-Pfalz vom 24. April 2020 enthaltenen Bestimmungen bis zu einer Entscheidung über den Feststellungsantrag außer Vollzug zu setzen und
  5. dem Antragsgegner die Kosten dieses Verfahrens aufzuerlegen.
    Begründung:
    Zur besseren Übersicht folgt erneut zunächst eine Gliederung.
    A. Feststellungsklage
    I. Sachverhalt
    II. Rechtliche Ausführungen
  6. Schutzbereiche – Eingriffe
    a. Allgemeines Persönlichkeitsrecht
    b. Allgemeine Handlungsfreiheit
    c. Recht auf körperliche Unversehrtheit
    d. Bewegungsfreiheit
    e. Religionsfreiheit
    f. Versammlungsfreiheit
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    g. Berufsfreiheit
  7. Gesetzesvorbehalt – Parlamentsvorbehalt
    a. Gesetzesvorbehalt
    b. Wesentlichkeitstheorie
    aa. Voraussetzungen
    bb. Rechtsfolgen
    cc. Weitere Anforderungen
    c. Subsumtion
    aa. Feststellung der Wesentlichkeit
    bb. Keine Ermächtigung im IfSG
    (1) Veranstaltungs- und Versammlungsverbot
    (2) Untersagung
    (3) Kontaktbeschränkungen
    (4) Infektionsschutzrechtliche Generalklausel
    (5) Rechtsprechung
  8. Störer – Nichtstörer – Allgemeinheit
  9. Folgerichtigkeit und Systemgerechtigkeit
    a. Gefahreinschätzung
    b. Normatives Schutzkonzept
    c. Systemwidrige und nicht folgerichtige ausgestaltete Durchbrechungen
  10. Maskentragpflicht
  11. Verhältnismäßigkeit
    a. Gefährlichkeit der Erkrankung
    b. Legitimer Zweck
    aa. Pandemie
    bb. Robert Koch-Institut
    cc. Ermittlung von Tatsachen/Grundlage zur Einschätzung einer Gefahr
    dd. Nationaler Pandemieplan – COVID-19
    ee. Ermittlung der Risikoeinschätzung nach Nationalen Influenzapandemieplan – Teil 2
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    ff. Konkrete Risikoeinschätzung
    gg. Aktuelle Zahlen
    hh. Konkrete Zahlen für das Land Rheinland-Pfalz
    ii. Auswertung der Daten – Datenethik und Datenkompetenz
    jj. Zwischenfazit
    1) Lockdown keine Auswirkungen – Reproduktionszahl seit dem 21. März 2020 stabil bei 1
    (2) Testhäufigkeit und Dunkelziffer
    (3) Kein exponentielles Wachstum
    (4) Keine Unterscheidung zwischen SARS-CoV-2 Infizierten und COVID-19 Erkrankten
    (5) Fehlgesteuerte Testung
    (6) Zählung der COVID-19 Verstorbenen
    (7) Italienische Zustände – kein Novum
    (8) Zwischenfazit
    c. Geeignetheit der Maßnahmen
    d. Erforderlichkeit
    bb. Andere gleich wirksame Mittel
    (1) Beschränkung der Regelungen auf besonders gefährdete Menschen
    (2) Ausweitung der Testkapazitäten
    (3) Schutzkonzepte statt Schließungen und Besuchsverbote
    (4) Schweden und Dänemark
    (5) Zwischenfazit
    e. Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn
    aa. Soziale Isolation
    bb. #stayathome – erhöhte Erkrankungsgefahr durch Bewegungsmangel
    cc. Wirtschaftlicher Zusammenbruch
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    dd. Steigende Suizidalität
    ee. Häusliche Gewalt
    ff. Eingeschränkte medizinische Versorgung
    gg. Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche
    hh. Obdachlose, Geflüchtete, Gefangene
    ii. Versorgung mit Lebensmitteln
    jj. Freiwilligkeit vor Anordnung
    kk. Die Behandlung von COVID-19 Patient*innen – ethische Prinzipien in Gefahr?
    ll. Fehlende Nachvollziehbarkeit der konkreten Maßnahmen
    (1) Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz
    (2) Epidemiologisch nicht nachvollziehbare Regeln
    (1.1.) Verbot von Versammlungen
    (1.2.) Gottesdienste
    (1.3.) Untersagung einer Vielzahl von Betrieben, Einrichtungen, und Angeboten, sowie einer großen Anzahl von Ladengeschäften und Gastronomiebetrieben
  12. Schlussbemerkung
    III. Kostenentscheidung
    B. Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
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    A.
    Feststellungsklage
    I.
    Sachverhalt
    Der Kläger wendet sich gegen verschiedene Bestimmungen in Vierten Corona-Bekämpfungsverordnung Rheinland-Pfalz vom 17. April 2020 im Folgenden: 4. CoBeLVO.
    Die hier in Rede stehenden Vorschriften haben folgenden Wortlaut:
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    II.
    Rechtliche Ausführungen
    Die (atypische) Feststellungsklage ist zulässig und begründet.
    Der Antrag ist als negative Feststellungsklage statthaft gem. § 43 Abs. 1 1. Alt., Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (im Folgenden: VwGO).
    Eine Normenkontrolle gegen die hier vorliegende sogenannte Ministerverordnung ist nach § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO i.V.m § 4 Abs. 1 Satz 2 AGVwGO Rheinland-Pfalz nicht vorgesehen.
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    § 4 Abs. 1 Satz 1 AGVwGO lässt zwar allgemein die Entscheidung nach § 47 VwGO über die Gültigkeit einer im Range unter dem Landesgesetz stehenden Rechtsvorschrift zu; indes gilt dies nach Satz 2 der Bestimmung nicht für Rechtsverordnungen, die Handlungen eines Verfassungsorgans im Sinne des Artikels 130 Abs. 1 der Verfassung für Rheinland-Pfalz sind. Darunter fallen ministerielle Rechtsverordnungen wie die vorliegend angegriffene Verordnung der Ministerin für Soziale, Arbeit, Gesundheit und Demografie.
    Der begehrte Rechtsschutz ist für den Kläger auch nicht im Wege der Inzidentkontrolle zu erreichen, da auf der Grundlage der hier angegriffenen Normen kein der Inzidentkontrolle zugänglicher Vollzugsakt gegen den Kläger erwächst.
    In einem solchen Falle hat die Rechtsprechung zur Wahrung des effektiven Rechtsschutzes eine atypische Feststellungsklage zugelassen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. 1. 2006 – 1 BvR 541/02). Dabei scheitert in einem solchen Fall die nach § 43 Abs. 1 VwGO erforderliche Konkretisierung eines Rechtsverhältnisses nicht daran, dass zu einem Normgeber an sich kein Rechtsverhältnis besteht (Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz 7. Senat, 03.04.2008, Az.:7 C 11220/07, RdNr. 25).
    Zuletzt wurde diese Form des Rechtsschutzes vom Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung vom 31. März 2020 bestätigt. Dort heißt es auszugsweise (Hervorhebungen durch die Unterzeichnenden):
    „Denn der Beschwerdeführer kann fachgerichtlichen Rechtsschutz auch auf andere Weise, also ohne vorherigen Verstoß gegen §§ 1 oder 14 SARS-CoV-2-EindmaßnV und einen daran anknüpfenden Vollzugsakt erlangen. Das gilt unabhängig von der – im Land Berlin fehlenden – Möglichkeit einer prinzipalen Normenkontrolle untergesetzlichen Landesrechts
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    durch das Oberverwaltungsgericht gemäß § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO. Der Beschwerdeführer ist gehalten, vor einer Anrufung des Bundesverfassungsgerichts beim Verwaltungsgericht eine mit einem Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz verbundene negative Feststellungsklage nach § 43 VwGO gegen die individuelle Verbindlichkeit der hier angegriffenen Verbote zu erheben, die nach der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung insbesondere dann grundsätzlich zulässig ist, wenn dem Betroffenen das Abwarten eines Normvollzugsakts wegen drohender Sanktionen nicht zugemutet werden kann (vgl. BVerwGE 136, 54 <57 ff. Rn. 25 ff., insb. 64 Rn. 42>; 157, 126 <128 Rn. 15>; zur Relevanz einer solchen Klagemöglichkeit im Hinblick auf den Subsidiaritätsgrundsatz vgl. BVerfGE 115, 81 <91 ff.>; 145, 20 <54 f. Rn. 86>). Mit Rücksicht auf Art. 19 Abs. 4 GG ist es dafür hier ausreichend, dass sich jedenfalls nicht hinreichend sicher ausschließen lässt, dass auch schon ein Verstoß gegen eines der abstrakt-generellen Verbote gemäß §§ 1 und 14 SARS-CoV-2-EindmaßnV nach § 75 Abs. 1 Nr. 1 IfSG strafbar ist. Aufgrund der Möglichkeit des Beschwerdeführers, eine Feststellungklage mit einem Antrag auf verwaltungsgerichtlichen Eilrechtsschutz gemäß § 123 Abs. 1 VwGO zu verbinden, droht ihm – entgegen seinem Vorbringen – durch den Verweis auf fachgerichtlichen Rechtsschutz kein schwerer und unzumutbarer Nachteil (vgl. § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG).“
    Das Feststellungsinteresse des Klägers gemäß § 43 Abs. 1 VwGO ergibt sich daraus, dass das Rechtsverhältnis seine eigene Rechtssphäre durch Ge- und Verbote berührt. Selbst unter dem strengeren Maßstab des § 42 Abs. 2 VwGO analog ist hier ein Feststellungsinteresse zu bejahen.
    Die Vorschriften des § 3 und § 4 Abs. 1 und 2 4. CoBeLVO untersagen landesweit mit unmittelbarer Wirkung sämtliche öffentlichen und privaten Veranstaltungen und Ansammlungen jeglicher Art sowie
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    öffentliche und nichtöffentliche Versammlungen unter freiem Himmel und in geschlossenen Räumen mit mehr als einer weiteren Person oder mit Personen außerhalb desselben Haushalts. Hiervon ist auch der Kläger betroffen, der in seinem Recht aus Art. 8 Abs. 1 Grundgesetz (im Folgenden: GG), sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln, eingeschränkt wird. Dies gilt unabhängig davon, ob der Kläger tatsächlich bereits eine Versammlung plant, denn als abstrakt-generelle Regelung greift die hier angegriffene Vorschrift bereits abstrakt in das Grundrecht ein, und zwar unabhängig davon, ob eine Versammlung konkret geplant ist oder nur möglich ist. Darüber hinaus entfaltet das abstrakt-generelle Verbot bereits im Vorfeld einer Entscheidungsfindung über die Durchführung einer Versammlung eine beschränkende Wirkung, indem es Grundrechtsträgerinnen bereits davon abhalten kann, Versammlungen zu planen und zu konzipieren. Auch dieser Vorfeldbereich, nämlich die Bildung des Entschlusses zur Durchführung einer Versammlung und die Planung einer Versammlung, unterfällt bereits dem Schutzbereich der Versammlungsfreiheit nach Art. 8 GG. Ob und inwieweit ein derartig abstrakt-generelles Verbot gerechtfertigt werden kann, ist eine Frage der Begründetheit. Auch im Hinblick auf das Verbot jeglicher Veranstaltung ist der Kläger zumindest in ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG betroffen, insbesondere bereits auch deshalb, weil das Veranstaltungsverbot sich seinem Wortlaut nach nicht nur auf den öffentlichen Raum oder auf kommerzielle Veranstaltungen bezieht, sondern auch und gerade private Veranstaltungen umfasst. Die Regelungen in § 4 Abs. 1 S. 3 und 4, Abs. 2, 3, 4 und 5. 4. CoBeLVO stellen sich als Ausnahmeregelungen zu den oben beschriebenen Beschränkungen dar und belasten damit den Kläger nicht unmittelbar, es handelt sich aber um komplementäre Regelungen, die bei Unwirksamkeit der Hauptregelungen gegenstandslos würde. Sie sind damit in die Prüfung und in den Unwirksamkeitsausspruch miteinzubeziehen. Seite 19 von 289 Der Kläger ist weiterhin von der Regelung in § 2 Nr. 2 und Nr. 3 4. CoBeLVO betroffen, denn ihm wird damit jegliche Zusammenkunft im Zusammenhang mit Angeboten in Volkshochschulen, Musikschulen und sonstigen öffentlichen und privaten Bildungseinrichtungen im außerschulischen Bereich (abgesehen von der in Satz 2 statuierten Ausnahme) sowie in Vereinen und sonstigen Sport- und Freizeiteinrichtungen untersagt. Damit wird unmittelbar jedenfalls in seine allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) eingegriffen. Zusätzlich ist der Kläger auch von den Bestimmungen in § 1 Abs. 1, Abs. 2 und Abs. 8 4. CoBeLVO final im Sinne einer beabsichtigten Beeinträchtigung betroffen. Verlautbartes Ziel der Untersagung der in der Verordnung genannten Einrichtungen und Betriebe ist die Beendigung bzw. Reduzierung der sozialen Kontaktvorgänge in diesen Einrichtungen und Betrieben. Lediglich regelungstechnisch wird dies umgesetzt durch eine an die (Geschäfts-) Inhaberinnen gerichtete Untersagung bzw. durch eine an die (Geschäfts-) Inhaberinnen gerichtete „Auflagen“ hinsichtlich des gastronomischen Angebots (nur Abgabe von Speisen durch Lieferung und zur Abholung). Es darf hier deshalb nicht verkannt werden, dass sich die Regelung formal zwar an die (Geschäfts-) Inhaberinnen richtet, mittelbar und beabsichtigt reguliert werden sollen allerdings die gesamte Wohnbevölkerung von Rheinland-Pfalz und die sich auf dem Staatsgebiet des Landes Rheinland-Pfalz aufhältigen Personen. Hiervon ist auch der Kläger betroffen.
    Die Regelungen in § 1 Abs. 3 bis 7 4. CoBeLVO stellen sich als Ausnahmeregelungen zu den oben beschriebenen Beschränkungen dar und belasten damit der Kläger nicht unmittelbar, es handelt sich aber um komplementäre Regelungen, die bei Unwirksamkeit der Hauptregelungen gegenstandslos würde. Sie sind damit in die Prüfung und in den Unwirksamkeitsausspruch miteinzubeziehen.
    Seite 20 von 289
    Die Kontaktbeschränkungen in § 4 Abs. 1 4. CoBeLVO betreffen den Kläger als natürliche Person unmittelbar und ohne weitere behördliche Zwischen- und Umsetzungsakte in seiner allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) sowie in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG), da er kraft Verordnungsrechts auf einen bestimmten Kreis an sozialen Kontakten beschränkt wird.
    Die Regelung in § 2 Nr. 1 4. CoBeLVO greift unmittelbar in die Religionsfreiheit des Klägers aus Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG ein.
    Ferner ist der Kläger auch in seiner Berufsfreiheit gemäß Art. 12 Abs. 1 GG betroffen. Berufliche Ansammlungen sind ihm gemäß § 4 Abs. 3 4. CoBeLVO nur „unter Beachtung der notwendigen hygienischen Anforderungen“ zulässig. Die Missachtung der notwendigen hygienischen Anforderungen ist strafbewehrt gemäß § 15 Nr. 25 4. CoBeLVO.
    Der Kläger ist schließlich auch in seinem grundrechtsgleichen Recht aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 103 Abs. 2 GG betroffen, denn der Verordnungsgeber hat den Verstoß gegen die hier angegriffenen Vorschriften nach § 15 4. CoBeLVO in Verbindung mit § 73 Abs. 1a Nr. 24 des Infektionsschutzgesetzes zu Tatbeständen im Ordnungswidrigkeitsrecht erhoben. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts unterfallen auch die Tatbestände des Ordnungswidrigkeitsrechts dem strengen bzw. strikten Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG. Daneben ist der Kläger auch in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG deshalb betroffen, da die hier angegriffenen Vorschriften auch nicht den allgemeinen Bestimmtheitsanforderungen aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG genügen.
    Das grundrechtsgleiche Recht des Art. 103 Abs. 2 GG ist auch im Rahmen des hiesigen Verfahrens Gegenstand der Prüfung des
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    Verwaltungsgerichts. Dies wird auch nicht durch das Vorhandensein einer inzidenten gerichtlichen Prüfkompetenz der für das Ordnungswidrigkeitsrecht zuständigen ordentlichen Gerichtsbarkeit ausgeschlossen. Wie das Bundesverfassungsgericht in einer aktuellen Entscheidung ausgeführt hat, sind von den Corona-Anordnungen Betroffene bei ihrer Rüge eines Verstoßes gegen den strikten Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG darauf verwiesen, vor dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung durch das Bundesverfassungsgericht zunächst fachgerichtlicher Rechtsschutz nachzusuchen. Das Bundesverfassungsgericht hat in diesem Zusammenhang ausgeführt:
    „Dementsprechend hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof nicht geprüft, ob das Verbot, die Wohnung ohne triftigen Grund zu verlassen, deshalb gegen Grundrechte verstößt, weil es selbst sowie die gesetzliche Ermächtigung nicht den für Straftatbestände geltenden Bestimmtheitsanforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG genügt.“
    BVerfG, Beschluss vom 18. April 2020 – 1 BvR 829/20 –, juris, Rn.
    10.
    Die Feststellungsklage ist auch begründet.
    Die angegriffenen Vorschriften sind ungültig und mithin für unwirksam zu erklären. Sie verstoßen gegen höherrangiges Recht.
    Abzustellen ist bei der Prüfung auf die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung.
    Vgl. Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 30. März 2020 – 20 NE 20.632 –; Schenke/Schenke, in: Kopp/Schenke, Verwaltungsgerichtsordnung Kommentar, 25. Aufl. 2019, § 47 Rn. 137; Ziekow, in: Sodan/Ziekow,
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    Verwaltungsgerichtsordnung Großkommentar, 5. Aufl. 2018, § 47 Rn. 64, m.w.N.
    Deshalb ist insbesondere das Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen vom 20. Juli 2000 (BGBl. S. 1045), zuletzt geändert durch das Masernschutzgesetz vom 10. Februar 2020 (BGBl. S. 148) und das Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 27. März 2020 (BGBl. S. 587) – im Folgenden: IfSG – der Prüfung zugrunde zu legen.
    Die angegriffenen Vorschriften verletzen höherrangiges Recht in Form der Grundrechte der freien Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG), der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG), der körperlichen Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG), der Bewegungsfreiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) der Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG), der Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG), der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) sowie der grundrechtsgleichen Rechte des Bestimmtheitsgebots (Art. 103 Abs. 2 GG und Art. 20 Abs. 3 GG) der von den Vorschriften erfassten Normadressatinnen und damit auch von dem Kläger. Darüber hinaus stellen sie eine verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung dar (Art. 3 Abs. 1 GG). Die Schutzbereiche dieser Grundrechte sind eröffnet, es wird durch die hier angegriffenen Bestimmungen zudem in diese eingegriffen (dazu unter 1.). Diese Eingriffe sind verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt, da es hierfür an einer verfassungsrechtlich tragfähigen, hinreichend bestimmten und parlamentarisch gedeckten gesetzlichen Grundlage fehlt (dazu unter 2.). Die durch die angegriffenen Bestimmungen in Anspruch genommene Allgemeinheit kann auf der Grundlage des § 28 Abs. 1 IfSG nicht zur Gefahrenabwehr herangezogen werden (dazu unter 3.). Es liegt weiterhin ein Verstoß gegen den grundgesetzlichen allgemeinen Gleichheitsgrundsatz vor (dazu unter 4). Darüber hinaus verstoßen die angeordneten Maßnahmen gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (dazu unter 5). Seite 23 von 289 1. Schutzbereiche – Eingriffe Die angegriffenen Bestimmungen greifen in die vorgenannten grundrechtlichen Gewährleistungsbereiche ein. a. Allgemeines Persönlichkeitsrecht Der Schutzbereich des Grundrechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit nach Art. 2 Abs. 1 GG ist eröffnet. Dass mit der einschränkenden Regulierung hinsichtlich des sozialen Kontaktverhaltens in numerischer, aber auch in örtlicher Hinsicht (öffentlicher Raum und privater Raum) das Selbstbestimmungsrecht des Klägers und aller Normadressatinnen tangiert ist, liegt auf der Hand. Unter der Geltung des Grundgesetzes steht es allen Grundrechtsträgerinnen eigenverantwortlich zu, über ihr Sozialleben zu bestimmen. Mit den angegriffenen Verordnungen wird unmittelbar und final in dieses Selbstbestimmungsrecht eingegriffen, indem es die Möglichkeiten des sozialen Austausches und Kontaktes im öffentlichen Raum erheblich einschränkt. b. Allgemeine Handlungsfreiheit Dass der Schutzbereich des Grundrechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit in der Form der allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG eröffnet bzw. betroffen ist, ist ebenfalls evident und bedarf keiner weiteren Ausführungen. Durch die hier angegriffenen Bestimmungen wird auch unmittelbar und final in die allgemeine Handlungsfreiheit eingegriffen, indem dem Kläger und allen Normadressatinnen eine ganze Reihe von Verhaltensweise untersagt wird.
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    c.
    Recht auf körperliche Unversehrtheit
    Auch der Schutzbereich der körperlichen Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ist eröffnet, denn dieser umfasst insbesondere die biologisch-physiologische Seite der Unversehrtheit.
    Vgl. BVerfG, Beschluss vom 29. Juli 2009 – 1 BvR 1606/08 –, juris, Rn. 9.
    Darüber hinaus ist auch daran zu denken, dass der geistig-seelische Bereich, also das psychische Wohlbefinden, zu berücksichtigen ist. So hat das Bundesverfassungsgericht in einer älteren Entscheidung ausgeführt:
    „Verfassungsrechtlich kann nicht außer acht bleiben, dass eine enge Auslegung nicht der Funktion des Grundrechts als Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe etwa durch psychische Folterungen, seelische Quälereien und entsprechende Verhörmethoden entsprechen würde. Da die Einfügung gerade dieses Grundrechts auf Erfahrungen im Dritten Reich beruhte, darf dieser Gesichtspunkt jedenfalls nicht gänzlich vernachlässigt werden. Mit Recht hat der nordrhein-westfälische Ministerpräsident im vorliegenden Verfahren eingeräumt, dass zumindest solche nichtkörperlichen Einwirkungen von Art. 2 Abs. 2 GG erfasst würden, die ihrer Wirkung nach körperlichen Eingriffen gleichzusetzen seien. Das sind jedenfalls solche, die das Befinden einer Person in einer Weise verändern, die der Zufügung von Schmerzen entspricht.
    (…)
    Selbst wenn aber der in Art. GG Artikel 2 Abs. GG Artikel 2 Absatz 2 GG verwendete Begriff “körperliche Unversehrtheit” im engen Sinn auszulegen wäre, ließe sich die staatliche
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    Schutzpflicht nicht schon mit der Begründung verneinen, daß der durch den Betrieb von Verkehrsflughäfen entstehende Fluglärm keinerlei somatische Folgen haben könne, sondern sich in einer Beeinträchtigung des psychischen und sozialen Wohlbefindens erschöpfe. Zumindest in Gestalt von Schlafstörungen lassen sich Einwirkungen auf die körperliche Unversehrtheit schwerlich bestreiten.“
    BVerfG, Beschluss vom 14. Januar 1981 – 1 BvR 612/72 –, jurs, Rn. 55 f. = BVerfGE 56, 54-87.
    Dieser Bereich wird durch das Kontaktverbot und die erhebliche Reduzierung des öffentlichen Lebens und damit der Möglichkeiten der Entfaltung der eigenen Persönlichkeit im öffentlichen Raum beeinträchtigt, wie auch erste Berichte in der Medienöffentlichkeit nahelegen.
    Dies ist auch naheliegend, da die Möglichkeit der Zerstreuung nahezu in Gänze fehlt, man hat keine Möglichkeit mehr, Hobbies nachzugehen und soziale Kontakte so zu pflegen, wie man es gewöhnt war. Gemeinsame Unternehmungen mit einer Mehrzahl an Freundinnen, wie Restaurant- und Theaterbesuchen, sportlichen Aktivitäten sind ebensowenig möglich. XXXXXXX XXX XXX XXX XXXXXXXXXXXXXXXXXXX XXXXXXXXXXXXXXXXXXX XXXXXX XXXXXXX XXXXXXXXXXXXXXXXXXX XXXX. d. Bewegungsfreiheit Ebenfalls eröffnet ist der Schutzbereich der Bewegungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Der Schutzbereich umfasst sowohl freiheitsbeschränkende (Art. 104 Abs. 1 GG) als auch freiheitsentziehende Maßnahmen (Art. 104 Abs. 2 GG), die das Bundesverfassungsgericht nach der Intensität des Eingriffs voneinander abgrenzt. Eine Freiheitsbeschränkung liegt vor, wenn jemand durch die Seite 26 von 289 öffentliche Gewalt gegen seinen Willen daran gehindert wird, einen Ort aufzusuchen oder sich dort aufzuhalten, der ihm an sich (tatsächlich und rechtlich) zugänglich wäre. Vgl. BVerfG, Urteil vom 24. Juli 2018 – 2 BvR 309/15 –, juris, Rn. 67 = BVerfGE 149, 293-345. Geschützt ist jedenfalls die Freiheit, sich an beliebige Orte zu bewegen, also die Freiheit, den Ort, an dem man sich befindet, zu verlassen und jeden beliebigen anderen Ort aufzusuchen (positive Bewegungsfreiheit). Vgl. Sachs/Murswiek/Rixen, Grundgesetz, 8. Aufl. 2018, Art. 2 Rn. 229a. Das Grundrecht des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG schützt die im Rahmen der geltenden allgemeinen Rechtsordnung gegebene tatsächliche körperliche Bewegungsfreiheit vor staatlichen Eingriffen. Sein Gewährleistungsinhalt umfasst zwar nicht von vornherein eine Befugnis, sich unbegrenzt überall aufhalten und überall hin bewegen zu dürfen. Demgemäß liegt eine Freiheitsbeschränkung nur vor, wenn jemand durch die öffentliche Gewalt gegen seinen Willen daran gehindert wird, einen Ort oder Raum aufzusuchen oder sich dort aufzuhalten, der ihm an sich (tatsächlich und rechtlich) zugänglich ist. BVerfGE Band 94, 166, beck-online. Im Übrigen sind solche Maßnahmen als Eingriffe in die Freiheit der körperlichen Fortbewegung zu qualifizieren, die die Beschränkung dieser Freiheit bezwecken und nicht lediglich (notwendige oder in Kauf genommene) Folge der Verfolgung eines anderen Primärzwecks sind. Sachs/Murswiek/Rixen, 8. Aufl. 2018, GG Art. 2 Rn. 233. Seite 27 von 289 Die Fortbewegungsfreiheit und die Freiheit einen Ort aufzusuchen, wird durch die im Verordnungswege angeordnete Schließung der in der Verordnung genannten Einrichtungen unmittelbar und final im Sinne einer beabsichtigten Fernhaltung beeinträchtigt. Dem Verordnungsgeber kommt es hier gerade darauf an, alle in Rheinland-Pfalz wohnhaften und alle übrigen sich in Rheinland-Pfalz aufhältigen Personen davon abzuhalten, die geschlossenen Orte aufzusuchen. So werden alle Normadressatinnen – so wie der Kläger – somit durch die angegriffenen Regelungen in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt.
    e.
    Religionsfreiheit
    Weiterhin ist der Schutzbereich der individuellen Religionsfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG eröffnet. Denn nach § 2 Nr. 1 4. CoBeLVO sind Zusammenkünfte in Kirchen, Moscheen, Synagogen und in sonstigen Einrichtungen anderer Glaubensgemeinschaften untersagt. Die Religionsfreiheit erstreckt sich nicht nur auf die innere Freiheit, zu glauben oder nicht zu glauben, das heißt einen Glauben zu haben, zu verschweigen, sich vom bisherigen Glauben loszusagen und einem anderen Glauben zuzuwenden, sondern auch auf die äußere Freiheit, den Glauben zu bekunden und zu verbreiten, für seinen Glauben zu werben und andere von ihrem Glauben abzuwerben. Umfasst sind damit nicht allein kultische Handlungen und die Ausübung und Beachtung religiöser Gebräuche, sondern auch die religiöse Erziehung sowie andere Äußerungsformen des religiösen und weltanschaulichen Lebens.
    Vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Januar 2020 – 2 BvR 1333/17 –, juris, Rn. 78.
    Mit der Untersagung wird in das Religionsausübungsrecht eingegriffen, denn die kultische gemeinschaftliche Ausübung bei Zusammenkünften mit Glaubensgenossen ist vom Schutzbereich gewährleistet. Es handelt
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    sich um einen unmittelbaren und finalen Eingriff, da die Ausübung dem Kläger direkt und ohne Weiteres untersagt wird.
    f.
    Versammlungsfreiheit
    In das Grundrecht der Versammlungsfreiheit nach Art. 8 GG wird ebenfalls eingegriffen, denn nach § 4 Abs. 1 4. CoBeLVO sind Versammlungen ohne Weiteres und insbesondere ohne weiteren behördliche Umsetzungsverfügung untersagt. Daran ändert auch die Möglichkeit einer Ausnahmegenehmigung nach § 4 Abs. 1 Satz 4 4. CoBeLVO für Versammlungen unter freien Willem nichts, denn das Grundrecht gewährleistet das Recht auf Versammlung gerade ohne vorherige Erteilung einer behördlichen Erlaubnis.
    h.
    Berufsfreiheit
    Weiterhin wird in die Berufsfreiheit eingegriffen, denn der Verordnungsgeber untersagt unmittelbar und final die Ausübung bestimmter beruflicher und unternehmerischer Aktivitäten oder stellte die Ausübung des Berufs – wie hier beim Kläger – unter bestimmte Vorgaben.
    2.
    Gesetzesvorbehalt – Parlamentsvorbehalt
    Die vorgenannten grundrechtlichen Gewährleistungen können nur durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes beschränkt bzw. eingeschränkt werden (dazu unter a.). Bei grundrechtsrelevanten und entsprechend intensiven Eingriffsakten bedarf es dabei eines förmlich-parlamentarischen Gesetzes, das bereits selbst hinreichend bestimmt die Voraussetzungen und die Rechtsfolgen des Eingriffs regelt (dazu unter b.). Eine derartige verfassungsrechtlich gebotene Eingriffsgrundlage
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    stellen die angegriffenen Bestimmungen selbst nicht dar und sie können sich auch nicht auf Bestimmungen des IfSG stützen (dazu unter c.).
    a.
    Gesetzesvorbehalt
    Die vorgenannten grundrechtlichen Gewährleistungen können nach dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des Gesetzesvorbehalts nur durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes beschränkt bzw. eingeschränkt werden.
    Dies ergibt sich teilweise aus den grundgesetzlichen Bestimmungen selbst.
    So bestimmt Art. 2 Abs. 1 GG, dass jeder das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit hat, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt. Die verfassungsmäßige Ordnung wird vom Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung dahingehend ausgelegt, dass damit jedes verfassungsgemäß zustande gekommene Gesetz gemeint ist.
    Vgl. grundlegend BVerfG, Beschluss vom 6. Juni 1989 – 1 BvR 921/85 –, juris, Rn. 62 = BVerfGE 80, 137-170; BVerfG, Urteil vom 16. Januar 1957 – 1 BvR 253/56 –, BVerfGE 6, 32-45.
    Das Grundrecht der Bewegungsfreiheit bestimmt in Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG, dass in diese Rechte – gemeint ist das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit sowie das Recht der Freiheit der Person – nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden darf.
    Vgl. BVerfG, Beschluss vom 16. Januar 2020 – 2 BvR 252/19 –, juris, Rn. 23.
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    Verstärkend bestimmt Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG, dass die Freiheit der Person nur auf Grund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen beschränkt werden kann. Es bedarf demnach bei Eingriffen in die Bewegungsfreiheit, die als Freiheitsbeschränkungen zu werten sind, stets eines förmlichen Gesetzes.
    Vgl. BVerfG, Beschluss vom 16. Januar 2020 – 2 BvR 252/19 –, juris, Rn. 23.
    Für Versammlungen unter freiem Himmel bestimmt Art. 8 Abs. 2 GG, dass dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden kann. Im Hinblick auf die Berufsfreiheit regelt Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG, dass die Berufsausübung durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes geregelt werden kann.
    Einschränkungen der grundrechtlichen Gewährleistungen der Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG) sowie des Grundrechts sich außerhalb einer Versammlung unter freiem Himmel zu versammeln (Art. 8 Abs. 1 GG) müssen sich aus der Verfassung selbst ergeben, weil diese Grundrechte keinen Gesetzesvorbehalt enthalten. Zu solchen verfassungsimmanenten Schranken zählen die Grundrechte Dritter sowie Gemeinschaftswerte von Verfassungsrang. Aber auch diese Einschränkungen bedürfen einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage.
    Vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Januar 2020 – 2 BvR 1333/17 –, juris, Rn. 82, m.w.N.
    b.
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    Wesentlichkeitstheorie
    Bei grundrechtsrelevanten und entsprechend intensiven Eingriffsakten bedarf es dabei eines förmlich-parlamentarischen Gesetzes, das bereits selbst hinreichend bestimmt die Voraussetzungen und die Rechtsfolgen des Eingriffs regelt.
    Demokratie- (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG) und Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) gebieten, dass der Gesetzgeber die wesentlichen Fragen selbst regelt (dazu unter aa.). Für eine Delegation auf den Verordnungsgeber sind die damit verbundenen Bestimmtheitsanforderungen in Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG ausdrücklich normiert (dazu unter bb.). Art. 80 GG enthält zudem weitere Anforderungen an eine abgeleitete Rechtsetzung (dazu unter cc.).
    aa.
    Voraussetzungen
    In der Ordnung des Grundgesetzes trifft die grundlegenden Entscheidungen das vom Volk gewählte Parlament. In ständiger Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht daher aus grundrechtlichen Gesetzesvorbehalten und dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) einerseits sowie dem Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG) andererseits die Verpflichtung des Gesetzgebers abgeleitet, in allen grundlegenden normativen Bereichen die wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen.
    Vgl. BVerfG, Urteil vom 19. September 2018 – 2 BvF 1/15 –, juris, Rn. 191 = BVerfGE 150, 1-163.
    Die Entscheidung wesentlicher Fragen ist vor diesem Hintergrund dem parlamentarischen Gesetzgeber vorbehalten. Damit soll gewährleistet werden, dass Entscheidungen von besonderer Tragweite aus einem Verfahren hervorgehen, das der Öffentlichkeit Gelegenheit bietet, ihre
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    Auffassungen auszubilden und zu vertreten, und dass die Volksvertretung dazu anhält, Notwendigkeit und Ausmaß von Grundrechtseingriffen in öffentlicher Debatte zu klären. Geboten ist ein Verfahren, das sich durch Transparenz auszeichnet und dass die Beteiligung der parlamentarischen Opposition gewährleistet. Wann und inwieweit es einer Regelung durch den Gesetzgeber bedarf, lässt sich nur mit Blick auf den jeweiligen Sachbereich und auf die Eigenart des betroffenen Regelungsgegenstandes bestimmen. Verfassungsrechtliche Anhaltspunkte sind dabei die tragenden Prinzipien des Grundgesetzes, insbesondere Art. 20 Abs. 1 bis 3 GG und die Grundrechte.
    Vgl. BVerfG, Urteil vom 19. September 2018 – 2 BvF 1/15 –, juris, Rn. 192 f. = BVerfGE 150, 1-163.
    “Wesentlich” bedeutet danach zum einen “wesentlich für die Verwirklichung der Grundrechte”. Eine Pflicht des Gesetzgebers, die für den fraglichen Lebensbereich erforderlichen Leitlinien selbst zu bestimmen, kann insbesondere dann bestehen, wenn miteinander konkurrierende Freiheitsrechte aufeinandertreffen, deren Grenzen fließend und nur schwer auszumachen sind. Dies gilt vor allem dann, wenn die betroffenen Grundrechte nach dem Wortlaut der Verfassung vorbehaltlos gewährleistet sind und eine Regelung, welche diesen Lebensbereich ordnen will, damit notwendigerweise ihre verfassungsimmanenten Schranken bestimmen und konkretisieren muss. Hier ist der Gesetzgeber verpflichtet, die Schranken der widerstreitenden Freiheitsgarantien jedenfalls so weit selbst zu bestimmen, wie sie für die Ausübung dieser Freiheitsrechte erforderlich sind. Der Gesetzgeber ist zum anderen zur Regelung der Fragen verpflichtet, die für Staat und Gesellschaft von erheblicher Bedeutung sind.
    Vgl. BVerfG, Urteil vom 19. September 2018 – 2 BvF 1/15 –, juris, Rn. 194 = BVerfGE 150, 1-163.
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    Die Qualifikation einer Regelung als “wesentlich” hat typischerweise ein Verbot der Normdelegation und ein Gebot größerer Regelungsdichte durch den parlamentarischen Gesetzgeber zur Folge. Damit werden ergänzende Regelungen durch Rechtsverordnung zwar nicht völlig ausgeschlossen; die wesentlichen Entscheidungen müssen jedoch in einem formellen Gesetz enthalten sein. Die Wesentlichkeitsdoktrin enthält insoweit auch Vorgaben für die Frage, in welchem Umfang und in welcher Bestimmtheit der Gesetzgeber selbst tätig werden muss. Das Bestimmtheitsgebot stellt sicher, dass Regierung und Verwaltung im Gesetz steuernde und begrenzende Handlungsmaßstäbe vorfinden und dass die Gerichte eine wirksame Rechtskontrolle durchführen können. Bestimmtheit und Klarheit der Norm erlauben es ferner, dass die betroffenen Bürgerinnen sich auf mögliche belastende Maßnahmen einstellen können. Der Grad der verfassungsrechtlich gebotenen Bestimmtheit hängt dabei von den Besonderheiten des in Rede stehenden Sachbereichs und von den Umständen ab, die zu der gesetzlichen Regelung geführt haben. Dabei sind die Bedeutung des Regelungsgegenstandes und die Intensität der durch die Regelung oder aufgrund der Regelung erfolgenden Grundrechtseingriffe ebenso zu berücksichtigen wie der Kreis der Anwender und Betroffenen der Norm sowie deren konkretes Bedürfnis, sich auf die Normanwendung einstellen zu können. Keinesfalls reicht der an Regelungsumfang und Detailgrad anzulegende Maßstab so weit, dass der rechtstaatliche Zweck des Bestimmtheitsgebots, die Vorhersehbarkeit der Rechtsordnung zu stärken, in sein Gegenteil verkehrt würde. Vgl. BVerfG, Urteil vom 19. September 2018 – 2 BvF 1/15 –, juris, Rn. 195 f. = BVerfGE 150, 1-163. bb. Rechtsfolgen Für eine Delegation auf den Verordnungsgeber sind die damit verbundenen Bestimmtheitsanforderungen in Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG Seite 34 von 289 ausdrücklich normiert. Insoweit werden die Anforderungen der Wesentlichkeitsdoktrin durch Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG näher konkretisiert. Mit Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG verwehrt das Grundgesetz dem Parlament – in bewusster Abkehr von der Weimarer Staatspraxis –, sich seiner Verantwortung als gesetzgebende Körperschaft zu entäußern. Wenn das Parlament die Exekutive zum Verordnungserlass ermächtigt, soll es die Grenzen der übertragenen Kompetenzen bedenken und diese nach Tendenz und Programm so genau umreißen, dass schon aus der Ermächtigung selbst erkennbar und vorhersehbar ist, was dem Bürger gegenüber zulässig sein soll. Das Parlament darf sich nicht durch eine Blankoermächtigung an die Exekutive seiner Verantwortung für die Gesetzgebung entledigen und damit selbst entmachten. Es muss – entsprechend dem Grundsatz der Gewaltenteilung – stets Herr der Gesetzgebung bleiben. Indem Art. 80 GG die Rückbindung exekutiver Rechtsetzung an die Legislative sichert, stellt er sich als bereichsspezifische Konkretisierung des Rechtsstaats-, Gewaltenteilungs- und Demokratieprinzips dar. Vgl. BVerfG, Urteil vom 19. September 2018 – 2 BvF 1/15 –, juris, Rn. 199 = BVerfGE 150, 1-163. cc. Weitere Anforderungen Art. 80 GG enthält zudem weitere Anforderungen an eine abgeleitete Rechtsetzung. Soweit der Gesetzgeber der Exekutive die Befugnis zur Regelung von Sachverhalten durch Rechtsverordnung einräumt, sind unter anderem Anforderungen an die durch die Ermächtigungsgrundlage gezogenen Grenzen zu beachten. Zwar stellt Art. 80 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG Anforderungen unmittelbar nur an das ermächtigende Gesetz. Eine Rechtsverordnung genügt den Seite 35 von 289 Anforderungen des Art. 80 Abs. 1 GG gleichwohl nur, wenn sie sich in den Grenzen der (wirksamen) gesetzlichen Ermächtigung hält; andernfalls würde Art. 80 Abs. 1 GG unterlaufen. Die Frage, ob eine Verordnung von der in Anspruch genommenen Ermächtigungsgrundlage gedeckt ist, hat daher verfassungsrechtliche Relevanz. Vgl. BVerfG, Urteil vom 19. September 2018 – 2 BvF 1/15 –, Rn. 209 = BVerfGE 150, 1-163. c. Subsumtion Für die mit den angegriffenen Vorschriften angeordneten Maßnahmen fehlt es an einer den unter b. dargelegten verfassungsrechtlichen Anforderungen genügenden Ermächtigungsgrundlage. Bei den in den angegriffenen Vorschriften angeordneten Kontaktbeschränkung, Untersagung bestimmter Betriebe und Einrichtungen sowie Untersagung und Einschränkung gastronomischer Tätigkeiten, Versammlungen und Angebote handelt es sich um wesentliche Fragen i.S.d. Wesentlichkeitstheorie (dazu unter aa.). Eine in Anwendung der Wesentlichkeitsdoktrin entsprechende Ermächtigungsgrundlage in einem formellen Gesetz fehlt (dazu unter bb.). aa. Feststellung der Wesentlichkeit Die hier angegriffenen Ge- und Verbote sind als derart wesentlich für die Verwirklichung einer nicht unerheblichen Anzahl von Grundrechten einer nicht unerheblichen Anzahl an Grundrechtsträgerinnen auf dem Staatsgebiet von Rheinland-Pfalz einzustufen, dass dem
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    Parlamentsgesetzgeber selbst die Pflicht trifft, die für den fraglichen Lebensbereich erforderlichen Leitlinien zu bestimmen.
    Mit den hier angegriffenen Bestimmungen hat der Verordnungsgeber Regelungen geschaffen, die unmittelbar und final in den menschlichen Kontaktbereich nahezu aller sich auf dem Staatsgebiet des Landes Rheinland-Pfalz aufhältigen Grundrechtsträgerinnen eingreifen. Die Regelungen normieren – mit Ausnahme der Angehörigen des eigenen Haushalts oder einer weiteren Person außerhalb des eigenen Hausstandes – ein Kontaktminimierungsgebot und beschränkt damit einen wesentlichen Bereich der persönlichen Selbstentfaltung, nämlich im öffentlichen Raum und in Interaktion mit den eigenen Mitmenschen. Die Vorschriften statuieren damit das Gebot einer weitgehenden, drastischen Reduzierung der sozialen Kontakte insgesamt. Damit grenzt der Verordnungsgeber das Maß an physischer sozialer Interaktion im öffentlichen und im privaten Raum auf ein von ihm für erforderlich erachtetes Minimum ein. Dabei handelt es sich allerdings um einen erheblichen Eingriff in das grundrechtlich verschiedentlich – wie oben dargelegt – gewährleistete Selbstbestimmungsrecht der betroffenen Grundrechtsträgerinnen und damit auch des Klägers. In der unter der Geltung des Grundgesetzes normativ gewährleisteten freiheitlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland unterfällt die private Lebensgestaltung (auch im öffentlichen Raum) dem Recht und der Verantwortung der betreffenden Grundrechtsträgerinnen. Dies erfolgt auch in Anerkennung der anthropologischen Erkenntnis, dass der Mensch sich als soziales Wesen darstellt und mithin auf soziale Interaktion hin angelegt und hierauf angewiesen ist. Sofern mit den angegriffenen Vorschriften nunmehr derartige physische soziale Interaktion im öffentlichen wie im privaten Raum beschränkt ist, handelt es sich um eine Beschränkung eines wesentlichen Teilbereichs dieser menschlichen Daseinsdimension. Hinzu kommt, dass die Beschränkung physischer sozialer Interaktion im öffentlichen Raum die Seite 37 von 289 Möglichkeit kollektiver Meinungskundgabe in Form von (Spontan-) Versammlungen weitgehend ausschließt, wie auch generell das Versammlungsgrundrecht durch die Regelung in § 4 Abs. 1 4. CoBeLVO in erheblicher Weise nicht nur beschränkt, sondern weitgehend ausgeschlossen ist. Auch die in den §§ 1 und 2 4. CoBeLVO enthaltenen und hier angegriffenen Bestimmungen stellen sich als erheblicher Eingriff in die wirtschaftlichen Freiheiten, insbesondere der Berufsfreiheit der betroffenen Grundrechtsträgerinnen dar. Sofern sie als Inhaberinnen von Einrichtungen, Betrieben oder Begegnungsstätten, die aufgrund der angegriffenen Bestimmungen zu schließen haben, oder als Anbieterinnen von nunmehr verbotenen Dienstleistungen ihre geschäftlichen Aktivitäten vollständig einzustellen haben, wird hiermit regelhaft eine Situation der wirtschaftlichen Existenzgefährdung bzw. Existenzvernichtung herbeigeführt. Hiervon erfasst sind auch die Inhaberinnen von Gaststätten, deren geschäftliche Aktivität auf die Lieferung und Abholung von bestellten Speisen beschränkt ist, häufig hiervon aber nicht ihre wirtschaftliche Existenz zu sichern im Stand sein werden. Hieran ändern die auf Bundes- und Landesebene beschlossenen wirtschaftlichen Hilfspakete nichts, jedenfalls vermögen sie an dem Charakter eines erheblichen Grundrechtseingriffs nichts zu ändern, da retrospektive, nachlaufende Wirtschaftshilfen für staatlich verordnet einschränkende Maßnahmen denklogisch derartige eingreifende Maßnahmen voraussetzen und im Übrigen die Betroffenen in eine wirtschaftliche Abhängigkeit zum Staat bringen. Die Berufsfreiheit gewährleistet das Recht auf Selbstentfaltung im wirtschaftlichen Leben allerdings nicht lediglich unter der Voraussetzung von staatlichen Wirtschaftshilfen, sondern in finanzieller und eigenverantwortlicher Form, so dass Maßnahmen, die dieses Recht beschränken, grundsätzlich nicht durch das Vorhandensein von teilweise zurückzuzahlenden Wirtschaftshilfen gerechtfertigt werden können. Seite 38 von 289 Darüber hinaus stellt das Verbot bzw. Beschränkung geschäftlicher Aktivitäten sich als erhebliche Einschränkung der Kundinnen wie dem Kläger dar. Mithin werden der Allgemeinbevölkerung auch öffentliche Räume, die vor Inkrafttreten der angegriffenen Bestimmungen auch als soziale Interaktionsgelegenheiten (Cafés, Restaurants, Bars, Clubs usw.) genutzt wurden und nunmehr nicht mehr zur Verfügung stehen, entzogen. Dies führt zu einer weitestgehend sozialen Isolation, insbesondere jener Menschen, die XXXXXXXXXXX alleinlebend sind und ihre sozialen Kontakte in aller Regel über entsprechende Aktivitäten pflegen.
    Die die Wesentlichkeit der hier berührten Fragen begründende erhebliche Bedeutung für Staat und Gesellschaft lässt sich aber auch am finanziellen Umfang der Wirtschaftshilfe durch den Bund und die Länder festmachen. Allein der Umstand, dass mit Milliardenbeträgen die durch die Verordnung verursachten wirtschaftlichen Einbußen und Schäden ausgeglichen werden müssen, sprechen für die überragende Bedeutung dieser hier angegriffenen Maßnahmen. Schließlich spricht auch die im Zusammenhang mit den Wirtschaftshilfen von der Mehrheit der Mitglieder des Deutschen Bundestages ausgesprochene Ermächtigung zur Überschreitung der in Art. 115 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 GG bestimmten Kreditobergrenze für die überragende Bedeutung der hier vorliegenden Maßnahmen.
    Diese erheblichen Eingriffe in eine Vielzahl von Grundrechten betrifft eine unabsehbare Vielzahl von Grundrechtsträgerinnen. Hierbei ist nicht nur die Wohnbevölkerung des Landes Rheinland-Pfalz in den Blick zu nehmen, sondern auch sonstige Grundrechtsträgerinnen, die sich auf dem Staatsgebiet des Landes aufhalten. Die angegriffenen Bestimmungen sind in ihrem personellen Anwendungsbereich lediglich durch die räumliche Geltungsbeschränkung auf das Hoheitsgebiet des Landes Rheinland-Pfalz beschränkt. Im Übrigen erfassen sie jedermann und haben damit den denkbar weitesten Anwendungsbereich für eine Rheinland-Pfälzische Rechtsvorschrift.
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    Ein derartiger in sachlicher und personeller Hinsicht erheblicher Eingriff ist so grundlegend und mithin wesentlich, dass allein dem unmittelbar demokratisch legitimierten Parlamentsgesetzgeber hierfür eine Regelungskompetenz zukommen kann.
    Deshalb handelt es sich bei den in den angegriffenen Vorschriften angeordneten Untersagung bestimmter Betriebe und Einrichtungen, der Untersagung und Einschränkung gastronomischer Tätigkeiten sowie der Ausgangsbeschränkung um wesentliche Fragen i.S.d. Wesentlichkeitstheorie.
    bb.
    Keine Ermächtigung im IfSG
    Eine in Anwendung der Wesentlichkeitsdoktrin entsprechende Ermächtigungsgrundlage für die hier angegriffenen Maßnahmen in einem formellen Gesetz fehlt.
    Eine derartige Ermächtigung findet sich insbesondere nicht im IfSG.
    Für die angegriffenen Maßnahmen könnte zwar grundsätzlich die Ermächtigungsgrundlage der §§ 32 Satz 1, 28 Abs. 1 IfSG angedacht werden. Allerdings genügen diese Vorschriften zumindest für die hier in Rede stehenden Vorschriften nicht den inhaltlichen Anforderungen der Wesentlichkeitstheorie an formell-gesetzliche Vorschriften.
    Wie bereits ausgeführt geht das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung davon aus, dass die Qualifikation einer Regelung als “wesentlich” typischerweise ein Verbot der Normdelegation und ein Gebot größerer Regelungsdichte durch den parlamentarischen Gesetzgeber zur Folge hat; die wesentlichen Entscheidungen müssen in einem formellen Gesetz enthalten sein. Damit im Zusammenhang steht
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    das Erfordernis der Bestimmtheit der entsprechenden Vorschriften im Parlamentsgesetz.
    Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen die hier infrage kommenden Vorschriften der §§ 32 Satz 1, 28 Abs. 1 IfSG zumindest für die hier in Rede stehenden angegriffenen Vorschriften nicht. Da das IfSG in dem hier relevanten Bereich in Bezug auf die Ermächtigung der jeweiligen Landesregierung zum Erlass einer Rechtsverordnung (§ 32 Satz 1 IfSG) mit der gesetzgeberischen Technik des Verweises auf die entsprechende Ermächtigungsgrundlage für behördlich angeordnete Maßnahmen arbeitet, steht und fällt die verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer Verweisung an den Landesverordnungsgeber mit der Erfüllung der verfassungsrechtlichen Voraussetzungen durch die behördlichen Ermächtigungsgrundlagen. Stellt sich bereits § 28 Abs. 1 IfSG – als der hier maßgeblich in Betracht kommenden behördlichen Ermächtigungsgrundlage, auf die § 32 Satz 1 IfSG verweist – als untauglich für die hier angeordneten Maßnahmen dar, besteht auch für den Landesverordnungsgeber keine den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügende Ermächtigungsgrundlage.
    Nach § 28 Abs. 1 trifft die zuständige Behörde die notwendigen Schutzmaßnahmen, insbesondere die in den §§ 29 bis 31 genannten, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist, wenn Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt oder ergibt sich, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war (§ 28 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 IfSG); sie kann insbesondere Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte oder öffentliche Orte nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten (§ 28 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 IfSG). Unter den Voraussetzungen von Satz 1 kann die zuständige Behörde Veranstaltungen oder sonstige Ansammlungen von Menschen beschränken oder verbieten und Badeanstalten oder in § 33 IfSG
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    genannte Gemeinschaftseinrichtungen oder Teile davon schließen (§ 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG).
    Im Hinblick auf die hier vorzunehmende Prüfung ist anhand der angegriffenen Regelungskomplexe zu differenzieren.
    (1)
    Veranstaltungs- und Versammlungsverbot
    Zunächst zum durch § 4 Abs. 1 4. CoBeLVO landesweit angeordneten Versammlungsverbot. Diese findet keine Ermächtigungsgrundlage in § 28 Abs. 1 IfSG. Dies gilt auch für § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG. Dort wird zwar geregelt, dass die zuständige Behörde auch sonstige Ansammlungen von Menschen beschränken oder verbieten können, der Gesetzeswortlaut erfasst dabei allerdings nur Ansammlungen und nicht gerade auch Versammlungen. Die mit unterschiedlichen rechtlichen Inhalten verknüpften Begriffe der Ansammlung und der Versammlungen können in diesem Zusammenhang nicht gleichgesetzt werden.
    Der Begriff der Ansammlung ist in der Rechtsprechung bisher vor allem in Abgrenzung zum Versammlungsbegriff verwendet und benutzt worden. Fordert der Versammlungsbegriff in ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nämlich ein kommunikatives auf die Meinungskundgabe bezogenes sowie gemeinsames und damit verbindendes Element einer Menschenzusammenkunft, fehlt dieses bei der schlichten Ansammlung. Wenn der Bundesgesetzgeber daher in § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG lediglich ein Verbot und eine Beschränkung von Ansammlungen vorsieht, ist damit eine bewusste gesetzgeberische Entscheidung getroffen worden, die nicht durch eine Auslegung dahingehend konterkariert werden darf (Verbot der Auslegung und Rechtsfortbildung contra legem), dass nunmehr auch Versammlungen erfasst sein sollen.
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    Der Unterschied zwischen einer Ansammlung und einer Versammlung kann auch nicht dadurch infrage gestellt werden, dass man annimmt jede Versammlung sei zumindest auch eine Ansammlung. Dies ist nicht der Fall. Bei einer Versammlung handelt es sich um eine qualitativ andere Art der Zusammenkunft von Menschen, denn hier sind die Personen in besonderer Weise durch ein gemeinsames auf die Meinungskundgabe bezogenes Element miteinander verbunden, dieses fehlt bei einer Ansammlung. Dies ergibt sich auch aus der besonderen grundgesetzlichen Bedeutung der Versammlungsfreiheit in Art. 8 GG, die der Versammlung, nicht aber der Ansammlung, für die Verwirklichung des demokratischen Staatsstrukturprinzips zukommt. Schon vor diesem Hintergrund verbietet sich eine Gleichsetzung der Ansammlung mit der Versammlung oder die Ableitung des einen Sachverhalts von dem anderen. Es handelt sich um kategorial unterschiedlich rechtlich einzuordnende Sachverhalte.
    Auch aus § 28 Abs. 1 Satz 4 IfSG kann nichts anders abgeleitet werden. Zwar hat der Gesetzgeber in dieser Bestimmung zur Wahrung des Zitiergebots auch die Versammlungsfreiheit genannt, hieraus kann aber nicht ohne Weiteres auf ein entsprechendes Bedeutungsgehalt der materiell-rechtlichen Vorschrift geschlossen werden. Denn selbst wenn der Bundesgesetzgeber auch die Befugnis zu Eingriffen in die Versammlungsfreiheit schaffen wollte, ist maßgeblich für die Rechtsanwendung und für die hier relevante Frage des Vorliegens einer hinreichend bestimmten Ermächtigungsgrundlage allein der Gesetzeswortlaut der materiell-rechtlichen Vorschrift. In dieser findet sich lediglich der Begriff der Ansammlung, nicht jedoch der der Versammlung. Sofern ein gesetzgeberischer Wille in Bezug auf die Versammlungsfreiheit angenommen werden kann, hat dieser jedenfalls keinen hinreichend bestimmten Ausdruck im maßgeblichen Gesetzeswortlaut gefunden.
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    Die Vorschrift kann auch nicht auf § 28 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 IfSG in dem Sinne gestützt werden, dass das Betreten des öffentlichen Raumes nur unter der Bedingung gestattet wird, dass keine Veranstaltungen und keine Versammlungen durchgeführt bzw. abgehalten werden. Dies ist bereits deshalb nicht zulässig, da die Vorschrift des § 3 und 4 4. CoBeLVO keine Differenzierung danach enthält, ob Veranstaltungen und Versammlungen im öffentlichen oder privaten Raum abgehalten werden. Die Vorschrift untersagt vielmehr jegliche Veranstaltung, eine Abgrenzung in Bezug auf einen bestimmten Ort, wie er in § 28 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 IfSG gefordert ist, fehlt demnach vollständig. Diese Bestimmung regelt nämlich erkennbar Maßnahmen im Zusammenhang mit bestimmten Orten, nämlich in Form eines Verlassensverbotes bzw. eines konditionalen Verlassensverbotes sowie eines Betretungsverbotes bzw. eines konditionalen Betretungsverbotes. Der Tatbestand des Ortes kann dabei nicht dahingehend ausgelegt werden, dass damit der gesamte öffentliche Raum oder gar der gesamte öffentliche und private Raum umfasst sein soll. Ein Ort i.S.d. § 28 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 IfSG ist ein räumlich abgegrenzter Bereich. Andernfalls würde das Tatbestandsmerkmal vollständig entgrenzt und seinem Wortsinn nach entleert, denn wollte man den gesamten öffentlichen oder den öffentlichen und privaten Raum erfasst wissen, wäre nicht ersichtlich, weshalb der Gesetzgeber nicht eine entsprechende Terminologie verwendet hat und stattdessen bewusst den Begriff des Ortes gewählt hat. Gegen eine uferlose und entgrenzende Auslegung des Tatbestandes des Ortes sprechen auch die Merkmale des Betretens und des Verlassens. Diesen Begriffen kann nur dann einen Sinn zugesprochen werden, wenn der Begriff des Ortes einen bestimmten begrenzten räumlichen Bereich meint.
    Schließlich kann das Veranstaltungs- und Versammlungsverbot auch nicht auf die Generalklausel des § 28 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 IfSG gestützt werden (hierzu sogleich zusammen für alle hier angegriffenen Bestimmungen unter (4)).
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    (2)
    Untersagung
    Die Untersagung und Beschränkung der in § 1 4. CoBeLVO können sich ebenfalls nicht auf eine hinreichend bestimmte Ermächtigungsgrundlage im IfSG stützen.
    Die Vorschrift des § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG ist hierfür untauglich, denn es fehlt bereits am Tatbestandsmerkmal der Veranstaltung bzw. der Ansammlung. Der Veranstaltungsbegriff ist nicht legaldefiniert. Eine Veranstaltung ist nach allgemeinem Verständnis ein zeitlich begrenztes und geplantes Ereignis mit einer definierten Zielsetzung oder Absicht, einer Programmfolge mit thematischer, inhaltlicher Bindung oder Zweckbestimmung in der abgegrenzten Verantwortung eines Veranstalters, einer Person, Organisation oder Institution, an dem eine Gruppe von Menschen teilnimmt.
    Vgl. Oberlandesgericht Düsseldorf, Urteil vom 1. Juli 2014 – I-20 U 131/13 –, juris, Rn. 14.
    Die hier angegriffenen Bestimmungen des § 1 4. CoBeLVO sind als Untersagungsanordnungen bzw. Tätigkeitsbeschränkungen ausgestaltet. Diese in der Vorschrift angesprochenen Betriebe und Einrichtungen unterfallen nicht dem Veranstaltungsbegriff. Sie sind auch nicht unter dem Begriff der Ansammlung i.S.d. § 28 Abs. 1 S. 2 IfSG zu subsumieren. Zwar ist anzunehmen, dass es bei der Wahrnehmung der erfassten Angebote zu Ansammlungen kommen kann, allerdings geht der Regelungsansatz des Verordnungsgebers hier weiter, indem er eine vollständige Untersagung der Betriebe und Einrichtungen angeordnet hat. Damit hat er bewusst von einem ansammlungsbezogenen Ansatz abgesehen und kann sich dementsprechend nicht auf die hierfür möglicherweise in Betracht kommende Ermächtigungsgrundlage berufen, jedenfalls dann nicht,
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    wenn der gewählte Regelungsansatz weit über die Voraussetzungen der in Frage kommenden Vorschrift hinausgreift.
    Die Maßnahmen können auch nicht unter die Tatbestandsvariante der Betretungsverbote in § 28 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 IfSG eingeordnet werden. Die hier angegriffenen Regelungen beschränken sich nämlich erkennbar nicht auf derartige Betretungsverbote, sondern untersagen den Betrieb der angesprochenen Betriebe und Einrichtungen insgesamt. Auch hier ist demnach feststellbar, dass der Verordnungsgeber bewusst keinen ortsbezogenen Regelungsansatz gewählt hat, sondern er seine Bestimmungen zielgerichtet auf bestimmte Betriebe und Einrichtungen zugeschnitten hat.
    Schließlich ergibt sich die fehlende Eignung des § 28 Abs. 1 IfSG als Ermächtigungsgrundlage für die Untersagungsanordnungen daraus, dass die Vorschrift des § 28 Abs. 1 IfSG die Schließung von Einrichtungen lediglich in § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG benennt und sich diese dort ausschließlich auf Badeanstalten und die in § 33 IfSG genannten Gemeinschaftseinrichtungen bezieht. Auch aus dieser Vorschrift in § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG kann entnommen werden, dass Schließungs- und damit auch Untersagungsanordnung allenfalls bei Badeanstalten und den in § 33 IfSG genannten Einrichtungen, nicht jedoch in Bezug auf jede Art von Betrieb und Einrichtung, rechtlich möglich ist.
    Schließlich können die Untersagungs- und Beschränkungsanordnung nicht auf die Generalklausel des § 28 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 IfSG gestützt werden (hierzu sogleich zusammen für alle hier angegriffenen Bestimmungen unter (4)).
    (3)
    Kontaktbeschränkungen
    Auch die Kontaktbeschränkung in § 4 Abs. 1 4. CoBeLVO kann sich nicht auf § 28 Abs. 1 IfSG stützen. Allenfalls in Frage kommt die
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    Vorschrift des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG, die für derart weitgehende Einschränkungen, wie sie mit den hier verordneten Kontaktbeschränkungen verbunden sind, nicht herangezogen werden können.
    Zunächst ist festzustellen, dass § 28 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 IfSG keine hinreichende Ermächtigungsgrundlage bietet. Dies ergibt sich daraus, dass erkennbar kein bestimmter Ortsbezug in den Regelungen vorliegt, sondern ein personeller Regelungsansatz, d.h. ein Ansatz der sich am Regelungsobjekt der Person bzw. des Menschen orientiert, gewählt wurde. Zur Untauglichkeit der Ermächtigungsgrundlage des § 28 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 IfSG sogleich (unter (4)).
    Auch die Vorschrift des § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG stellt keine hinreichend bestimmte Ermächtigungsgrundlage dar, denn auch in diesem Zusammenhang geht das vom Verordnungsgeber gewählte Regelungskonzept von anderen Voraussetzungen aus. Nicht die Ansammlung als solche wird beschränkt oder verboten, sondern der soziale Kontakt bzw. die soziale Interaktion insgesamt. Dies kann daraus entnommen werden, dass bereits Vorgaben für die schlichte Begegnung von Personen im öffentlichen Raum normiert werden (vgl. § 4 Abs. 1 Satz 2 4. CoBeLVO). Das Regelungskonzept geht damit weit über den Tatbestand einer Ansammlung hinaus und bewegt sich damit außerhalb der möglicherweise in Frage kommenden Ermächtigungsgrundlage.
    Die Vorschrift des § 28 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 IfSG kommt auch nicht in Betracht, wenn man die hier angegriffene Vorschrift als (konditionales) Verlassensverbot in Bezug auf den Ort der eigenen Wohnung, des eigenen privaten Raums verstehen würde. Einer derartigen Auslegung steht der konkrete Gesetzeswortlaut entgegen. Dies ergibt sich daraus, dass ein (konditionales) Verlassensverbot sich auf einen Ort beziehen muss, an dem sich Personen befinden. Mit dieser Klarstellung ist verbunden, dass Maßnahmen auf Grundlage des § 28
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    Abs. 1 Satz 1 IfSG sich auf konkrete einzelfallbezogene Konstellationen beziehen, aber nicht geeignet ist abstrakt-generelle Regelungen in Bezug auf die Gesamtheit der bayrischen Wohnbevölkerung zu stützen. Denn auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens der Rechtsverordnung bezogenen ist davon auszugehen, dass sich die Normadressatinnen an unterschiedlichen Orten und nicht überwiegend in der jeweils eigenen Wohnung aufgehalten haben. Diese Überlegungen machen deutlich, dass die Regelung seinen Sinn hat bei konkreten einzelfallbezogenen Situationen, in denen es zweckmäßig sein kann, eine Person vorläufig das Verlassen eines bestimmten Ortes, an dem sie sich aufhält zu verbieten. Keinen Sinn ergibt die Regelung hingegen bei abstrakt-generellen Vorgaben. Der Hintergrund dieser Unstimmigkeit ist die neuste Novellierung des IfSG durch den Bundesgesetzgeber. Dieser hat nämlich die hier angesprochene Regelung, die vormals als Halbsatz 2 in § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG verortet war, nunmehr als Halbsatz 2 in § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG verschoben und dabei den Teilsatz „bis die notwendigen Schutzmaßnahmen durchgeführt worden sind“ gestrichen. Die Novellierung ist in Bezug auf § 28 IfSG ganz offensichtlich verunglückt, denn die konkrete Formulierung, dass sich das Verlassensverbot auf einen Ort bezieht, an dem sich die Personen befinden, nimmt sprachlich offensichtlich auf den gestrichenen Teilsatz Bezug. Hier ergibt er auch Sinn, weil die Vorschrift eben für konkrete einzelfallbezogene Situationen gedacht war, an dem die Personen vorübergehend, und zwar bis die notwendigen anderweitigen Schutzmaßnahmen eingreifen können, an einem bestimmten Ort festgehalten werden sollten, um ein weiteres Infektionsgeschehen außerhalb dieses Ortes zu verhindern. Dass mit der neusten Novellierung des § 28 Abs. 1 IfSG durch den Bundesgesetzgeber keine inhaltliche Änderung verbunden sein sollte, hier also insbesondere auf Grundlage des § 28 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 IfSG a.F. bzw. § 28 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 IfSG n.F. keine dauerhaften abstrakt-generellen Maßnahmen ermöglicht werden sollten, ergibt sich Seite 48 von 289 auch aus der Gesetzesbegründung der neusten Novellierung. Denn dort heißt es lapidar, dass die Veränderungen in § 28 Abs. 1 IfSG lediglich der Klarstellung dienen, mithin demnach keine inhaltliche Änderung bezweckt war. Vgl. BT-Drs. 19/18111, S. 25. Auf Grundlage dieser verunglückten Gesetzgebung durch den Bund können keine klaren Schlüsse auf einen gesetzgeberischen Willen gezogen werden oder eine hinreichende Bestimmtheit der Norm gestützt werden. Im Gegenteil, der konkrete Gesetzeswortlaut bringt noch immer – trotz Streichung des Teilsatzes „bis die notwendigen Schutzmaßnahmen durchgeführt worden sind“ – hinreichend deutlich zum Ausdruck, dass (konditionale) Verlassensverbote allein und ausschließlich für konkrete einzelfallbezogene Anordnungen bei Personen, deren Aufenthaltsort hinreichend bestimmt behördlich bereits festgestellt ist und auf den sich ein Verlassensverbot beziehen kann, eine Ermächtigungsgrundlage sein können. Eine andere Auslegung dieser Norm würden den Wortlaut der Vorschrift missachten. Die Vorschrift des § 28 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 IfSG kann auch nicht dahingehend als Ermächtigungsgrundlage herangezogen werden, dass der gesamte Raum außerhalb der jeweils eigenen Wohnung als bestimmter Ort i.S.d. Vorschrift anzusehen ist und dieser Ort nur unter bestimmten Bedingungen, nämlich bei Vorliegen eines triftigen Grundes, betreten werden dürfen. Wie bereits oben ausgeführt, ist die Auslegung des gesamten öffentlichen Raums außerhalb der eigenen Wohnung derart entgrenzend, dass damit der natürliche Wortsinn gesprengt wird. Darüber hinaus erfasst die Regelung erkennbar nicht nur den öffentlichen Raum, sondern umfasst auch den sonstigen privaten Raum außerhalb der eigenen Wohnung. Worin vor dem Hintergrund dieses Seite 49 von 289 vom Verordnungsgeber gewählten Regelungskonzepts der bestimmte Ort i.S.d. § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG zu sehen ist, bleibt unklar. Auch die Vorschrift des § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG stellt keine hinreichend bestimmte Ermächtigungsgrundlage dar, denn auch in diesem Zusammenhang geht das vom Verordnungsgeber gewählte Regelungskonzept von anderen Voraussetzungen aus. Nicht die Ansammlung als solche wird beschränkt oder verboten, sondern das Verlassen der eigenen Wohnung. (4) Infektionsschutzrechtliche Generalklausel Insgesamt können sich die hier angegriffenen Bestimmungen auch nicht auf die infektionsschutzrechtliche Generalklausel des § 28 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 IfSG stützen. Diese ermächtigt die Behörden – oder wie hier in Anspruch genommen: der Landesverordnungsgeber – allgemein und ohne weitere sachliche Eingrenzung dazu, die notwendigen Schutzmaßnahmen zu treffen. Obwohl dem Merkmal der Notwendigkeit eine eingrenzende Funktion zukommen kann, ist diese nicht hinreichend bestimmt durch den hierzu berufenen Parlamentsgesetzgeber normiert worden. Dies gilt jedenfalls für die hier in Rede stehenden Vorschriften, denn bei derart einschneidenden Maßnahmen, die eine Vielzahl von Grundrechten einer unabsehbaren Vielzahl von Grundrechtsträgerinnen betrifft, obliegt es dem Parlamentsgesetzgeber selbst die entsprechenden Voraussetzungen und die hiernach vorgesehenen Maßnahmen in sachlicher und zeitlicher Reichweite und Begrenzung zu bestimmen. Jedenfalls gilt dies für besonders grundrechtsintensive und -erhebliche Eingriffe, die wie hier eine unabsehbare Vielzahl von Grundrechtsträgerinnen treffen. Der Parlamentsgesetzgeber darf hier zwar nicht bereits selbst die entsprechenden Anordnungen im Wege eines Einzelfallgesetzes treffen. Dies würde der Vorschrift des Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG widersprechen. Allerdings muss der Parlamentsgesetzgeber bereits selbst die Seite 50 von 289 wesentlichen Grundfragen durch abstrakt-generelle Bestimmungen hinreichend bestimmt geregelt haben. Zu den Grundfragen gehören dabei nicht nur die Voraussetzungen für die Anordnung von entsprechenden Maßnahmen, sondern auch die zulässigen möglicherweise zu ergreifenden Maßnahmen selbst, und zwar im Hinblick auf die Art und die zeitliche und personelle Reichweite derartiger Maßnahmen. Dies ist gerade und auch deshalb geboten, um die demokratischen Funktionen des parlamentarischen Systems ausreichend zur Geltung zu bringen. Nur so kann gewährleistet werden, dass Entscheidungen von besonderer Tragweite aus einem Verfahren hervorgehen, das der Öffentlichkeit Gelegenheit bietet, ihre Auffassungen auszubilden und zu vertreten, und dass die Volksvertretung dazu anhält, Notwendigkeit und Ausmaß von Grundrechtseingriffen in öffentlicher Debatte zu klären. Weiterhin gewährleistet das parlamentarische Verfahren, dass die betroffenen Bürgerinnen und Bürger sich auf mögliche belastende Maßnahmen einstellen können und fördert damit auch die Akzeptanz. Dem kann auch nicht mit dem Argument begegnet werden, dass nicht sämtliche Maßnahmen, die zur Eindämmung und zur Bekämpfung von Erkrankungen epidemischen oder pandemischen Ausmaßes erforderlich sein können, durch den Parlamentsgesetzgeber bereits antizipierend in einem abstrakt-generellen Gesetz normiert werden können. Die zur Bekämpfung einer Epidemie oder Pandemie für erforderlich erachteten Maßnahmen sind bereits seit den vorangegangenen Pandemiefällen Anfang der 2000er Jahre bekannt. Diese wurde in den Pandemieplänen des Bundes und der Länder genannt und bezeichnet. So erwähnt zum Beispiel der Pandemieplan des Landes Hessen aus dem Jahr 2007 bereits das Konzept des „Social Distancing“, als des Ansatzes durch Einschränkung sozialer Kontakte die Wahrscheinlichkeit einer Infektion zu reduzieren. Erörtert und empfohlen wird in diesem Zusammenhang auch die Schließung von Kindergemeinschaftseinrichtungen und von Versammlungsverboten. Seite 51 von 289 Vgl. Hessisches Sozialministerium, Pandemieplan des Landes Hessen (Stand: Februar 2007), Nr. 5.1.3.3 – 5.1.3.5, abrufbar unter: https://soziales.hessen.de/sites/default/files/HSM/pandemieplan_des_landes_hessen.pdf (zuletzt abgerufen am 29. März 2020). Auch der Nationale Pandemieplan aus dem Jahr 2017 enthält bereits Empfehlungen für kontaktreduzierende Maßnahmen und Verhaltensmaßnahmen, wie z.B. Schließung von Gemeinschaftsunterkünften, Veranstaltungsverbote. Vgl. Robert Koch-Institut, Nationaler Pandemieplan Teil I – Strukturen und Massnahmen (Stand: 2. März 2017), Tabelle 1.1 (Seite 8 f.) und Ziffer 4.3 (Seite 24 f.). So heißt es im Plan z.B.: Der Übergang zwischen den epidemiologischen Stadien ist fließend und beinhaltet eine schrittweise Anpassung dieser infektionshygienischen Maßnahmen. Die zunächst fallbezogenen Maßnahmen als Reaktion auf aufgetretene einzelne Fälle werden zur Verzögerung einer generellen Ausbreitung in der Bevölkerung mit zunehmender Zahl der Fälle auf einzelne Personengruppen erweitert bzw. auf allgemeine kontaktreduzierende Maßnahmen reduziert. Vgl. Robert Koch-Institut, Nationaler Pandemieplan Teil I – Strukturen und Massnahmen (Stand: 2. März 2017), Ziffer 4.3 (Seite 24). Es kann mithin festgestellt werden, dass bereits im Jahr 2017 die aus Sicht der medizinischen und wissenschaftlichen Fachleute erforderlichen Maßnahmen bei Auftreten einer epidemischen und pandemischen Lage bekannt waren. Der Gesetzgeber war aufgerufen, diesen Handlungsempfehlungen entsprechende gesetzliche Grundlagen Seite 52 von 289 für die Umsetzung und Durchsetzung derartiger Maßnahmen zu schaffen. Ihm hätte klar sein müssen, dass Maßnahmen die koordiniert durch den Bund in den einzelnen Bundesländern mit bundesweiter Wirkung und umfassender personeller Geltungsreichweite einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage im IfSG bedarf. Die bestehenden Regelungen im IfSG zur Bekämpfung von übertragbaren Krankheiten sind bruchstückhaft und erkennbar auf Ausbrüche in einem begrenzten räumlichen Bereich ausgerichtet. Dass Maßnahmen mit der beschriebenen bundesweiten Wirkung, wie sie die medizinischen und wissenschaftlichen Fachleute bereits in der Vergangenheit für erforderlich erachtet haben, und mit derart erheblichen und umfassenden Grundrechtseingriffen verbunden sind, nicht auf diese bestehende Ermächtigungsgrundlage zu stützen sind, hätte dem Bundesgesetzgeber bewusst sein und zum Handeln veranlassen müssen. Im Übrigen zeigen die aktuellen gesetzgeberischen Maßnahmen im Zusammenhang mit der Corona-Krise und dem IfSG, dass ein kurzfristiges und rasches Handeln (innerhalb einer Woche) möglich ist. Der Bundesgesetzgeber hat mit dem Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite verschiedene Vorschriften im IfSG geändert. Unter anderem wurde die Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite durch den Deutschen Bundestag eingeführt (§ 5 IfSG), der in der Folge zu besonderen Maßnahmen des Bundesministeriums für Gesundheit ermächtigt. Diese Ermächtigungsgrundlagen und die hierbei vorgesehenen Maßnahmen werden in § 5 Abs. 2 IfSG detailliert und umfassend geregelt. Diesen Regelungen kann aufgrund ihrer Detailliertheit und ihres Umfangs entnommen werden, dass dem Bundesgesetzgeber die verfassungsrechtlich erforderliche und gebotene Regelungsdichte bewusst war, die für solche Ermächtigungsgrundlagen notwendig sind. Aus nicht weiter ersichtlichen Gründen hat der Bundesgesetzgeber es aber unterlassen, entsprechend detaillierte und umfassende Ermächtigungsgrundlagen im Bereich der hier Seite 53 von 289 angegriffenen Maßnahmen zu erlassen. Ein Erklärungsansatz könnte allenfalls sein, dass der Eindruck vermieden werden sollte, dass die bis zur Gesetzesänderung vorgenommenen Maßnahmen rechtswidrig gewesen sein könnten. Dem Bund steht in diesem Zusammenhang jedenfalls die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz nach Art. 72 Abs. 1, Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG zu, und zwar ohne die Pflicht zur Beachtung des Erforderlichkeitsvorbehalts nach Art. 72 Abs. 2 GG. Die Möglichkeit hat der Bundesgesetzgeber nicht genutzt, auch nicht durch die Veränderung des § 28 Abs. 1 IfSG. Dies zeigt auch bereits die Gesetzesbegründung. Denn dort wurde in Kenntnis der aktuell in den Bundesländern ergriffenen Maßnahmen – unter anderem auch der im Rheinland-Pfalz ergriffenen und verordneten Maßnahmen – die Veränderungen in der Vorschrift des § 28 Abs. 1 IfSG lediglich als Anpassung aus Gründen der Normenklarheit beschrieben. Vgl. BT-Drs. 19/18111, S. 25. Der Bundesgesetzgeber hat demnach bewusst davon abgesehen, sich einer hinreichend bestimmten parlamentarischen Grundlage für die im Land erfolgenden Eingriffe zu versichern. Er ist dabei seiner Verantwortung für die Ausübung seiner parlamentarischen und demokratischen Rechte, insbesondere seines Gesetzgebungsrechtes nicht nachgekommen. Vielmehr ist weiterhin zu beobachten, wie der Landesverordnungsgeber – mithin die Exekutive –nunmehr unter Verweis auf Generalklauseln (vgl. „notwendige Schutzmaßnahmen“) abstrakt-generelle Normen verfügen, die sich als die massivsten kollektiven Grundrechtseingriffe in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland darstellen. Vgl. Möllers, https:// verfassungsblog.de/ parlamentarische -selbstentmaechtigung- im-zeichen-des-virus/ Seite 54 von 289 Weiterhin ist hier auf die in den §§ 29 bis 31 IfSG normierten – in Bezug auf die angegriffenen Bestimmungen nicht einschlägigen – Maßnahmen zu verweisen. Diese Maßnahmen, die vom Gesetzgeber, offenkundig als besonders eingriffsintensiv eingestuft worden sind, haben folgerichtig eigenständige Eingriffsgrundlagen erhalten. Dies entspricht der rechtsstaatlich und verfassungsrechtlich geforderten Systematik zwischen gefahrenabwehrrechtlichen Generalklauseln und sog. Standardmaßnahmen. Mit Generalklauseln, die in ihrem Tatbestand und in ihren Rechtsfolgen relativ offen und damit flexibel ausgestaltet sein müssen, um auf neu auftretende Bedrohungslagen Anwendung finden zu können, regelt der Gesetzgeber Eingriffsbefugnisse, die auf Sachverhalte Anwendung finden solle, die sich regelmäßig nur vereinzelt zeigen und sich dabei durch eine geringe Grundrechtsrelevanz oder -intensität auszeichnen. Maßnahmen hingegen, die in einer Vielzahl von Fällen zur Anwendung gelangen oder eine besonders hohe Grundrechtsrelevanz und -intensität aufweisen, hat der Gesetzgeber in Form von speziellen und dabei hinreichend bestimmten Eingriffstatbeständen (sog. Standardmaßnahmen) zu regeln. Dabei wird hier nicht verkannt, dass gefahrenabwehrrechtliche Generalklauseln auch zur Bewältigung von überraschend und unvorhergesehen auftretenden Gefahrenlagen möglicherweise herangezogen werden können, allerdings wurde bereits herausgearbeitet und dargelegt, dass einer derartige überraschende und unvorhergesehene Gefahrenlage schon bereits deshalb nicht angenommen werden darf, als der Auftritt von pandemischen Gefahrenlagen bereits seit den 2000er Jahren bekannt und auch medial diskutiert wurden. Augenfälliges Anzeichen hierfür sind die von Bund und den Ländern ausgearbeiteten Pandemiepläne. Dort sind die entsprechend von den Fachleuten empfohlenen und in der aktuellen Lage zu Anwendung gebrachten Maßnahmen bereits hinreichend deutlich beschrieben und dargelegt. Darüber hinaus war es dem Bundesgesetzgeber möglich zumindest entsprechend bestimmten Eingriffsgrundlagen in der aktuellen Novellierung des IfSG zu Seite 55 von 289 normieren. Dies ist unterlassen worden. Damit fehlt es spätestens mit der Novellierung an einer hinreichend bestimmten Ermächtigungsgrundlage, womit ein Rückgriff auf die gefahrenabwehrrechtliche Generalklausel bereits deshalb unzulässig ist. Insgesamt bleibt festzustellen, dass der Bundesgesetzgeber sich nicht darauf zurückziehen darf, sich mit der Normierung einer gefahrenabwehrrechtlichen Generalklausel zu begnügen. Vergleichbar zu der verfassungsrechtlich gebotenen Regelungssystematik im allgemeinen Polizeirecht ist er aufgerufen, entsprechende hinreichend bestimmte Eingriffsgrundlagen für die hier angegriffenen „Standardmaßnahmen“ zu normieren und damit für die Öffentlichkeit und jeden betroffenen Grundrechtsträger greifbar zu machen und derartige Maßnahmen mit einer hinreichend deutlichen demokratischen Legitimation auszustatten. Abschließend soll hier auch nochmals auf die Rechtsprechung des BVerfG hingewiesen werden. Das Gericht hat im Jahr 2008 aus Anlass einer Überprüfung der automatischen KfZ-Kennzeichenerfassung ausgeführt: Das Bestimmtheitsgebot soll sicherstellen, dass der demokratisch legitimierte Parlamentsgesetzgeber die wesentlichen Entscheidungen über Grundrechtseingriffe und deren Reichweite selbst trifft, dass Regierung und Verwaltung im Gesetz steuernde und begrenzende Handlungsmaßstäbe vorfinden und dass die Gerichte eine wirksame Rechtskontrolle durchführen können. Ferner erlauben die Bestimmtheit und Klarheit der Norm, dass der betroffene Bürger sich auf mögliche belastende Maßnahmen einstellen kann (vgl. BVerfGE 110, 33 <52 ff.>; 113, 348 <375 ff.>). Der Gesetzgeber hat Anlass, Zweck und Grenzen des Eingriffs hinreichend bereichsspezifisch, präzise und normenklar festzulegen (vgl. BVerfGE 100, 313 <359 f., 372>; 110, 33 <53>; 113, 348 <375>; BVerfG, NJW 2007, S. 2464 <2466>). Seite 56 von 289 Das Bestimmtheitsgebot steht in enger Beziehung zum Parlamentsvorbehalt (vgl. BVerfGE 56, 1 <13>; 83, 130 <152>). Dieser soll sicherstellen, dass Entscheidungen von solcher Tragweite aus einem Verfahren hervorgehen, das der Öffentlichkeit Gelegenheit bietet, ihre Auffassungen auszubilden und zu vertreten, und die Volksvertretung dazu anhält, Notwendigkeit und Ausmaß von Grundrechtseingriffen in öffentlicher Debatte zu klären (vgl. BVerfGE 85, 386 <403 f.>; 108, 282 <312>). Die konkreten Anforderungen an die Bestimmtheit und Klarheit der Ermächtigung richten sich nach der Art und Schwere des Eingriffs (vgl. BVerfGE 110, 33 <55>). Die Eingriffsgrundlage muss darum erkennen lassen, ob auch schwerwiegende Eingriffe zugelassen werden sollen. Wird die Möglichkeit derartiger Eingriffe nicht hinreichend deutlich ausgeschlossen, so muss die Ermächtigung die besonderen Bestimmtheitsanforderungen wahren, die bei solchen Eingriffen zu stellen sind (vgl. BVerfGE 113, 348 <377 f.>; 115, 320 <365 f.>). BVerfG, Urteil vom 11. März 2008 – 1 BvR 2074/05 –, juris, Rn. 94 f. = BVerfGE 120, 378-433. Entscheidend ist nach der Rechtsprechung des BVerfG damit auch, dass die Ermächtigungsgrundlage selbst erkennen lassen muss, ob auch schwerwiegende Eingriffe zugelassen werden sollen. Werden derartige schwerwiegende Eingriffe nicht ausgeschlossen, so muss die Ermächtigungsgrundlage selbst bereits den erhöhten Bestimmtheitsanforderungen für derartige schwerwiegende Eingriffe genügen. Diesen Anforderungen wird § 28 Abs. 1 IfSG im Hinblick auf die hier angegriffenen Bestimmungen und Maßnahmen nicht gerecht. Damit bleibt festzustellen, dass es an einer hinreichend bestimmten formell-gesetzlichen Grundlage für die hier angegriffenen Maßnahmen fehlt. Die Verordnungsbestimmungen verstoßen damit gegen den grundrechtlich und grundgesetzlich fundierten Vorbehalt des Gesetzes in seiner besonderen Ausprägung des Parlamentsvorbehalts. Seite 57 von 289 Die hier angegriffenen Vorschriften mit der Vielzahl der in erheblicher Weise betroffenen Grundrechte einer unabsehbaren Vielzahl von Grundrechtsträgerinnen wirft die grundsätzlich Frage danach auf, wann wenn nicht in der aktuellen Lage, wäre der direkt demokratisch legitimierte Gesetzgeber deutlicher aufgerufen, seinem Gesetzgebungsauftrag nachzukommen.
    (5)
    Rechtsprechung
    Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg sowie der Bayerische Verwaltungsgerichtshof erachten die Frage, ob § 28 Abs. 1, § 32 Satz 1 IfSG im Hinblick auf den Vorbehalt des Gesetzes in seiner Ausprägung als Parlamentsvorbehalts eine ausreichende Ermächtigungsgrundlage für die durch die Landesregierungen verordneten Maßnahmen darstellen, zumindest als offen und im Hauptsacheverfahren für klärungsbedürftig.
    Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, dessen hier relevanter Beschluss vom 9. April 2020 – 1 S 925/20 – bisher nicht veröffentlicht wurde, führt in seiner Pressemitteilung aus:
    „Offen sei, ob § 32 i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1, 2 IfSG im Hinblick auf den Vorbehalt des Gesetzes in seiner Ausprägung als Parlamentsvorbehalt eine ausreichende Ermächtigungsgrundlage für die landesweite Schließung bestimmter Arten von privat betriebenen Dienstleistungsbetrieben und Verkaufsstellen durch eine Rechtsverordnung sei. Rechtsstaatsprinzip und Demokratiegebot verpflichteten nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts den Gesetzgeber, die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen im Wesentlichen selbst zu treffen und diese nicht dem Handeln und der Entscheidungsmacht der Exekutive zu überlassen. Der Schutz der Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG erlaube
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    Eingriffe nur auf der Grundlage einer gesetzlichen Regelung, die Umfang und Grenzen des Eingriffs deutlich erkennen lasse. Insoweit müsse der Gesetzgeber selbst alle wesentlichen Entscheidungen treffen, soweit sie gesetzlicher Regelung zugänglich seien.
    Dafür, dass die Vorschriften der § 32 Satz 1 i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1, 2 IfSG die Voraussetzungen, den Umfang und die Grenzen dieses Eingriffs noch ausreichend erkennen ließen, könne die Auslegung dieser Vorschriften nach allgemeinen Regeln sprechen. Der Gesetzgeber habe sich mit § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG ganz bewusst für eine generelle Ermächtigung entschieden, um für alle Fälle gewappnet zu sein, da die Fülle der notwendigen Schutzmaßnahmen sich von vornherein nicht übersehen lasse. Gerade die Vielfältigkeit von Infektionsgeschehen durch ganz unterschiedliche Krankheitserreger könne dafür sprechen, dass eine genauere Bestimmung der insoweit zur Verhütung und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten geeigneten und notwendigen Maßnahmen durch den Gesetzgeber kaum oder gar nicht möglich sei. Zudem könnten nach § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG Veranstaltungen und sonstige Ansammlungen beschränkt oder verboten werden. Von dieser Befugnis seien auch Ansammlungen von Menschen in jeder Art von geschlossenen Räumen, also auch in Verkaufsstellen und Dienstleistungsbetrieben aller Art umfasst. Dies könnte dafür sprechen, dass deren Schließung von der Ermächtigung in § 28 Abs. 1 Satz 1, 2 IfSG, alle notwendigen Schutzmaßnahmen zu treffen und Ansammlungen zu verbieten, gedeckt sei. Denn bloße Kontaktbeschränkungen in solchen offen gehaltenen Einrichtungen wären kaum zu kontrollieren und deutlich weniger wirksam.
    Die Schließung einer Vielzahl von Verkaufsstellen und Dienstleistungsbetrieben durch eine Rechtsverordnung sei jedoch von einer sehr beträchtlichen Eingriffstiefe. Die Intensität des damit verbundenen Eingriffs in die Berufsfreiheit sei für jeden einzelnen betroffenen Betrieb ausgesprochen hoch. Denn der Eingriff führe für sie für mehrere Wochen zu einem weitgehenden oder vollständigen Wegfall jeglichen Umsatzes. Den Betroffenen sei es zudem praktisch unmöglich,
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    den Wirkungen dieses Eingriffs auszuweichen. Diese sehr gravierenden Auswirkungen könnten dafür sprechen, dass die Vorschriften der § 32 Satz 1 i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1, 2 IfSG wegen Verstoßes gegen den Parlamentsvorbehalt nicht verfassungsgemäß seien. Denn die in § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG enthaltene Befugnis zum Erlass der „notwendigen Schutzmaßnahmen“ sei nur begrenzt durch das Tatbestandsmerkmal der Notwendigkeit und durch den Halbsatz „soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist“. Die ausdrücklich geregelten Befugnisse bestünden nur in der Beschränkung oder dem Verbot von Veranstaltungen und Ansammlungen, der Schließung von Badeanstalten und Gemeinschaftseinrichtungen wie Kindergärten und der Verpflichtung, bestimmte Orte nicht zu verlassen oder nicht zu betreten.“
    Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Pressemitteilung vom 9. April 2020, abrufbar unter: https://verwaltungsgerichtshof-baden-wuerttemberg.justiz-bw.de/pb/,Lde/6217676/?LISTPAGE=1212860 (zuletzt abgerufen am 22. April 2020).
    Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat mit Beschluss vom 14. April 2020 – 20 NE 20.751 – ebenfalls entscheiden, dass er die Erfolgsaussichten in der Hauptsache im Hinblick auf die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit der Maßnahmen und der Ermächtigungsgrundlage als offen ansieht. Er hat insoweit ausgeführt:
    Weil jedoch die BayIfSMV in erheblichen Maß in zahlreiche Grundrechte der Bürger eingreift und die Überprüfung ihrer Verfassungsmäßigkeit (vgl. nur BVerfG, B.v. 10.4.2020 – 1 BvR 755/20 – juris) und die ihrer Ermächtigungsgrundlage (vgl. hierzu kritisch VGH Baden-Württemberg: B.v. 9.4.2020 – 1 S 925/20 – bisher unveröffentlicht) nur nach eingehender Prüfung in einem Hauptsacheverfahren erfolgen kann, sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen.
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    Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 14. April 2020 – 20 NE 20.751 –, nicht veröffentlicht, hier in teilanonymisierter Kopie beigefügt.
    Auch das Bundesverfassungsgericht erachtet die Erfolgsaussichten einer auch die hier aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Fragen thematisierenden Verfassungsbeschwerde als offen.
    Vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. April 2020 – 1 BvQ 31/20 –, juris, Rn. 8; Beschluss vom 9. April 2020 – 1 BvQ 29/20 –, juris, Rn. 5.
    3.
    Störer – Nichtstörer – Allgemeinheit
    Die durch die angegriffenen Bestimmungen in Anspruch genommene Allgemeinheit kann auf der Grundlage des § 28 Abs. 1 IfSG nicht – auch nicht unter Verweis auf den sog. Nichtstörer – zur Gefahrenabwehr herangezogen werden.
    Die angegriffenen Bestimmungen richten sich gegen jede Person, die sich auf dem Staatsgebiet Rheinland-Pfalzs aufhält, unabhängig davon ob es sich dabei um einen Kranken, Krankheitsverdächtigen, Ansteckungsverdächtigen oder Ausscheider i.S.d. § 28 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 2 IfSG handelt.
    Wird ein Kranker, Krankheitsverdächtiger, Ansteckungsverdächtiger oder Ausscheider festgestellt, begrenzt § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG den Handlungsrahmen der Behörde zwar nicht dahin, dass allein Schutzmaßnahmen gegenüber der festgestellten Person in Betracht kommen. Die Vorschrift ermöglicht Regelungen gegenüber einzelnen wie mehreren Personen. Vorrangige Adressaten sind allerdings die in § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG benannten Personengruppen. Bei ihnen steht fest oder besteht der Verdacht, dass sie Träger von Krankheitserregern sind, die bei Menschen eine Infektion oder eine übertragbare Krankheit im
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    Sinne von § 2 Nr. 1 bis Nr. 3 IfSG verursachen können. Wegen der von ihnen ausgehenden Gefahr, eine übertragbare Krankheit weiterzuverbreiten, sind sie nach den allgemeinen Grundsätzen des Gefahrenabwehr- und Polizeirechts als „Störer“ anzusehen.
    Vgl. Gegenäußerung der Bundesregierung zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes und weiterer Gesetze, BTDrucks 17/5708 S. 19; BVerwG, Urteil vom 22. März 2012 – 3 C 16.11 –, juris.
    Die übergroße Mehrheit der durch die angegriffenen Bestimmungen betroffenen und als Normadressatinnen in Anspruch genommenen Personen sind nicht als Störer, insbesondere nicht als Ansteckungsverdächtige anzusehen. Nach § 2 Nr. 7 IfSG ist Ansteckungsverdächtiger eine Person, von der anzunehmen ist, dass sie Krankheitserreger aufgenommen hat, ohne krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider zu sein. Dass bei der übergroßen Mehrheit der in Anspruch genommenen Personen anzunehmen ist, dass sie den Krankheitserreger SARS-CoV-2 aufgenommen hat, ist fernliegend und wird auch von Seiten des Verordnungsgebers nicht behauptet oder angenommen. Zwar können gemäß § 28 Abs. 1 IfSG nach höchstrichterliche Rechtsprechung grundsätzlich – auch wenn sie nicht explizit genannt sind – sog. Nichtstörer – wie der Kläger einer ist – in Anspruch genommen werden, allerdings ist eine derartige Inanspruchnahme aller sich auf dem Staatsgebiet des Landes Rheinland-Pfalz aufhältigen Personen – und damit der Allgemeinheit – hiermit nicht möglich. Ein derart undifferenzierter, entgrenzter Zugriff auf alle Personen, die sich im Rheinland-Pfalz aufhalten, ist nicht gerechtfertigt. Erst recht nicht für einen derart erheblichen Zeitraum von nunmehr bald sechs Wochen. Seite 62 von 289 Bereits aus der oben benannten Rechtsprechung zur Möglichkeit der Inanspruchnahme des Nichtstörers ergibt sich, dass zwar auch eine Inanspruchnahme von einzelnen oder auch mehreren Personen, die nicht explizit als Personengruppen in § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG genannt sind, vom Anwendungsbereich der Norm gedeckt ist, daraus lässt sich aber auch schließen, dass eine Begrenzung vorzunehmen ist, und zwar auf den oder die Nichtstörer. Nicht in Anspruch genommen werden kann hierbei die Allgemeinheit, d.h. die Gesamtheit der unter die Hoheitsgewalt des Landesverordnungsgebers fallenden Personenkreises; dies gestattet die Norm nicht. An der rechtlichen Bewertung ändert sich auch nichts, wenn man die Gesetzesbegründung berücksichtig. Dort heißt es u.a.: „Die Maßnahmen können vor allem nicht nur gegen die in Satz 1 (neu) Genannten, also gegen Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige usw. in Betracht kommen, sondern auch gegenüber „Nichtstörern”. So etwa das Verbot an jemanden, der (noch) nicht ansteckungsverdächtig ist, einen Kranken aufzusuchen.“ Aus den Gesetzesmaterialien lässt sich ferner entnehmen: „Vielmehr enthält der neue Absatz 1 Satz 1 als wichtigste Änderung ähnlich wie § 10 Abs. 1 für die Verhütung eine allgemeine Ermächtigung, die notwendigen Maßnahmen zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten zu erlassen. Die Grundsätze der Notwendigkeit, des geringstmöglichen Eingriffs und der Verhältnismäßigkeit des Mittels schränken das Ermessen der zuständigen Behörde in dem gebotenen Maße ein. Die den Behörden bisher zur Verfügung stehenden abschließend aufgezählten Schutzmaßnahmen einschließlich der im bisherigen Seite 63 von 289 § 43 vorgesehenen „Maßnahmen gegenüber der Allgemeinheit” erscheinen für eine sinnvolle und wirksame Bekämpfung übertragbarer Krankheiten zu eng. So war z. B. im Gesetz bisher nicht vorgesehen, daß einem Kranken, Krankheitsverdächtigen usw. neben den ihm obliegenden Handlungs- und Duldungspflichten, wenn er unter Beobachtung gestellt war (§ 36 Abs. 2), auch sonstige Verhaltungsmaßregeln auferlegt werden konnten, etwa das Gebot der persönlichen Desinfektion (Händedesinfektion), das nicht von § 39 bisheriger Fassung erfaßt wird oder das Verbot, bestimmte Örtlichkeiten (z. B. eine Gaststätte, Lebensmittelgeschäfte) aufzusuchen, um nicht zu dem harten Mittel der räumlichen Absonderung nach § 37 greifen zu müssen. Die Fülle der Schutzmaßnahmen, die bei Ausbruch einer übertragbaren Krankheit in Frage kommen können, läßt sich von vorneherein nicht übersehen. Man muß eine generelle Ermächtigung in das Gesetz aufnehmen, will man für alle Fälle gewappnet sein. Die Maßnahmen können vor allem nicht nur gegen die in Satz 1 (neu) Genannten, also gegen Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige usw. in Betracht kommen, sondern auch gegenüber „Nichtstörern”. So etwa das Verbot an jemanden, der (noch) nicht ansteckungsverdächtig ist, einen Kranken aufzusuchen.“ BTDrucks 8/2468 S. 27 f. Es mag zwar dem subjektiven Willen des Gesetzgebers entsprechen, dass er alle nur denkbaren Maßnahmen unter § 28 IfSG fassen wollte, indes ist der objektivierte Wille entscheidend. Also der Wille, der auch im Gesetz zum Ausdruck gekommen ist. Vor dem Hintergrund, dass sogar schon der Nichtstörer nicht explizit im Gesetz genannt ist und eine Inanspruchnahme nur entgegen dem Gesetzeswortlaut und der Gesetzessystematik unter Bezugnahme auf die Grundsätze des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts begründet Seite 64 von 289 werden kann, ist evident, dass die Grenze jedenfalls dann überschritten ist, wenn – wie hier – eine unterscheidungslose Inanspruchnahme aller Menschen und damit der Allgemeinheit im Land vorgenommen wird. Eine derartige Inanspruchnahme könnte allenfalls der Parlamentsgesetzgeber mittels einer hinreichend bestimmten expliziten Rechtsvorschrift erst de lege ferenda ermöglichen. Eine derartige Rechtsgrundlage besteht jedoch – wie bereits dargelegt – im IfSG nicht. Die Inanspruchnahme einer entgrenzten Personengesamtheit, mithin der Allgemeinheit, auf der Grundlage des § 28 Abs. 1 IfSG verletzt den bundesrechtlichen Grundsatz des Gesetzesvorbehalts in der besonderen Ausprägung des Parlamentsvorbehalts nach der Wesentlichkeitstheorie. Dies wurde bereits oben ausgeführt und insoweit wird hier auf die dortigen Ausführungen verwiesen. Die Inanspruchnahme aller der Hoheitsgewalt unterworfenen Personen und mithin der Allgemeinheit stellt einen derart gravierenden Eingriff in grundrechtliche Gewährleistungsgehalte einer unabsehbaren Vielzahl von Grundrechtsträgerinnen dar, dass lediglich der unmittelbar demokratisch legitimierte Parlamentsgesetzgeber hierzu berufen ist.
    4.
    Folgerichtigkeit und Systemgerechtigkeit
    Die hier angegriffenen Bestimmungen verstoßen im Übrigen gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG in der Ausprägungsform des Folgerichtigkeitsgebots.
    Das Gebot der Folgerichtigkeit bzw. Systemgerechtigkeit wurde vom Bundesverfassungsgericht erstmals in Anwendung des Art. 3 GG im beamtenrechtlichen Versorgungsrecht herausgearbeitet. Hier hat das Gericht darauf abgestellt, dass der verfassungsrechtliche Gleichheitssatz sich in einem bereits vom Gesetzgeber normierten von ihm selbst gesetzten System konkretisierter Rechtspositionen und bestimmter Wertungen und Vernünftigkeitsraster vor allem als Forderung nach
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    Folgerichtigkeit der Regelungen, gemessen an den Angelpunkten der gesetzlichen Wertungen verwirkliche.
    Vgl. BVerfG, Beschluss vom 9. Februar 1982 – 2 BvL 6/78 –, juris, Rn. 72 = BVerfGE 60, 16-52.
    Seine Fortsetzung fand diese Rechtsprechung sodann im Sachbereich des Steuerrechts. Hier hat der Gesetzgeber bei der Auswahl des Steuergegenstandes und bei der Bestimmung des Steuersatzes einen weitreichenden Gestaltungsraum. Nach Regelung dieses Ausgangstatbestandes aber hat er die einmal getroffene Belastungsentscheidung folgerichtig im Sinne der Belastungsgleichheit umzusetzen. An dieser von ihm selbst getroffenen Grundentscheidung muss sich der Gesetzgeber festhalten lassen und sie folgerichtig umsetzen. Das Gebot der folgerichtigen Umsetzung der einmal getroffenen Belastungsentscheidung betrifft auch den Gesetzesvollzug und die Rechtsprechung, wenn für vergleichbare Sachverhalte und künftige Entwicklungen offene steuerliche Tatbestandsmerkmale durch Auslegung zu konkretisieren sind.
    Vgl. BVerfG, Beschluss vom 29. Oktober 1999 – 2 BvR 1264/90 –, juris, Rn. 20 = BStBl II 2000, 155, BVerfGE 101, 132-141; Beschluss vom 10. November 1999 – 2 BvR 1820/92 –, juris, Rn. 10 = BStBl II 2000, 158; Beschluss vom 13. Februar 2008 – 2 BvL 1/06 –, juris, Rn. 117 = BVerfGE 120, 125-168.
    Den Grundsatz der Folgerichtigkeit und der Systemgerechtigkeit hat das Bundesverfassungsgericht in der Folge auch im Gesundheitsgefahrenabwehrrecht übernommen und im Zusammenhang mit den landesrechtlichen Nichtrauchergesetzen – dort allerdings im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung – ausgeführt, dass Gefahreneinschätzungen nicht schlüssig seien, wenn identischen Gefährdungen in demselben Gesetz unterschiedliches Gewicht beigemessen werde. Deshalb bleibt der Gesetzgeber an seine
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    Entscheidung gebunden. Hat sich der Gesetzgeber aufgrund des ihm zukommenden Spielraums zu einer bestimmten Einschätzung des Gefahrenpotenzials entschlossen, auf dieser Grundlage die betroffenen Interessen bewertet und ein Regelungskonzept gewählt, so muss er diese Entscheidung auch folgerichtig weiterverfolgen.
    Vgl. BVerfG, Beschluss vom 29. September 2010 – 1 BvR 1789/10 –, juris, Rn. 25; Urteil vom 30. Juli 2008 – 1 BvR 3262/07 –, juris, Rn. 134 ff. = BVerfGE 121, 317-388.
    In einer früheren Entscheidung zum gesetzlichen Impfstoffversandverbots für Apotheker hatte das Bundesverfassungsgericht ausgeführt, dass Gefahreinschätzungen nicht schlüssig sind, wenn identischen Gefährdungen in denselben oder in anderen, aber dieselbe Materie betreffenden Gesetzen unterschiedliches Gewicht beigemessen wird. Die gesetzgeberische Einschätzung wird fraglich, wenn zur Begründung von Gesetzesänderungen Gefährdungspotentiale herangezogen werden, die eine intensivere Beschränkung der Berufsfreiheit plausibel machen sollen, obwohl dafür tatsächliche Erkenntnisse fehlen.
    Vgl. BVerfG, Beschluss vom 11. Februar 2003 – 1 BvR 1972/00 –, juris, Rn. 43 = BVerfGE 107, 186-205.
    Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen werden die hier angegriffenen Bestimmungen nicht gerecht.
    Der Landesverordnungsgeber geht von einer Gefahreneinschätzung (dazu unter a.) aus, die ihn – aus seiner Sicht konsequent – zu einem normativen Schutzkonzept (dazu unter b.) veranlasst haben, das er jedoch durch systemwidrige und nicht folgerichtige Durchbrechungen (dazu unter c.) selbst infrage stellt.
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    a.
    Gefahreinschätzung
    Der Landesverordnungsgeber geht bei seiner Gefahreneinschätzung – ausgehend von den vom Robert Koch-Institut vermittelten Annahmen und Angaben – von dem Vorliegen eines hochinfektiösen Krankheitserregers (SARS-CoV-2) bei einer Vielzahl von Personen im Bundesgebiet und auf dem Staatsgebiet von Rheinland-Pfalz aus, der eine in Teilen und für Teile der Bevölkerung tödlich verlaufenden Lungenerkrankung (COVID-19) verursacht.
    Der Krankheitserreger – so die Einschätzung des Landesverordnungsgebers – wird durch in Form einer sog. Tröpfcheninfektion übertragen. Ausschlaggebendes Gewicht komme dabei der Übertragung des Erregers von Mensch zu Mensch zu.
    Der Grad der Ansteckungswahrscheinlichkeit wird aufgrund der zu beobachtenden weltweiten Ausbreitungsgeschwindigkeit vom Landesverordnungsgeber als hoch eingestuft.
    b.
    Normatives Schutzkonzept
    Ausgehend von dieser Gefahreneinschätzung des Landesverordnungsgebers hat dieser ein normativen Schutzkonzept in Kraft gesetzt, das im Zusammenhang der hier angegriffenen Vorschriften auf zwei bis drei Stufen aufbaut.
    Zunächst werden in einer ersten normativen Stufe alle Einrichtungen, Betriebe und Angebote untersagt sowie das physische Aufeinandertreffen von Menschen im öffentlichen Raum und außerhalb des eigenen Hausstandes numerisch begrenzt. In einer zweiten Stufe werden Ausnahmen von den verordneten Verboten zugelassen, dies jedoch teilweise unter Beachtung von angeordneten infektionsschutz-
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    und hygienerechtlichen Vorgaben. In einer fakultativen dritten Stufe können behördliche Dispensierungsmöglichkeiten unter Beachtung von infektionsschutz- und hygienerechtlichen Vorgaben hinzukommen.
    Die erste normative Stufe zeigt sich in der landesweiten Untersagung von Veranstaltungen und Versammlungen (vgl. § § 3 und 4 4. CoBeLVO), in der landesweiten Untersagung von Zusammenkünften in Kirchen, Moscheen und Synagogen sowie in sonstigen Einrichtungen der Glaubensgemeinschaften (vgl. § 2 Abs. 1 4. CoBeLVO), in der landesweiten Untersagung von Zusammenkünften zur Wahrnehmung von Angeboten in Volkshochschulen, Musikschulen und sonstigen öffentlichen und privaten Bildungseinrichtungen im außerschulischen Bereich (vgl. § 2 Nr. 3 4. CoBeLVO), in der Schließungsanordnung sämtlicher Verkaufs- und Warenausgabestellen des Einzelhandels (vgl. § 1 Abs. 1 4. CoBeLVO), in der Schließungsanordnung der Gastronomiebetriebe jeder Art (vgl. § 1 Abs. 1 Abs. 1 4. CoBeLVO), sowie der Kontaktbeschränkung auf eine bestimmte Zahl bzw. auf die im selben Haushalt lebenden Personen (vgl. § 4 Abs. 1 4. CoBeLVO).
    Die zweite normative Stufe zeigt sich z.B. bei Gastronomiebetrieben in der Gestattung der Abgabe und Lieferung von mitnahmefähigen Speisen (vgl. § 1 Abs. 1 Satz 2 4. CoBeLVO), bei Verkaufs- und Warenausgabestellen des Einzelhandels in der Gestattung unter Beachtung von bestimmten Hygienevorgaben zu öffnen (vgl. § 1 Abs. 2 4. CoBeLVO). Dasselbe gilt für bestimmte Bildungseinrichtungen (vgl. § 2 Satz 2 4. CoBeLVO).
    In einer dritten normativen Stufe eröffnet der Landesverordnungsgeber den zuständigen Behörden im Rahmen von Ermessensentscheidungen von den auf der ersten Stufe verordneten Verboten und Untersagungen Ausnahme unter Beachtung infektionsschutzrechtlicher und hygienerechtlicher Vorgaben zu gestatten. So räumt § 4 Abs. 1 Satz 4 4. CoBeLVO der zuständigen Versammlungsbehörde die Möglichkeit ein, auf Antrag Ausnahmegenehmigungen für das Versammlungsverbot
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    (nur unter freiem Himmel) zu erteilen, soweit dies im Einzelfall aus infektionsschutzrechtlicher Sicht vertretbar ist.
    In der Gesamtschau der hier vorliegenden Regelungssystematik ergibt sich damit folgendes vom Einzelfall abstrahiertes und nach Gefahrenquellen sortiertes Schutzkonzept des Landesverordnungsgebers:
    In einer ersten Gruppe fasst der Landesverordnungsgeber menschliche Verhaltensweisen, Einrichtungen, Betriebe und Angebote zusammen, die er unter dem Gesichtspunkt der von ihm vorgenommenen infektionsschutzrechtlichen Gefahreneinschätzung als derart gefährlich einstuft, dass diese verboten bzw. untersagt werden müssen, und zwar ohne, dass es hierfür die Möglichkeit einer behördlichen Ausnahmegenehmigung gibt (ausschließlich erste Schutzstufe). Hierunter fallen die nach § 1 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 8 Satz 1 4. CoBeLVO zu schließenden Verkaufs- und Warenausgabestellen des Einzelhandels sowie des Hotelgewerbes, die nicht unter die Ausnahmeregelung des § 1 Abs. 2, Abs. 3 bis Abs. 7, Abs. 8 4. CoBeLVO fallen, die Angebote und Einrichtungen nach § 2 4. CoBeLVO, die Veranstaltungen und (öffentliche) Zusammenkünfte und Ansammlungen nach § 2 Nr. 1 , Nr. 2 und Nr. 4 4. CoBeLVO sowie der Gastronomiebetrieb abseits von Krankenhäusern und Kliniken mit dem Verzehr vor Ort. Diese Fallgruppe unterliegt einem Totalverbot.
    In einer zweiten Gruppe fasst der Landesverordnungsgeber menschliche Verhaltensweisen, Einrichtungen, Betriebe und Angebote zusammen, die er unter dem Gesichtspunkt der von ihm vorgenommenen infektionsschutzrechtlichen Gefahreneinschätzung als derart gefährlich einstuft, dass diese verboten bzw. untersagt werden müssen, wobei die zuständigen Behörden hiervon Ausnahmen im Rahmen einer Ermessensausübung zulassen können, soweit dies im Einzelfall aus infektionsschutzrechtlicher Sicht vertretbar ist (erste und dritte Schutzstufe). Hierunter fällt das Versammlungsverbot unter freiem
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    Himmel (§ 4 Abs. 1 Satz 4 4. CoBeLVO). Diese Fallgruppe unterliegt einem Verbot mit präventivem behördlichem Ermessenserlaubnisvorbehalt.
    In einer dritten Gruppe fasst der Landesverordnungsgeber menschliche Verhaltensweisen, Einrichtungen, Betriebe und Angebote zusammen, die er unter dem Gesichtspunkt der von ihm vorgenommenen infektionsschutzrechtlichen Gefahreneinschätzung als weniger gefährlich einstuft, so dass er sie zulässt, dies aber nur unter Beachtung bestimmter normativen infektionsschutzrechtlichen und hygienerechtlichen Vorgaben, die sanktionsbewehrt sind (erste und zweite Schutzstufe). Hierunter fällt die Öffnung von bestimmten Verkaufs- und Warenausgabestellen des Einzelhandels (§ 1 Abs. 2, Abs. 3 bis Abs. 8 4. CoBeLVO), der Außerhausverkauf von Speisen (§ 1 Satz 3 4. CoBeLVO), die Öffnung bestimmter Einrichtungen und Angebote (§ 1 Abs. 5, Abs. 6 und Abs. 7 4. CoBeLVO) sowie bei bestimmten Zusammenkünften und Veranstaltungen (§ 4 Abs. 2 und Abs. 3 4. CoBeLVO). Diese Fallgruppe unterliegt einer gesetzlichen Gestattung mit normativen Vorgaben und repressivem Sanktionsvorbehalt.
    c.
    Systemwidrige und nicht folgerichtig ausgestaltete Durchbrechungen
    Dieses soeben dargestellte normative Schutzkonzept entwickelt der Landesverordnungsgeber nicht folgerichtig aus; er durchbricht es selbst an verschiedenen Stellen und stellte damit das Konzept insgesamt infrage.
    aa.
    Dies ergibt sich unter anderem an einer Gegenüberstellung der Regelungen zu der gesetzlichen Gestattung der Ladenöffnung und dem Verbot der Zusammenkünfte in Kirchen, Moscheen, Synagogen und in sonstigen Einrichtungen anderer Glaubensgemeinschaften.
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    Es ist nicht ersichtlich, weshalb die Öffnung jeder Art von Ladengeschäften des Einzelhandels bis zu einer Verkaufsfläche von 800 qm unter Einhaltung der vorgegebenen infektionsschutz- und hygienerechtlichen Vorgaben vom Landesverordnungsgeber nunmehr als nicht mehr so gefährlich eingestuft wird, so dass ihre Öffnung gesetzlich gestattet und nur noch unter einem repressiven Sanktionsvorbehalt gestellt wird und im Gegensatz dazu aber jede Art der Zusammenkunft religiöser Gruppen – und sei es unter Beachtung von Hygienevorgaben – weiterhin unter einem Totalverbot fällt.
    War eine sachliche Rechtfertigung nach der alten Rechtslage möglicherweise noch darin zu erblicken, dass die nach der damals gültigen Verordnungsvorschrift gestatteten Ladengeschäfte regelmäßig als kleinteiliger Einzelhandel, der als notwendig für die Versorgung der Bevölkerung angesehen wurde, eingeordnet werden konnte. So ist dies nunmehr nicht mehr möglich, wenn nach § 1 Abs. 2 Nr. 3 und 8 4. CoBeLVO Buchhandlungen und Kfz-Handel ohne jede Einschränkung in ihren Verkaufsflächen und sonstige Ladengeschäfte bis zu einer Verkaufsfläche von 800 qm öffnen dürfen, dies aber Kirchen, Moscheen, Synagogen und Glaubenshäusern anderer Glaubensgemeinschaften verboten bleibt.
    Sofern man andenkt, eine sachliche Rechtfertigung in der gewöhnlichen Verweildauer in den entsprechenden Gebäuden zu erblicken, so trägt dies nicht. Insoweit könnte der Verordnungsgeber entsprechende Vorgaben zum Zutritt und zur zulässigen Gesamtzahl von gleichzeitig anwesenden Personen statuieren, wie er dies für den Einzelhandel bereits getan hat (vgl. § 6 1 Abs. 2 Satz 3 4. CoBeLVO). Des Weiteren ist nicht ohne Weiteres von einer typischerweise längeren Verweildauer in einem Glaubenshaus im Vergleich zu einem Ladengeschäft des Einzelhandels (z.B. einem Bekleidungsgeschäft) auszugehen. Schließlich führt auch der Vergleich der typischerweise gegebenen Größe der Gebäude zu einem gegenteiligen Schluss, denn da Glaubenshäuser regelmäßig größer sind und im Inneren geräumiger gestaltet sind, wird
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    der gebotene Abstand zwischen den einzelne Gläubigen dort sogar besser sichergestellt werden können als in kleinteiligen Ladengeschäften mit seinen Auslagen und Vorrichtungen zum Feilbieten der Waren.
    Aus dieser Gegenüberstellung wird deutlich, dass die Gefahreinschätzung des Landesverordnungsgebers nicht schlüssig ist, jedenfalls nicht schlüssig und mithin nicht folgerichtig ausgestaltet wurde, wenn er identische Gefährdungen offenkundig ein unterschiedliches Gewicht beimisst.
    bb.
    Vergleichbares gilt bei Gegenüberstellung der Regelungen zu der gesetzlichen Gestattung der Ladenöffnung und dem Totalverbot beim Betrieb von Hotels und Beherbergungsbetrieben sowie der Zurverfügungstellung von Unterkünften zu privaten touristischen Zwecken.
    Es erschließt sich nämlich nicht, weshalb bei Hotels und Beherbergungsbetrieben eine höhere Ansteckungsgefahr bestehen soll, die eine strengere Regelung rechtfertige als bei dem nunmehr zugelassenen Einzelhandel. Insbesondere erschließt sich dies nicht, wenn man bedenkt, dass die Gäste in Hotels und Beherbergungsstätten regelmäßig in voneinander abgetrennten Räumen untergebracht sind und bereits aus dieser räumlichen Situation eine Ansteckungsgefahr nicht gegeben sein kann. Eine Ansteckungsgefahr, die bei dem angesprochenen Einzelhandel in deutlich größerem Maße besteht.
    Sofern eine sachliche Rechtfertigung darin gesucht werden soll, dass die benannten Hotels und Beherbergungsstätten eine Nachfrage schüfen, die ein bundesweiteres oder landesweites touristisches Reiseverhalten zu verursachen geeignet seien, das wiederum der Eindämmungsstrategie entgegenstehe, kann dies nicht überzeugen. Denn sofern nunmehr auch sonstiger Einzelhandel mit einer Verkaufsfläche von bis zu 800 qm und Bau- und Gartenmärkte sowie
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    Buchhandlungen und Kfz-Handel ohne jede Einschränkung in ihrer Verkaufsfläche öffnen dürfen, ist zu erwarten, dass diese Veränderungen innerhalb der betreffenden Gemeinden, Städte und Regionen eine größeren „Sogwirkung“ entfalten wird als der aufgrund der allgemeinen Verunsicherung sowieso weitgehend eingestellte Touristikverkehr.
    Aus dieser Gegenüberstellung wird deutlich, dass die Gefahreinschätzung des Landesverordnungsgebers nicht schlüssig ist, jedenfalls nicht schlüssig und mithin nicht folgerichtig ausgestaltet wurde, wenn er identische Gefährdungen offenkundig ein unterschiedliches Gewicht beimisst.
    cc.
    Gleiches gilt bei der Gegenüberstellung der Regelungen zu der gesetzlichen Gestattung der Ladenöffnung und dem Totalverbot bei Gastronomiebetrieben für den stationären Verzehr vor Ort.
    Es ist nicht ersichtlich, weshalb Ladengeschäfte nunmehr unter Beachtung von Hygienevorgaben öffnen dürfen, Gaststättenbetriebe jedoch weiterhin einem Totalverbot unterliegen, selbst, wenn sie vergleichbare Hygienevorgaben erfüllen könnten.
    War die vorangegangene Regelung möglicherweise noch dadurch gerechtfertigt, dass bei den vormals gestatteten Ladenöffnungen des Einzelhandels es sich um für den täglichen Bedarf notwendige Geschäfte handelte, so ist diese Rechtfertigung jedenfalls nunmehr nicht mehr möglich. Denn es erschließt sich nicht, weshalb nunmehr Ladengeschäfte des Einzelhandels jeder Art bis zu einer Verkaufsfläche von 800 qm öffnen dürfen, selbst wenn sie nicht der Deckung des täglichen Bedarfs dienen. Des Weiteren dürften Bau- und Gartenmärkte, Buchhandlungen, Kfz-Handel und Fahrradhandel nicht zum Einzelhandel zur Deckung des täglichen Bedarfs zählen. Die Öffnung
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    dieser Ladengeschäfte ist aber nunmehr ohne jede Einschränkung in der Verkaufsfläche zulässig.
    Sofern man andenkt, eine sachliche Rechtfertigung in der gewöhnlichen Verweildauer in den entsprechenden Gebäuden zu erblicken, so trägt dies nicht. Insoweit könnte der Verordnungsgeber entsprechende Vorgaben zum Zutritt und zur zulässigen Gesamtzahl von gleichzeitig anwesenden Personen statuieren, wie er dies für den Einzelhandel bereits getan hat. Des Weiteren ist nicht ohne Weiteres von einer typischerweise längeren Verweildauer in einem Gaststättenbetrieb im Vergleich zu einem Ladengeschäft des Einzelhandels (z.B. einem Bekleidungsgeschäft) auszugehen. Auch hier könnte der Landesverordnungsgeber Vorgaben zeitlicher Art machen.
    Aus dieser Gegenüberstellung wird deutlich, dass die Gefahreinschätzung des Landesverordnungsgebers nicht schlüssig ist, jedenfalls nicht schlüssig und mithin nicht folgerichtig ausgestaltet wurde, wenn er identische Gefährdungen offenkundig ein unterschiedliches Gewicht beimisst.
    dd.
    Gleiches gilt bei der Gegenüberstellung der Regelungen zu der gesetzlichen Gestattung der Ladenöffnung und dem Verbot des sonstigen Einzelhandels außerhalb des Anwendungsbereichs des § 1 Abs. 2 4. CoBeLVO.
    Wie bereits ausgeführt unterliegen z.B. Bau- und Gartenmärkte, Ladengeschäfte des Buchhandels und des Kfz-Handels, die regelmäßig – der Buchhandel zumindest teilweise – auch Verkaufsflächen von über 800 qm aufweisen, keiner Einschränkung, ihnen ist die Öffnung kraft Verordnungsrechts gestattet. Im Gegensatz hierzu unterliegen sonstige Ladengeschäfte und auch Kaufhäuser, die eine Verkaufsfläche von mehr als 800 qm aufweisen, dem Totalverbot.
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    Hierfür ist keine sachgemäße Rechtfertigung ersichtlich. Soweit darauf abgestellt wird, dass die Öffnung von Ladengeschäften mit Verkaufsflächen von mehr als 800 qm eine Sogwirkung entfalten könnten, gilt dies auch für die in § 1 Abs. 2 4. CoBeLVO genannten Ladengeschäfte gleichermaßen. Dass diese öffnen dürfen, kann auch nicht mit einem Bedarf gerechtfertigt werden, da die in Bau- und Gartenmärkten, Ladengeschäften des Buchhandels des Kfz-Handels und des Fahrradhandels angebotenen Waren nicht zum täglichen Bedarf gehören dürften. Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass die befürchtete Sogwirkung auch von einer flächendeckenden Öffnung von Ladengeschäften des Einzelhandels mit Verkaufsflächen unter 800 qm ausgehen kann. Aus dem Bauplanungsrecht ist dies unter dem Begriff der Clusterwirkung bekannt.
    Eine Sogwirkung besteht ersichtlich unabhängig von der Größe der Verkaufsfläche. Vor dem Hintergrund, dass es über die Hygienevorschriften hinaus keine weiteren regulierenden Einschränkungen (z. B. zeitliche Begrenzung der Öffnungszeiten) gibt, besteht die Ansteckungsgefahr auch jetzt. Die befürchtete Infektionsgefahr, die von Menschen ausgeht, die sich im öffentlichen Raum bewegen und dort aufhalten, entsteht im gleichen Maß, wenn die Anziehungskraft von attraktiven und nah beieinanderliegenden „kleinen“ Verkaufsstellen des Einzelhandels ausgeht, wie sie für zahlreiche hessische Städte prägend sind. Eine messbare Erhöhung dieser Gefahren durch die zusätzliche Öffnung von großflächigen Einzelhandelsbetrieben ist nicht erkennbar. Die beschriebene Sogwirkung des großflächigen Einzelhandels folgt allenfalls aufgrund der Attraktivität des Warenangebots. Alleine die Verkaufsfläche eines Einzelhandelsgeschäfts ist bereits deshalb kein Kriterium für seine Anziehungskraft, weil das Erfordernis einer größeren Verkaufsfläche auch durch das angebotene Sortiment bestimmt wird. So werden etwa im Auto-und Möbelhandel sowie bei anderen Waren von erheblicher Größe großflächige Verkaufsstellen erforderlich sein, ohne dass von ihnen eine besondere Anziehungskraft auf eine Vielzahl potentieller
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    Kundinnen ausgeht. Weiterhin ist die Differenzierung nach der Verkaufsfläche nicht erforderlich, um den mit ihr verfolgten Zweck – Steuerung der Fußgängerdichte in der Innenstadt zur Reduzierung der Gefahr von Ansteckungen mit dem SARS-CoV-2-Virus – zu erreichen. Um die Infektionsgefahr zu reduzieren, die durch eine große Zahl von Menschen ausgeht, die sich im öffentlichen Raum bewegen, sind mildere Mittel vorhanden. Der angeordnete Mindestabstand von 1,5 m ist dafür ausreichend. Seine Einhaltung kann überwacht werden. Außerdem bleibt es dem Verordnungsgeber auch unbenommen, weitergehende Schutzanordnungen wie beispielsweise die angekündigte Einführung einer Tragepflicht einer Mund-/Nasenbedeckung in Geschäften einzuführen. Weiterhin verstößt die Regelung gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Dabei kann dahinstehen, ob die Ungleichbehandlung von klein- und großflächigen Einzelhandelsbetrieben anhand einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung zu beurteilen ist oder einer reinen Willkürkontrolle unterliegt. Nach den vorstehenden Ausführungen stellt die Größe der Verkaufsfläche schon kein geeignetes Differenzierungskriterium dar, um die Ungleichbehandlung zu rechtfertigen. In diesem Sinne auch VG Hamburg 3 E 1675/20 Beschluss vom 21.04.2020 (nicht rechtskräftig). Mit Pressemitteilung vom 27. April hat in diesem Sinne auch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof festgestellt, dass die in § 2 Abs. 4 und 5 der 2.BaylfSMV getroffenen Regelungen nicht mit dem Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar sind. Die Freistellung von Buchhandlungen und Fahrradhändlern ohne Begrenzung der Verkaufsfläche nach § 2 Abs. 5 Nr. 1 BayIfSMV sei aus infektionsschutzrechtlicher Sicht sachlich nicht gerechtfertigt. Im Hinblick auf den Gleichheitssatz sei zudem zu beanstanden, dass nach dem Wortlaut der Verordnung im Fall der Ladenöffnung nur sonstige Seite 77 von 289 Einzelhandelsbetriebe eine Begrenzung der Kundenzahl auf einen Kunden je 20 qm sicherstellen müssen, nicht aber die übrigen Einzelhändler, die bereits vor dem 27. April 2020 öffnen durften sowie Buchhandlungen, Kfz-Handel und Fahrradhandel. http://www.vgh.bayern.de/media/bayvgh/presse/pressemitteilung_corona-verordnung__2.baylfsmv_.pdf Auch hier wird mithin deutlich, dass die Gefahreinschätzung des Landesverordnungsgebers nicht schlüssig ist, jedenfalls nicht schlüssig und mithin nicht folgerichtig ausgestaltet wurde, wenn er identische Gefährdungen offenkundig ein unterschiedliches Gewicht beimisst. ee. Insgesamt wird deutlich, dass der Verordnungsgeber aus nicht nachvollziehbaren Gründen, mithin verfassungsrechtlich nicht tragbaren Gründen, an einer Vielzahl von Stellen sein eigenes Schutzkonzept durchbricht und im Hinblick auf seine Gefahreneinschätzung eine nicht folgerichtige Regelungslage geschaffen hat, die zu Ungleichbehandlungen geführt hat, die nicht gerechtfertigt sind und nicht gerechtfertigt werden können. Das Gesamtregelungskonzept stellt sich damit als gleichheitswidrig und mithin verfassungswidrig dar. Bereits aus diesem Grund ist es für unwirksam zu erklären. 5. Maskentragpflicht Bevor im Folgenden auf die Verhältnismäßigkeit der hier angegriffenen Regelungen eingegangen wird, darf zunächst auf die Sinnlosig- und damit Rechtswidrigkeit der Maskentragpflicht eingegangen werden. Seite 78 von 289 Ab dem 27. April 2020 gilt in Rheinland-Pfalz die Pflicht, beim Fahren in öffentlichen Verkehrsmitteln, beim Einkaufen in Ladengeschäften, beim Schlendern und Shoppen auf dem Wochenmarkt und selbst bei der Annäherung an die Würstchenbude, eine „Mund-Nasen-Bedeckung“ zu tragen gemäß § 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 4 CoBeLVO. Ein Verstoß gegen die Maskenpflicht zieht ein Bußgeld in Höhe von € 10 nach sich. https://www.swr.de/swraktuell/rheinland-pfalz/bussgeld-bei-verstoss-gegen-maskenpflicht-100.html Aus der Verordnung ergibt sich zunächst nicht, wie der Mundschutz ausgestaltet sein soll, ob es Masken des Typs FFFP1-3, mit oder ohne Ventil sein müssen, ob ein Tuch, ein Schal zur Verdeckung des Mund-Nasen-Bereichs ausreicht, die die Normadressatinnen tragen müssen, um sich verordnungskonform zu verhalten. Der Normadressat weiß daher nicht, ab wann er dieser bußgeldbewehrten Verpflichtung gegebenenfalls nicht mehr nachkommt. Insoweit bestehen bereits Bedenken in Bezug auf die verfassungsrechtliche erforderliche Bestimmtheit der Norm im Sinne des Art. 103 Abs. 2 GG.
    Das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes stellt ferner eine erhebliche Beeinträchtigung dar, sie ist für den Träger unangenehm, stört im Gesicht und wird durch die Atemluft schwitzig und feucht. Auf sozialer Ebene behindert sie eine normale Interaktion, weil sie es unmöglich macht, die Mimik des Gegenübers zu deuten z.B. ein Lachen zu erkennen. Durch die Maske oder die sonstige Gesichtsverhüllung ist das Gegenüber zudem schwerer zu verstehen. Die Maske ist auch insoweit problematisch, als sie das Gefühl der Angst vor dem Virus, das sich ja nun durch die teilweise Lockerung langsam lösen könnte, weiter zementiert, indem nun alle Menschen z.B. in einem Supermarkt so herumlaufen, als sei dort grade eine toxische Substanz ausgelaufen. Auch für Kinder ist dies ein höchst irritierender, angsteinflössender Anblick.
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    Diesen Problemen stehen nun aber keinerlei greifbare Vorteile im Sinne einer Reduzierung des Risikos einer SARS-Cov-2-Infektion gegenüber. Es ist unstreitig, dass das Tragen einer Maske für den Träger keine Risikoreduzierung bringt.
    Ursprünglich hatte das Robert Koch-Institut wie die WHO und viele andere Ärztinnen und Politikerinne – so auch vor wenigen Wochen noch die Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz – auch, die Ansicht vertreten, dass nur medizinische Masken einen wirksamen Schutz gewährleisten für das Gegenüber eines Maskenträgers. Anfang April änderte das RKI seine Haltung dann aber und äußerte im Rahmen seiner Corona-Empfehlungen, dass auch eine einfache Schutzmaske, ggfls. sogar eine selbstgenähte Maske, das Risiko verringern könne, “eine andere Person durch Husten, Niesen oder Sprechen anzustecken”. Es führt aus:
    “Das Tragen der Mund-Nasen-Bedeckung kann ein zusätzlicher Baustein sein, um die Ausbreitungsgeschwindigkeit von COVID-19 in der Bevölkerung zu reduzieren – allerdings nur, wenn weiterhin Abstand (mind. 1,5 Meter) von anderen Personen, Husten- und Niesregeln und eine gute Händehygiene eingehalten werden. Das Risiko, eine andere Person durch Husten, Niesen oder Sprechen anzustecken, kann so verringert werden (Fremdschutz). Eine solche Schutzwirkung ist bisher nicht wissenschaftlich belegt, sie erscheint aber plausibel. Hingegen gibt es für einen Eigenschutz keine Hinweise.”
    https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/NCOV2019/FAQ_Mund_Nasen_Schutz.html;jsessionid=F56C2514E9F28EB7DEC269E5799615DE.internet072
    Auch das Bundesministerium für gesundheitliche Aufklärung warnt:
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    “Das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung darf jedoch auf keinen Fall ein trügerisches Sicherheitsgefühl erzeugen.“
    https://www.infektionsschutz.de/fileadmin/infektionsschutz.de/Downloads/Merkblatt-Mund-Nasen-Bedeckung.pdf
    Masken mit Ventil scheinen über eine wie auch immer geartete Schutzwirkung für Dritte überhaupt nicht zu verfügen. Edwin Bölke, Geschäftsführender Oberarzt an der Klinik für Strahlentherapie und Radioonkologie des Universitätsklinikum Düsseldorf führt in einem Interview gegenüber dem Ärzteblatt am 27. April 2020 aus:
    “Was in der Öffentlichkeit nach meiner Erfahrung unbekannt ist und auch nicht allen Ärzten klar ist, dass FFP1-3-Masken mit Ventil nur den Träger selbst schützen und nicht das Umfeld, da keine Filterung der Ausatemluft erfolgt. In der Öffentlichkeit ist das Tragen dieser Masken deshalb unsolidarisch, solange sie nicht von allen Menschen getragen werden, was unrealistisch ist.”
    https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/112344/Nicht-fuer-jeden-ist-das-Tragen-einer-Maske-unbedenklich
    Nicht nur scheint es nun jedoch keinen Beleg für irgendeine wissenschaftliche Fundierung der Maskenpflicht zu geben, im Gegenteil birgt das Tragen von Masken sogar hohe Risiken für ihre Trägerinnen Weltärztepräsident Frank Ulrich Montgomery kritisiert die Maskenpflicht scharf: Wer eine Maske trage, werde durch ein trügerisches Sicherheitsgefühl dazu verleitet, den “allein entscheidenden Mindestabstand” zu vergessen…. Im Stoff konzentriere sich das Virus, beim Abnehmen werde die Gesichtshaut berührt, schneller sei eine Infektion kaum möglich. Seite 81 von 289 https://www.tagesschau.de/inland/corona-mundschutz-101.html Die Gefährlichkeit von Masken thematisiert auch die Dissertation von Ulrike Butz Rückatmung von Kohlendioxid bei Verwendung von Operationsmasken als hygienischer Mundschutz an medizinischem Fachpersonal https://mediatum.ub.tum.de/doc/602557/602557.pdf Eine Maskenpflicht für alle ist auch insoweit problematisch, als sie einen großen Teil der Bevölkerung, die sich durch sozialen Druck genötigt sehen, eine Maske anzuziehen, einem großen gesundheitlichen Risiko aussetzt. Wie Bölke feststellt, ist es für Menschen mit eingeschränkter Lungenfunktion gefährlich, Atemmasken zu tragen. “DÄ: Sie raten zur Vorsicht beim Tragen einer Mund-Nasen-Maske. Weshalb? Edwin Bölke: Nicht für jeden Menschen ist das Tragen einer Maske unbedenklich. Das gilt für alle Patienten mit einer symptomatischen und instabilen Angina pectoris und einer symptomatischen chronisch-obstruktiven Lungenerkrankung (COPD) beziehungsweise eingeschränkter Lungenfunktion. Bei starker körperlicher Anstrengung besteht bei ihnen die Gefahr der Hyperkapnie. Kann das Kohlendioxid (CO2) aufgrund des erhöhten Luftwiderstands in der Maske nicht richtig abgeatmet werden, könnte es sich im Blut anreichern und den pH-Wert im Blut senken. Der erhöhte CO2-Partialdruck würde dann zu einer respiratorischer Azidose führen. DÄ: Auf welche Alarmzeichen sollten die Betroffenen achten? Bölke: Anfängliche Symptome einer Hyperkapnie sind Seite 82 von 289 Kopfschmerzen, Schwindel, Hautrötung, Muskelzuckungen, kardiale Extrasystolen. Im fortgeschrittenen Stadium können Panik, Krampfanfälle und Bewusstseinsstörungen auftreten. Ein hyperkapnisches Atemversagen findet man bei einer plötzlichen Verschlechterung einer COPD.” https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/112344/Nicht-fuer-jeden-ist-das-Tragen-einer-Maske-unbedenklich Laut Wikipedia handelt es sich bei der COPD, einer chronisch obstruktiven Lungenerkrankung um eine “Volkskrankheit”: “Schätzungen gehen davon aus, dass in Deutschland drei bis fünf Millionen, in den USA etwa 16 Millionen und weltweit etwa 600 Millionen Menschen an einer COPD erkrankt sind. Damit muss von einem globalen Phänomen gesprochen werden. In den USA stellt die COPD die vierthäufigste Todesursache dar. https://de.wikipedia.org/wiki/Chronische_obstruktive_Lungenerkrankung Auch der Mediziner Knut Witkowski, der 20 Jahre als Leiter der Abteilung für Biostatistik, Epidemiologie und Forschungsdesign an der Rockefeller University in New York tätig war, erklärte am 24. April 2020 in einem Interview auf die Frage, was eine Maskenpflicht bringe: „Es bringt überhaupt nichts. Die Epidemie ist bereits vorbei. Das Virus zirkuliert nicht mehr in einem relevanten Umfang in der Bevölkerung. Zu einem Zeitpunkt den Mundschutz einzuführen, wo es keinen Virus mehr gibt, ist ein bisschen seltsam. […] Jeder kann sich die Daten angucken und sieht: Deutschland ist über den Berg, genauso wie alle anderen europäischen Länder.“ https://multipolar-magazin.de/artikel/maskenpflicht-gesellschaftliches-klima Seite 83 von 289 Das RKI fällt hier dadurch auf, dass es auf – eingestandenerweise – wissenschaftlich nicht tragfähiger Basis Empfehlungen ausspricht. Eine reine Vermutung der Wirksamkeit einer Maßnahme, die gegenüber den belegt sinnvollen Maßnahmen wie Händewaschen und Abstandhalten von Atemwegserkrankten keine zusätzliche Reduzierung des Infektionsrisikos bringt, kann einen Grundrechtseingriff nicht rechtfertigten. Im Gegenteil riskiert hier der Verordnungsgeber durch seinen Hinweis auf die Empfehlung des RKI, generell im öffentlichen Raum eine Maske zu tragen, auch gesundheitlich gefährdete Person, möglicherweise genau die eigentlich zu schützende Risikogruppe, zu schädigen. Im Ergebnis ist zu konstatieren, dass die herrschende allgemeine Pflicht, sog. „community-Masken“ zu tragen, nur als Symbolpolitik angesehen werden kann. In diesem Sinne auch der Weltärztepräsident Montgomery: Am 23. April 2020 bezeichnete er die beabsichtigte Maskentragpflicht, wobei auch die Verwendung von Schals und Tüchern erlaubt sein sollen, als „lächerlich“ und stelle resigniert die rhetorische Frage: “Aber was will man gegen den Überbietungswettbewerb föderaler Landespolitiker mit rationalen Argumenten tun?” https://www.n-tv.de/panorama/Arztepraesident-Montgomery-Maskenpflicht-ist-falsch-article21733833.html 6. Verhältnismäßigkeit Die ergriffenen Maßnahmen sind bereits nicht erforderlich, jedenfalls aber nicht (mehr) verhältnismäßig im engeren Sinne. Damit greift der Verordnungsgeber in verfassungswidriger Weise die Grundrechte des Klägers und einer unabsehbaren Vielzahl von Grundrechtsträgerinnen,
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    namentlich in die freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG), der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG), der körperlichen Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG), der Bewegungsfreiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG), der Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG), der Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) sowie der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) ein.
    Vorliegend wird nicht verkannt, dass dem Verordnungsgeber für die Beurteilung der Geeignetheit und Erforderlichkeit der angeordneten Maßnahmen grundsätzlich ein weiter Einschätzungsspielraum zuzubilligen ist.
    Vgl. BVerwG, Urteil vom 22. März 2012 – 3 C 16.11 –, juris, Rn. 24 = BVerwGE 142, 205-219 zu behördlichen Maßnahmen nach § 28 Abs. 1 IfSG, m.w.N.
    Vor dem Hintergrund, dass § 28 Abs. 1 IfSG als Generalklausel ausgestaltet ist, sind die Anforderungen an die Verhältnismäßigkeitserwägungen entsprechend hoch, da der Norm auf der Tatbestandsseite kaum Grenzen gesetzt sind. Das behördliche Ermessen wird letztlich auf der Seite des Tatbestands nur dadurch beschränkt, dass es sich um „notwendige Schutzmaßnahmen“, also solche Maßnahmen, die zur Verhinderung der (Weiter-)Verbreitung der Krankheit geboten sind, handeln muss.
    Vgl. BVerwG, Urteil vom 22. März 2012 – 3 C 16.11 –, juris, Rn. 24 = BVerwGE 142, 205-219 zu behördlichen Maßnahmen nach § 28 Abs. 1 IfSG, m.w.N..
    Darüber hinaus sind dem Ermessen durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Grenzen gesetzt.
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    Vgl. Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Bundes-Seuchengesetzes, BTDrucks 8/2468 S. 27 (zur Vorgängerregelung in § 34 BSeuchG).
    Die Grenzen zwischen dem, was auf Seiten des Tatbestands (noch) unter „notwendige Schutzmaßnahmen“ subsumiert werden kann und der Frage, welche Maßnahmen verhältnismäßig, insbesondere erforderlich sind, sind fließend, weshalb in der Folge auch auf eine künstliche Auftrennung verzichtet wird. Diese Fragen werden im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung diskutiert.
    Wie oben dargelegt, existiert bereits keine Rechtsgrundlage für die erlassene Verordnung. Jedenfalls ist jedoch nicht die unterscheidungslose Inanspruchnahme aller Menschen im Land vom Anwendungsbereich des § 28 Abs. 1 IfSG gedeckt. Selbst wenn man das anders sehen würde, ist jedenfalls zu berücksichtigen, dass der Nichtstörer allenfalls unter strengen – und gegenüber Störern strengeren – Voraussetzungen adressiert werden darf. Unter welchen strengen Voraussetzungen das allenfalls geschehen darf, wird zur besseren Übersichtlichkeit in die allgemeinen Ausführungen zur Verhältnismäßigkeit eingebunden, zu der Folgendes ausgeführt wird:
    Zuvörderst wird berücksichtigt, dass der im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht geltende Grundsatz heranzuziehen ist, wonach an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts umso geringere Anforderungen zu stellen sind, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist.
    Z.B. Urteil vom 26. Februar 1974 – BVerwG 1 C 31.72 –, BVerwGE 45, 51, 61; Beschluss vom 13. Mai 1983 – BVerwG 7 B 35.83 – Buchholz 451.22 AbfG Nr. 14 S. 32.
    Das legt bereits das Ziel des Infektionsschutzgesetzes, eine effektive Gefahrenabwehr zu ermöglichen (§ 1 Abs. 1, § 28 Abs. 1 IfSG), sowie der
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    Umstand, dass die betroffenen Krankheiten nach ihrem Ansteckungsrisiko und ihren Auswirkungen auf die Gesundheit des Menschen unterschiedlich gefährlich sind, nahe. Im Falle eines hochansteckenden Krankheitserregers, der bei einer Infektion mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer tödlich verlaufenden Erkrankung führen würde, drängt sich angesichts der schwerwiegenden Folgen auf, dass die vergleichsweise geringe Wahrscheinlichkeit eines infektionsrelevanten Kontakts genügt.
    BVerwG, Urteil vom 22. März 2012 – 3 C 16.11 –.
    Der Hessische Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Entscheidung vom 8. April 2020 festgehalten:
    „Hinzu kommt, dass die angegriffenen Regelungen Teil eines aktuell sehr dynamischen Prozesses sind, bei dem die getroffenen Maßnahmen zur Gefahrenabwehr nahezu täglich neu überdacht und angepasst werden.“
    Hessischer Verwaltungsgerichtshof Beschluss v. 8. April 2020 – 8 B 910/20.N
    Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Entscheidung vom 30.03.2020 zu Recht festgestellt, dass den Verordnungsgeber eine Pflicht zur ständigen Überprüfung und Neubewertung der Situation trifft:
    „Für die Verhältnismäßigkeit der angegriffenen Regelungen in zeitlicher Hinsicht spricht, dass der Verordnungsgeber den Geltungszeitraum der Verordnung bis zum Ablauf des 3. April 2020 von vornherein vergleichsweise kurz befristet hat. Unabhängig davon trifft ihn nach Auffassung des Senats im Hinblick auf das Gewicht der mit der Verordnung verbundenen Grundrechtseingriffe aber eine fortlaufende Evaluierungspflicht. Der Verordnungsgeber hat für die Dauer der Gültigkeit der
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    angegriffenen Verordnung ständig zu überwachen, ob deren Aufrechterhaltung noch erforderlich und angemessen ist. Dabei dürften die Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit umso strenger werden, je länger die Regelungen schon in Kraft sind. Sollte sich die Unverhältnismäßigkeit einzelner Regelungen herausstellen, wären diese auch vor Ablauf des befristeten Geltungszeitraums unverzüglich aufzuheben.“
    VGH München, Beschluss v. 30.03.2020 – 20 NE 20.632, Rn. 63.
    Dieser Pflicht ist der Verordnungsgeber im Rahmen seiner abgeänderten aber immer noch restriktiven Verordnung nach diesseitiger Ansicht nicht nachgekommen.
    Auch das Bundesverfassungsgericht hat jüngst deutlich zum Ausdruck gebracht, dass mit voranschreitender Zeit die Verhältnismäßigkeit der Grundrechtseingriffe einer immer strengeren Prüfung unterliegt:
    „Der überaus schwerwiegende Eingriff in die Glaubensfreiheit zum Schutz von Gesundheit und Leben ist auch deshalb derzeit vertretbar, weil die Verordnung vom 17. März 2020 und damit auch das hier in Rede stehende Verbot von Zusammenkünften in Kirchen bis zum 19. April 2020 befristet ist. Damit ist sichergestellt, dass die Verordnung unter Berücksichtigung neuer Entwicklungen der Corona-Pandemie fortgeschrieben werden muss. Hierbei ist – wie auch bei jeder weiteren Fortschreibung der Verordnung – hinsichtlich des im vorliegenden Verfahren relevanten Verbots von Zusammenkünften in Kirchen eine strenge Prüfung der Verhältnismäßigkeit vorzunehmen und zu untersuchen, ob es angesichts neuer Erkenntnisse etwa zu den Verbreitungswegen des Virus oder zur Gefahr einer Überlastung des Gesundheitssystems verantwortet werden kann, das Verbot von
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    Gottesdiensten unter – gegebenenfalls strengen – Auflagen und möglicherweise auch regional begrenzt zu lockern.“
    BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 10. April 2020
  • 1 BvQ 28/20 -, Rn. 14.
    An dieser Stelle dürfen die wesentlichen Argumente zur Verhältnismäßigkeit einfachheitshalber zusammengefasst und sodann im Einzelnen dargestellt werden:
    Zunächst werden kurz Ausführungen zur Gefährlichkeit der COVID-19-Erkrankung gemacht, dem schließen sich umfassende Erläuterungen zum Prüfungspunkt Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne an.
    Im Rahmen der Erforderlichkeit wird fundiert dargelegt, dass die angegriffene Verordnung auf fehlerhafte Annahmen beruht. Im Einzelnen wird anhand der Darlegung der Anzahl der durchgeführten Tests und der Anzahl der positiven Testungen belegt, dass keine Evidenz für die Annahme bzw. der konkreten Gefahr eines exponentiellen Wachstums besteht.
    Zur aktuellen Situation: https://www.deutschlandfunk.de/coronavirus-aktuelle-zahlen-und-entwicklungen.2897.de.html?dram:article_id=472799
    Sodann wird darauf hingewiesen, dass keine Unterscheidung zwischen Infizierten und Erkrankten stattfindet, was zu einer Verzerrung bei Bedarfsberechnungen führt. Dem schließen sich Ausführungen zu der problematischen Testungsstrategie des RKI an. Aufgrund dessen, dass nur Menschen mit respiratorischen Symptomen getestet werden, können keine Angaben zur Dunkelziffer gemacht werden. Je höher die Dunkelziffer jedoch ist, desto geringer fallen die Raten der
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    Schwererkrankten und der Toten aus, was sich wiederum auf die Bedarfsberechnung und auf die Einschätzung der Gefährlichkeit der Erkrankung auswirkt. Die Forscherinnen der Leopolina hielten daher zu Recht fest: „Ein substantieller Teil der infizierten Population ist sogar für die gesamte Infektionsdauer kaum bis nicht erkrankt. Daher führen die bisher stark symptomgeleiteten Erhebungen zu einer verzerrten Wahrnehmung des Infektionsgeschehens, die belastbare (daten- oder gar modellgestützte) Schätzungen hinsichtlich der Effizienz von Maßnahmen kaum zulässt.“ Leopoldina, 3. Ad-hoc-Stellungnahme vom 13.04.2020, S. 5. Problematisch ist die Dunkelziffer – die vor allem bedeutet, dass sich der Immunisierungsgrad in der Gesellschaft – wie gewünscht – erhöht – auch dahingehend, dass so der Zahl der gemeldeten Infektionen, die letztlich zur alleinigen Grundlage staatlichen Handelns gemacht wurde – insbesondere mit Blick auf die Verdopplungszeit –, eine nur geringe Aussagekraft zukommt. Dabei gab die Bundeskanzlerin als Ziel aus, dass man einen Verdopplungszeitraum von 10 bis 14 Tagen erreichen müsse. https://www.deutschlandfunk.de/covid-19-aktuelle-zahlen-zum-coronavirus-in-deutschland.1939.de.html?drn:news_id=1120850 Zu Recht kritisierten Schrappe et. al. die Fixierung auf den Verdopplungszeitraum (Hervorhebungen durch die Unterzeichnenden): „Die Zahl der gemeldeten Infektionen hat nur eine geringe Aussagekraft, da kein populationsbezogener Ansatz gewählt wurde, die Messung auf einen zurückliegenden Zeitpunkt Seite 90 von 289 verweist und eine hohe Rate nicht getesteter (v.a. asymptomatischer) Infizierter anzunehmen ist. http://www.matthias.schrappe.com/einzel/thesenpapier_corona.pdf. Am 26. April 2020 lag die Verdopplungszahl in Deutschland bei 55,9 Tagen. https://www.tagesschau.de/ausland/coronavirus-karte-verdopplungszeit-101.html Die Bundeskanzlerin hat das Thema Verdopplungszahl auch in ihrer Ansprache bzw. im Rahmen der sich anschließenden Pressekonferenz am 15. April 2020 nochmals angesprochen, indes ohne darauf zu verweisen, dass das ausgegebene Ziel deutlich übererfüllt wurde. https://www.bundeskanzlerin.de/bkin-de/aktuelles/pressekonferenz-von-bundeskanzlerin-merkel-bundesminister-scholz-ministerpraesident-soeder-und-dem-ersten-buergermeister-tschentscher-im-anschluss-an-das-gespraech-mit-den-regierungschefinnen-und-regierungschefs-der-laender-1744310 Ferner wird darauf hingewiesen, dass es fehlerhaft war, keine Autopsien zur Erforschung der Todesursache und damit zur Frage der Kausalität der COVID-19-Erkrankung für den jeweiligen Tod, durchzuführen. Außerdem wird dargelegt, dass das italienische Gesundheitssystem bereits 2018 überlastet war und dass ein Risikofaktor für einen schweren Krankheitsverlauf auch die jeweils bestehende Luftverschmutzung darstellt. Daran anschließend werden mildere, gleichwirksame Mittel dargestellt. Etwa die Beschränkung der Regelungen auf besonders gefährdete Seite 91 von 289 Gruppen, die Ausweitung der Testkapazitäten und das Auferlegen von Hygienemaßnahmen (sog. Schutzkonzepte) anstelle der Schließung von Betrieben, Läden und Einrichtungen. Letzteres insbesondere vor dem Hintergrund, dass inzwischen – wie dargelegt wird – feststehen dürfte, dass Schmierübertragungen so gut wie ausgeschlossen werden können und es somit lediglich gilt, Tröpfcheninfektionen, zu vermeiden. a. Gefährlichkeit der Erkrankung Voranzustellen ist, dass die Einstufung der Krankheit als Pandemie durch die Weltgesundheitsorganisation nichts über die Schwere oder die erforderlichen Maßnahmen in Bezug auf die Krankheit aussagt. Hierzu führt das RKI aus: „Die Schwere war nie ein Kriterium für die Definition des Pandemiebeginns (Ausrufung der Phase 6). Das wäre auch problematisch. Über die Schwere der Erkrankung in der Bevölkerung gibt es zu Beginn einer Pandemie keine ausreichenden und aussagekräftigen Daten. Zudem kann die Schwere zwischen einzelnen Regionen oder Staaten unterschiedlich sein, und sie kann sich im Laufe der Zeit ändern. Aber natürlich spielt die Schwere eine wichtige Rolle für die Entscheidung über situationsangemessene Maßnahmen.“ https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/Pandemie/FAQ20.html Das bedeutet, dass der Pandemiefall letztlich nur die Aufmerksamkeit auf einen Krankheitserreger oder eine Erkrankung legt, die in mehreren Regionen festgestellt worden ist, ob und ggf. in welchem Umfang Maßnahmen erforderlich sind, lässt sich aus dieser Einschätzung nicht ableiten. Seite 92 von 289 Vorangestellt werden sollen zudem aktuellere Studie zur Frage der Letalität. Tatsächlich spricht allerdings vieles dafür, dass sich die Letalität im Promillebereich bewegt. Die sehr geringe Pathogenität des Erregers sowie fehlende Abweichung von der normalen, altersbedingten Sterblichkeit wurde zuletzt etwa von Ioannidis et al. sowie Posch et. al. bestätigt. Ioannidis et al.: „Population-level COVID-19 mortality risk for non-elderly individuals overall and for non-elderly individuals without underlying diseases in pandemic epicenters”, medrxiv; 8. April 2020; Posch et al.: „Erste Analysen österreichischer COVID-19 Sterbezahlen nach Alter und Geschlecht“, IMS, Medizinische Universität Wien, 7. April 2020 Kritisch zu den bisherigen Berechnungen der Sterblichkeit äußerten sich auch die Leopoldina-Forscherinnen am 13. April 2020:
    „Sterblichkeitsraten, die das Verhältnis der an COVID-19 Verstorbenen zur Anzahl der Neuinfizierten quantifizieren, müssen auf der Basis aller Infizierten bzw. der Gesamtbevölkerung berechnet werden und nicht nur auf der Basis der registrierten Erkrankten. Das individuelle Sterberisiko durch COVID-19 muss auch vor dem allgemeinen Hintergrund der Multikausalität und Komplexität von Todesfällen stärker als bislang beachtet werden. Die Anzahl von an COVID-19 Verstorbenen muss ins Verhältnis gesetzt werden zu der Anzahl der in einem vergleichbaren Zeitraum in einer äquivalenten Altersgruppe an anderen Erkrankungen Verstorbenen.“
    Leopoldina, 3. Ad-hoc-Stellungnahme vom 13.04.2020, S. 7.
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    Stefan Willich, der Direktor des Instituts für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie in der Berliner Charité ist, erläuterte in einem Interview am 24. März 2020:
    „Und auch die gelegentlich zum Vergleich angeführte Spanische Grippe um 1918 war bezüglich der Letalität und auch Gesamtsterblichkeit in der Bevölkerung viel bedrohlicher. Bei SARS-Cov-2 sind Personen unter 65 Jahren und ohne Vorerkrankungen offenbar kaum gefährdet. Die Krankheit ist gefährlich vor allem für ältere Personen mit chronischen Vorerkrankungen. Dieses Risikoprofil ist anders als bei der Influenza-Grippe, bei der auch Kinder und Schwangere gefährdet sind.“
    https://www.tagesspiegel.de/politik/epidemiologe-warnt-vor-noch-schaerferen-massnahmen-gibt-keinen-grund-das-ganze-land-in-haeusliche-quarantaene-zu-schicken/25672822.html?utm_source=pocket-newtab
    Das RKI teilt die Einschätzung bzgl. der Risikogruppen und identifiziert auch die Vorgenannten als Risikogruppen für schwere Verläufe.
    https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html#doc13776792bodyText2
    Konsequenterweise empfiehlt das RKI COVID-19 Erkrankten, dass Angehörige, die mit ihnen im Haushalt leben und auch während der Isolierung vor Ort bleiben, bei guter Gesundheit und ohne Vorerkrankungen sein sollten.
    https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Flyer_Patienten.pdf?__blob=publicationFile
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    Das bedeutet, dass eine Absonderung iSd § 30 IfSG der Infizierten gerade nicht durchgeführt wird.
    Auch der Virologe Alexander Kekulé schätzte am 26. März 2020 die Situation so ein, dass besonders Hochhaltrige und Menschen mit bestimmten Vorerkrankungen ein besonders hohes Risiko für schwere und tödliche Verläufe hätten.
    https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2020-03/coronavirus-quarantaene-lockdown-ausgangssperre-alternative-pandemie-alexander-kekule
    Nach den Informationen des RKI gab es am 26. April 2020 in Deutschland 154.175 bestätigte Infektionsfälle, davon gelten 112.000 Menschen nach den Schätzungen des RKI als genesen und 5.640 sind verstorben. D.h. aktuell sind lediglich 36.535 Menschen in Deutschland infiziert und ggf. krank – bei 83,02 Millionen Einwohnerinne. https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/2020-04-26-de.pdf?__blob=publicationFile In Rheinland-Pfalz sind nach aktuellen Zahlen des RKI am 27. April 2020 lediglich 5.879 Menschen infiziert, von denen 4.385 als genesen gelten. Damit sind aktuell in Rheinland-Pfalz lediglich 1.342 infiziert. Das bedeutet, auf 100.000 Einwohnerinnen kommen aktuell 143,9 Fälle.
    https://www.n-tv.de/infografik/Coronavirus-aktuelle-Zahlen-Daten-zur-Epidemie-in-Deutschland-Europa-und-der-Welt-article21604983.html
    Wie hoch die Dunkelziffer ist, ist unbekannt. Der RKI-Präsident Wieler glaubt zwar, dass die Dunkelziffer in Deutschland nicht besonders hoch
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    sei, sagt aber auch, dass die Hälfte der Infizierten gar nicht an COVID-19 erkranke und man diese somit „nicht sehe“.
    https://www.deutschlandfunk.de/covid-19-wie-hoch-die-dunkelziffer-bei-den-coronavirus.1939.de.html?drn:news_id=1114974
    Streeck geht hingegen von einer „hohen“ Dunkelziffer aus.
    https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/interview-mit-hendrik-streeck-virologe-warnt-vor-aktionismus-was-im-moment-unternommen-wird-ist-ziemlich-drastisch/25688704.html?ticket=ST-777693-2bWGdrpeFin1vDAw4Qtf-ap5
    Und Weillich ging am 24. März 2020 davon aus, dass die Dunkelziffer der tatsächlich Infizierten „sehr hoch“ ist.
    https://www.tagesspiegel.de/politik/epidemiologe-warnt-vor-noch-schaerferen-massnahmen-gibt-keinen-grund-das-ganze-land-in-haeusliche-quarantaene-zu-schicken/25672822.html?utm_source=pocket-newtab
    Dies berücksichtigend ist die Annahme, dass es eine nicht unerhebliche Dunkelziffer gibt, nicht von der Hand zu weisen. Das ist positiv zu bewerten, da das nichts anderes bedeutet, als das eine deutlich höhere Anzahl an Menschen eine Infektion gut – zumeist symptomlos – überstanden haben dürfte.
    All diejenigen, die eine Infektion überstanden haben, sind danach – mindestens für diese Saison, eher einige Jahre – immun und scheiden als Überträger aus. Wer bereits Antikörper gebildet hat, kann derzeit allerdings nicht in der Breite zuverlässig und schnell getestet werden.
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    https://www.ndr.de/ratgeber/gesundheit/Coronavirus-Fragen-und-Antworten,corona100.html; https://www.esanum.de/covid-19/feeds/today/posts/vermutlich-voruebergehende-immunitaet-nach-ueberstandener-sars-cov-2-infektion
    In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass die Dunkelziffer sich mutmaßlich auch dadurch erhöht, dass nach den Ausführungen des Virologen Christian Drosten anzunehmen ist, dass Menschen die in der Vergangenheit eine (vergleichsweise harmlose) Corona-Erkältung durchlaufen haben, immun gegen das neuartige Corona-Virus sind. Drosten äußerte sich in seinem NDR-Podcast am 16. April 2020 wie folgt:
    „Es ist durchaus so, dass wir damit rechnen, dass es möglicherweise eine unbemerkte Hintergrunds-Immunität gibt – durch die Erkältungscoronaviren. Denn die sind auf eine gewisse Art und Weise verwandt mit dem SARS-CoV-2-Virus.
    […]
    Es könnte sein, dass gewisse Personen, die einen Erkältungsvirus vor ein bis zwei Jahren hatten, auf eine bisher unbemerkte Art und Weise geschützt sind.“
    https://www.watson.de/leben/gesundes%20leben/324026684-virologe-christian-drosten-warum-erkaeltung-gegen-corona-immun-machen-koennte
    Drosten berichtete von einer Preprint-Studie aus China, die gerade erst herausgekommen wäre und in der Haushalte mit Infizierten intensiv beobachtet wurden. Dabei sei die sogenannte “Tag-Rate”, die Anzahl der Menschen, die sich bei Infizierten ansteckten, sehr niedrig gewesen. “Die
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    liegt bei 12, 13 Prozent”, so Drosten. “Wie kann das sein, dass sich so viele nicht infizieren, die mit im Haus waren? Spielt dabei so etwas wie Hintergrundimmunität eine Rolle?”
    https://www.watson.de/leben/gesundes%20leben/324026684-virologe-christian-drosten-warum-erkaeltung-gegen-corona-immun-machen-koennte; hierzu auch: https://www.swr.de/wissen/immun-durch-corona-vorerkrankung-100.html
    Nach alledem ist jedenfalls zu konstatieren, dass es sich nicht um eine Erkrankung handelt, die eine besonders hohe Letalität besitzt. Ebola beispielsweise hat eine Letalitätsrate von 25 bis 90 %
    https://www.who.int/en/news-room/fact-sheets/detail/ebola-virus-disease
    bei SARS liegt sie bei 11% und bei MERS bei über 30 %.
    https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/M/MERS_Coronavirus/MERS-CoV_Management_Kontaktpersonen.html
    Bei der Influenza geht das RKI von 0,1 bis 0,2 % aus, wohingegen die Virologin Ulrike Protzer von einer Sterblichkeit von 0,5 bis 8 % ausgeht. Hintergrund der unterschiedlichen Zahlen ist der, dass bei der Grippe die sog. Übersterblichkeit – das heißt, es wird nur geschaut, wie viele Menschen mehr während der Grippesaison sterben als in den restlichen Monaten des Jahres – gemessen wird, wohingegen im aktuellen Fall des SARS-CoV-2 Virus der Blick auf die Sterblichkeit bei gesicherten Infektionsfällen gerichtet wird.
    https://www.br.de/nachrichten/wissen/faktenfuchs-was-ist-gefaehrlicher-corona-oder-grippe,RtUiWta;
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    https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/Influenza/FAQ_Liste.html; https://influenza.rki.de/Saisonberichte/2018.pdf
    Das vorausgeschickt folgen nun zunächst Ausführungen zu der besonderen Rolle des RKI um sodann zur Verhältnismäßigkeit vorzutragen. Hieraus wird ersichtlich, dass die angegriffenen Maßnahmen einer Überprüfung des von Verfassungswegen gebotenen Übermaßverbots nicht standhalten können. Die Grundrechtseingriffe können mithin nicht – wenigstens nicht mehr – gerechtfertigt werden.
    b.
    Legitimer Zweck
    „Die Freiheit der Person, die das Grundgesetz als “unverletzlich” bezeichnet, ist ein so hohes Rechtsgut, dass in sie aufgrund des Gesetzesvorbehalts des Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG nur aus besonders gewichtigen Gründen eingegriffen werden darf. Unbeschadet dessen, dass solche Eingriffe unter bestimmten Voraussetzungen auch in Betracht kommen mögen, wenn sie den Betroffenen daran hindern sollen, sich selbst einen größeren persönlichen Schaden zuzufügen sind sie im Allgemeinen nur zulässig, wenn der Schutz anderer oder der Allgemeinheit dies unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeits-grundsatzes erfordert.
    Nach diesem Grundsatz muss ein grundrechtseinschränkendes Gesetz geeignet und erforderlich sein, um den erstrebten Zweck zu erreichen. Ein Gesetz ist geeignet, wenn mit seiner Hilfe der erstrebte Erfolg gefördert werden kann; es ist erforderlich, wenn der Gesetzgeber nicht ein anderes, gleich wirksames, aber das Grundrecht nicht oder weniger stark einschränkendes Mittel hätte wählen könne. Bei der Beurteilung der Eignung und Erforderlichkeit des gewählten Mittels zur Erreichung der erstrebten Ziele sowie bei der in diesem Zusammenhang vorzunehmenden Einschätzung und Prognose der dem Einzelnen oder der Allgemeinheit drohenden Gefahren steht dem Gesetzgeber ein
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    Beurteilungsspielraum zu, welcher vom Bundesverfassungsgericht je nach der Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs, den Möglichkeiten, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden, und der auf dem Spiel stehenden Rechtsgüter nur in begrenztem Umfang überprüft werden kann.
    Vgl. hierzu BVerfG – Beschluss vom 09. März 1994 – 2 BvL 43/92.
    Gleiches gilt auch für eine Rechtsverordnung.
    Ausweislich der hier angegriffenen Verordnung ist diese zum Schutz vor dem Coronavirus SARS-CoV-2 und COVID-19 „anlässlich der Corona-Pandemie“. Es ist bereits fraglich, ob der Schutz vor dem Coronavirus SARS-CoV-2 und COVID-19 ein tauglicher Zweck für die Rechtsverordnung ist. § 32 Abs. 1 IfSG berechtigt „durch Rechtsverordnungen entsprechende Gebote und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten zu erlassen“.
    Diese Frage ist nicht nur eine semantische, sondern gerade in diesem Zusammenhang eine wesentliche juristische. Das erklärt sich bereits daraus, dass § 28 IfSG gegenüber Nichtstörern – wie oben dargelegt – gerade nur eine Lückenfüllerfunktion hat und keine eigenständigen Maßnahmen rechtfertigt. D.h. der Schutz der nichterkrankten Bevölkerung vor Ansteckung kann nur dann ein legitimes Ziel sein, wenn
    a. die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts – also einer Ansteckung mit SARS-CoV-2-Viren außerhalb des eignen Wohnumfeldes als wahrscheinlich – zumindest als wahrscheinlicher als innerhalb des eigenen Wohnumfeldes – angesehen wird und
    b. durch die Ansteckung mit SARS-CoV-2-Viren eine erhebliche Gesundheitsgefährdung für den Nichterkrankten bzw. Dritte besteht.
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    Das Bundesverwaltungsgericht hat wie bereits oben dargelegt hierzu zum Ansteckungsverdächtigen ausgeführt:
    Es ist der im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht geltende Grundsatz heranzuziehen, dass an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts umso geringere Anforderungen zu stellen sind, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist Dafür sprechen das Ziel des Infektionsschutzgesetzes, eine effektive Gefahrenabwehr zu ermöglichen (§ 1 Abs. 1, § 28 Abs. 1 IfSG), sowie der Umstand, dass die betroffenen Krankheiten nach ihrem Ansteckungsrisiko und ihren Auswirkungen auf die Gesundheit des Menschen unterschiedlich gefährlich sind. Im Falle eines hochansteckenden Krankheitserregers, der bei einer Infektion mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer tödlich verlaufenden Erkrankung führen würde, drängt sich angesichts der schwerwiegenden Folgen auf, dass die vergleichsweise geringe Wahrscheinlichkeit eines infektionsrelevanten Kontakts genügt. Das Beispiel zeigt, dass es sachgerecht ist, einen am Gefährdungsgrad der jeweiligen Erkrankung orientierten, “flexiblen” Maßstab für die hinreichende (einfache) Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen.“
    BVerwG, Urteil vom 22. 3. 2012 – 3 C 16.11; Niedersächsisches OVG (lexetius.com/2012,1999)
    Es ist mithin bereits zweifelhaft, ob für den Nichterkrankten gleichsam eine einfache Wahrscheinlichkeit als Maßstab anzulegen ist. Unabhängig davon ist der Gefährdungsgrad ausweislich des Bundesverwaltungsgerichts sodann wie folgt zu ermitteln:
    „Ob gemessen daran ein Ansteckungsverdacht im Sinne von § 2 Nr. 7 IfSG zu bejahen ist, beurteilt sich unter Berücksichtigung der Eigenheiten der jeweiligen Krankheit und der verfügbaren
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    epidemiologischen Erkenntnisse und Wertungen sowie anhand der Erkenntnisse über Zeitpunkt, Art und Umfang der möglichen Exposition der betreffenden Person und über deren Empfänglichkeit für die Krankheit. Davon ist auch das Oberverwaltungsgericht ausgegangen. Es hat dabei zu Recht darauf abgestellt, dass das zugrunde liegende Erkenntnismaterial belastbar und auf den konkreten Fall bezogen sein muss. Die Feststellung eines Ansteckungsverdachts setzt voraus, dass die Behörde zuvor Ermittlungen zu infektionsrelevanten Kontakten des Betroffenen angestellt hat; denn ohne aussagekräftige Tatsachengrundlage lässt sich nicht zuverlässig bewerten, ob eine Aufnahme von Krankheitserregern anzunehmen ist. Die Ermittlungspflicht der Behörde folgt bereits aus dem allgemein für das Verwaltungsverfahren geltenden Untersuchungsgrundsatz (vgl. § 24 Abs. 1 VwVfG). Sie lässt sich darüber hinaus aus § 25 Abs. 1 IfSG ableiten. Nach dieser Bestimmung stellt das Gesundheitsamt die erforderlichen Ermittlungen insbesondere über Art, Ursache, Ansteckungsquelle und Ausbreitung der Krankheit an, wenn Anhaltspunkte für einen Krankheits-, Krankheitsverdachts-, Ansteckungsverdachts- oder Ausscheidungsfall vorliegen. Zur Systematik von § 25 und § 28 IfSG heißt es in den Gesetzesmaterialien ausdrücklich, dass vor der Anordnung von Schutzmaßnahmen regelmäßig Ermittlungen angestellt werden müssen, um die Annahme eines Krankheits- oder Ansteckungsverdachts abzusichern (BTDrucks 8/2468 S. 26; Bales/Baumann, a. a. O. § 25 Rn. 4 f.).“
    BVerwG a.a.O.
    Auf welches konkrete Erkenntnismaterial sich der Verordnungsgeber bezieht ist nicht ersichtlich.
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    Hierzu müsste der Verordnungsgeber im Einzelnen und detailliert vortragen, was hiermit auch beantragt wird.
    Von welchen Tatsachengrundlagen und Zahlen der Verordnungsgeber für seine Maßnahmeentscheidung ausgegangen ist, ist nämlich nicht nachvollziehbar.
    Dazu im Einzelnen:
    aa.
    Pandemie
    Die alleinige Einstufung der Krankheit als Pandemie durch die Weltgesundheitsorganisation sagt nichts über die Schwere oder die erforderlichen Maßnahmen in Bezug auf eine Krankheit aus. Das RKI führt hierzu aus:
    „Die Schwere war nie ein Kriterium für die Definition des Pandemiebeginns (Ausrufung der Phase 6). Das wäre auch problematisch. Über die Schwere der Erkrankung in der Bevölkerung gibt es zu Beginn einer Pandemie keine ausreichenden und aussagekräftigen Daten. Zudem kann die Schwere zwischen einzelnen Regionen oder Staaten unterschiedlich sein, und sie kann sich im Laufe der Zeit ändern. Aber natürlich spielt die Schwere eine wichtige Rolle für die Entscheidung über situationsangemessene Maßnahmen.“
    https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/Pandemie/FAQ20.html
    Das bedeutet, dass der Pandemiefall letztlich nur die Aufmerksamkeit auf einen Krankheitserreger oder eine Erkrankung legt, die in mehreren Regionen festgestellt worden ist, ob und ggf. in welchem Umfang Maßnahmen erforderlich sind, lässt sich aus dieser Einschätzung nicht ableiten.
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    bb.
    Robert Koch-Institut
    Soweit der Verordnungsgeber auf Erkenntnisse des Robert Koch-Instituts verweisen sollte, ist zunächst einmal klarzustellen, dass Verordnungsgeber der Verordnungsgeber ist und dieser aufgrund des zugrundeliegenden belastbaren Erkenntnismaterials Entscheidungen treffen muss.
    Das ist insbesondere auch deshalb der Fall, da durch die Verordnung Tatbestände geschaffen worden sind, die der Strafbarkeit unterliegen.
    Ausweislich § 4 IfSG kommt dem RKI eine beratende Rolle zu. Diese Beratungstätigkeit hat ein besonderes Gewicht, der Verordnungsgeber muss sich aber dennoch eine eigene kritische Überzeugung bilden und aufgrund dieser Überzeugung handeln.
    Weder aus dem Gesetz noch aus den Gesetzesmaterialien geht hervor, dass das RKI Inhalte von Verordnungen vorgeben dürfe bzw. selber die Rolle eines Verordnungsgebers hätte. Mithin muss der Verordnungsgeber sich aufgrund der Beratungen durch u.a. das Robert-Koch-Institut Erkenntnisse verschaffen, auf deren Grundlagen er Maßnahmen anordnet.
    Ausgehend von diesen Ausführungen und Bezugnehmen auf die zuvor zitierte Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts ergeben sich die nachfolgenden Probleme für die Bewertung:
    Es ist nicht ersichtlich, welche Eigenheiten der bezeichneten Krankheit berücksichtigt worden sind.
    Es ist nicht ersichtlich, auf welchen verfügbaren epidemiologischen Erkenntnissen und Wertungen die Maßnahmeentscheidung beruht.
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    Es ist nicht ersichtlich, welche Erkenntnisse über Zeitpunkt, Art und Umfang der möglichen Exposition der betreffenden Personen zum Zeitpunkt des Erlasses der Verordnung vorlagen.
    Es ist nicht ersichtlich, wie die Empfänglichkeit der Betroffenen für die Krankheit berücksichtigt worden ist.
    Es ist nicht ersichtlich, dass das zugrunde liegende Erkenntnismaterial belastbar und auf den konkreten Fall bzw. hier auf eine die konkrete Gefährdung der und durch die Betroffenen bezogen worden ist.
    Ohne aussagekräftige Tatsachengrundlage lässt sich nicht zuverlässig bewerten, ob eine Aufnahme oder die Gefahr der Aufnahme von Krankheitserregern anzunehmen ist.
    Es liegen keinerlei Kenntnisse über erfolgte erforderliche Ermittlungen insbesondere über Art, Ursache, Ansteckungsquelle und Ausbreitung der Krankheit vor.
    Der Verordnungsgeber wird insofern aufgefordert darzulegen, wann welche Konsultationen welcher Experten mit welchem Inhalt und welchem Ergebnis stattgefunden haben, damit der Klägerhierzu Stellung nehmen kann.
    Insbesondere ist darzulegen, welche konkret auf das Land Nordrhein-Westfalen bezogenen Erkenntnisse es zu welchem Zeitpunkt gegeben hat.
    cc.
    Ermittlung von Tatsachen / Grundlagen zur Einschätzung einer Gefahr
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    Weiterhin wird – in Hinsicht auf die Ermittlung der vorgenannten Tatsachen – Bezug genommen auf die „Ergänzung zum Nationalen Pandemieplan – COVID-19 – neuartige Coronaviruserkrankung“ des RKI vom 04. März 2020. Darin wird ausgeführt (S. 15):
    „Eine besondere Herausforderung besteht darin, dass die virologischen, epidemiologischen und klinischen Informationen größtenteils nicht oder noch nicht verlässlich vorhanden sind, wenn die Risikoeinschätzung und Entscheidungen über Maßnahmen erfolgen sollen, daher ist es notwendig, dass die Risikoeinschätzung fortwährend mit den jeweils verfügbaren Informationen ergänzt und neu bewertet wird.“
    Soweit mithin das RKI selber ausführt, dass am 4. März 2020 die virologischen, epidemiologischen und klinischen Informationen größtenteils nicht oder noch nicht verlässlich vorhanden waren, ist anzufragen, auf welcher Grundlage eine entsprechende Verordnung erlassen worden ist. Insbesondere ist anzufragen, welche Bemühungen der Verordnungsgeber angestellt hat, verlässliche Informationen zu bekommen.
    Es ergeben sich die folgenden Fragen:
    Ist eine Querschnittsuntersuchung der Bevölkerung geplant oder bereits vorgenommen worden? Gibt es verlässliche Testzahlen, Laborergebnisse, Autopsieberichte etc.?
    Gibt es diese Zahlen für jedes Gemeindegebiet bzw. jede kreisfreie Stadt, so dass die Maßnahmen nur den Erkenntnissen entsprechend vorgenommen werden?
    Welche Informationen gibt es von den grundsätzlich zuständigen Jugendämtern über die konkrete Situation in
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    jeder Gemeinde bzw. in jeder kreisfreien Stadt in Rheinland-Pfalz?
    dd.
    Nationaler Pandemieplan – COVID-19
    Auf Seite 17 der „Ergänzung zum Nationalen Pandemieplan – COVID-19 – neuartige Coronaviruserkrankung“ wird ausgeführt:
    „Äußerst schwierig gestaltet sich derzeit die Bewertung der Gesamtschwere der Epidemie, bei der die drei Hauptkriterien
  1. Übertragbarkeit (Transmissibility),
  2. Anteil klinisch schwerer bzw. tödlicher Krankheitsverläufe (Seriousness of disease) und
  3. Auslastung und Kapazität des Gesundheitsversorgungssystems (Impact)
    des jeweils betroffenen Landes berücksichtigt werden müssen.“
    Insofern führt das RKI selber aus, dass eine belastbare Zahlengrundlage für Entscheidungen aktuell nicht vorhanden ist.
    ee.
    Ermittlung der Risikoeinschätzung nach Nationalen Influenzapandemieplan – Teil 2
    Das RKI hat im sogenannten Nationalen Influenzapandemieplan – Teil 2 aufgeführt, wie eine Risikoeinschätzung vorgenommen werden muss:
    „5.3. Konzept in Deutschland
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    In Deutschland können für eine kontinuierliche, differenzierte Risikoeinschätzung während einer Pandemie drei grundlegende Kriterien herangezogen werden:
    Das epidemische Potenzial in der Bevölkerung
    Das epidemische Potenzial eines Influenzavirus wird vor allem durch die Übertragbarkeit des Virus bestimmt. Es ist wichtig zu erfassen, wie leicht und wie schnell sich das Virus von Mensch zu Mensch überträgt und sich somit ausbreitet. Dabei stellen sich u. a. folgende Fragen (s. Tab. 4):
    Wie ändert sich der Anteil der infizierten (oder erkrankten) Personen in der Bevölkerung von einer Zeiteinheit zur nächsten?
    Wie schnell steigt die Fallzahl an?
    Wie hoch ist der Anteil der Bevölkerung, der kreuzreagierende Antikörper und damit gegebenenfalls einen gewissen Schutz gegen das pandemische Influenzavirus aufweist?
    Antworten auf diese Fragen erlauben u. a. eine Einschätzung, wie sinnvoll (evtl. kurzfristige) Maßnahmen – wie z.B. präventive Schulschließungen – sein können, die das Ziel haben, die rasche Ausbreitung zu verhindern.
    Das epidemiologische (Schwere-)Profil von Influenzaerkrankungen
    Das epidemiologische (Schwere-) Profil von Influenzaerkrankungen kann durch die Beobachtung des Erkrankungsgeschehens in der Bevölkerung eingeschätzt werden. Dabei steht die Beantwortung von folgenden Fragen im Mittelpunkt (s. Tab. 5):
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    Wie hoch ist die Krankheitslast auf Bevölkerungsebene, in der Primärversorgung, auf Krankenhausebene und wie hoch ist die Anzahl der Todesfälle?
    Wie hoch ist der Anteil von Influenzaerkrankungen mit schwerem Krankheitsverlauf? Welche Risikofaktoren führen dazu, dass Personen schwer erkranken (z.B. Altersgruppen, Vorerkrankungen)? Sind antivirale Arzneimittel und Impfstoffe wirksam?
    Wie hoch ist der Anteil der Infizierten, die keine Symptome zeigen?
    Antworten auf diese Fragen erlauben u. a. eine Einschätzung, welcher Anteil der Bevölkerung erkrankt bzw. schwer erkrankt ist. Darüber hinaus lassen sich aus diesen Parametern wichtige epidemiologische Kenngrößen, wie z.B. die Letalität, ableiten. Weiterhin können einige dieser Indikatoren darüber Aufschluss geben, wie stark ein bestimmter Sektor im Gesundheitswesen zumindest von der „Nachfrageseite“ her belastet ist (z.B. der primärversorgende Bereich). Schließlich können die Werte auch mit saisonalen Wellen und früheren Pandemiewellen verglichen werden.
    Die Ressourcenbelastung im Gesundheitsversorgungssystem
    Während einer Pandemie steht vor allem die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung im Vordergrund. Daher ist die Erfassung der Belastung von humanen und materiellen Ressourcen im Gesundheitsversorgungssystem wichtig. Darüber hinaus sind weitere öffentliche Dienstleistungen von Bedeutung. Die Ressourcenplanung und das Ressourcenmanagement sind Aufgaben der Länder.
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    Für die Beurteilung der Lage in einer pandemischen Situation stehen folgenden Fragen in Mittelpunkt:
    Wie hoch ist der Anteil der Personen mit ARE in Arztpraxen? Wie hoch ist der Anteil von Influenzapatienten bezogen auf die Anzahl von Krankenhausbetten, medizinischem Personal, intensivmedizinischen Betten- und Beatmungsplätzen?
    Zur Beantwortung dieser Fragen können Daten aus der syndromischen Surveillance der Arbeitsgemeinschaft Influenza und Krankenhaussurveillance herangezogen werden (s. Tab. 6).“
    https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/I/Influenza/Pandemieplanung/Downloads/Pandemieplan_Teil_II_gesamt.pdf?__blob=publicationFile
    ff.
    Konkrete Risikoeinschätzung
    Gleiches geht auch aus der Veröffentlichung „COVID-19: Grundlagen für die Risikoeinschätzung des RKI“ hervor:
    „Die Risikoeinschätzung ist die Beschreibung und Einschätzung der Situation für die Bevölkerung in Deutschland. Sie bezieht sich nicht auf die Gesundheit einzelner Individuen oder spezieller Gruppen in der Population und nimmt auch keine Vorhersagen für die Zukunft vor.
    In die Risikobewertung gehen ein
    der jeweils verfügbare aktuelle Kenntnisstand zur internationalen Situation,
    der IST-Zustand der epidemiologischen Lage in Deutschland,
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    die Verfügbarkeit von Schutz- und Behandlungsmaßnahmen
    Bei der Risikobewertung handelt es sich um eine deskriptive, qualitative Beschreibung. Denn für die verwendeten Begriffe “gering“, „mäßig“, „hoch“ oder „sehr hoch“ liegen keine quantitativen Werte für Eintrittswahrscheinlichkeit oder Schadensausmaß zugrunde. Allerdings werden für die Schwerebeurteilung ( = Schadensausmaß) genutzten drei Kriterien bzw. Indikatoren (Übertragbarkeit, Schwereprofil und Ressourcenbelastung) mit jeweils quantifizierbaren Parametern beurteilt. Entwickelt und erprobt wurde dieser Ansatz zur Beurteilung der Schwere von saisonalen Grippewellen in Deutschland. Dies erlaubt, das COVID-19 Geschehen in Relation zu der Erfahrung mit anderen epidemisch bedeutsamen Lagen setzen zu können (Ref. 1, 2).
    Zu beachten ist, dass die Risikowahrnehmung in der Bevölkerung nicht in die Risikobewertung des RKI einfließt.
    Die besondere Herausforderung besteht darin, dass in einer frühen Phase einer Epidemie die erforderlichen Informationen größtenteils nicht oder noch nicht verlässlich vorhanden sind. Insbesondere in den ersten Wochen sind Daten relevant, die außerhalb Deutschlands erhoben wurden. Zusätzlich werden mehr und mehr Informationen zu bestätigten Fällen in Deutschland in die Risikoeinschätzung einbezogen.
    Aktuell werden u.a. folgende verfügbare Informationen für die Risikoeinschätzung genutzt:
    Übertragbarkeit: Fallzahlen und Trends zu gemeldeten Fällen gemäß Infektionsschutzgesetz in Deutschland und in anderen Ländern (siehe Fallzahlen sowie tägliche Situationsberichte des RKI, Ref. 3, 4)
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    Schwereprofil: Anteil schwerer, klinisch kritischer und tödlicher Krankheitsverläufe in Deutschland und in anderen Ländern (siehe Steckbrief zu COVID-19, Ref. 5).
    Ressourcenbelastung des Gesundheitsversorgungssystems in Deutschland und in anderen Ländern unter Berücksichtigung der jeweils getroffenen Maßnahmen sowie aller prinzipiellen Möglichkeiten der Prävention und Kontrolle (siehe z.B. Ref. 6, 7)
    Bei einer anhaltenden Übertragung in der Bevölkerung in Deutschland werden für die Bewertung zusätzlich zu den Meldedaten gemäß Infektionsschutzgesetz Informationen aus weiteren Surveillancesystemen (Bevölkerungsbasierte Surveillance mit GrippeWeb; syndromische und virologische Surveillance der Arbeitsgemeinschaft Influenza, Krankenhaussurveillance (z.B. ICD10-Code basierte KH-Surveillance ICOSARI), laborgestützte Surveillance von Erregernachweisen, z.B. mit ARS und zeitnahe Mortalitätssurveillancesysteme) genutzt. Die Systeme beruhen auf den Daten, die für Deutschland zur Verfügung stehen, sodass Bewertungen im Verlauf differenzierter möglich sind.“
    https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung_Grundlage.html
    Insofern stellt sich die Frage, auf welcher Grundlage das RKI zu der folgenden Risikobewertung kommt:
    „Die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland wird derzeit insgesamt als hoch eingeschätzt, für Risikogruppen als sehr hoch.“
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    Es ist nicht ersichtlich, dass auch nur eine der vorgenannten – aus Sicht des RKI unerlässlichen – Fragen beantwortet worden wäre.
    Es ist auch nicht ersichtlich, welche Daten aus welchen anderen Ländern mit welchem Inhalt angefordert worden sind, um das Risiko einschätzen zu können.
    gg.
    Aktuelle Zahlen
    Die tatsächlich veröffentlichten Zahlen geben nicht das wieder, was in der Öffentlichkeit als Grundlage für Maßnahmen behauptet wird, sondern belegen unter wissenschaftlicher Betrachtung, dass eine über die alljährliche Gefahrensituation in Bezug auf Atemwegserkrankungen hinausgehende Gefährdung gerade nicht vorliegt.
    Im Lagebericht des RKI vom 22. April 2020 werden die folgenden Zahlen veröffentlicht:
    Kalenderwoche 11: 127.457 Testungen davon 5,9% positiv
    Kalenderwoche 12: 348.619 Testungen davon 6,8% positiv
    Kalenderwoche 13: 361.374 Testungen davon 8,7% positiv
    Kalenderwoche 14: 408.173 Testungen davon 9,0% positiv
    Kalenderwoche 15: 378.881 Testungen davon 8,1% positiv
    Kalenderwoche 16: 323.449 Testungen davon 6,7 % positiv
    Eine Steigerung von Erkrankten hat sich maximal von 5,9% der Getesteten auf 9,0% der getesteten Personen ergeben und ist bereits wieder auf 6,7% abgesunken.
    Das RKI führt sodann weiter aus:
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    “Seit Beginn der Testungen in Deutschland bis einschließlich Kalenderwoche (KW) 15/2020 wurden bisher 1.728.357 Labortests erfasst, davon wurden 132.766 positiv auf SARS-CoV-2 getestet.”
    https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2020/Ausgaben/16_20.pdf?__blob=publicationFile,
    Eine Labordiagnose wird nur erhoben, wenn entweder
    ein spezifisches klinisches Bild eines COVID-19, definiert als:
  • Lungenentzündung (Pneumonie)
    oder
    ein unspezifisches klinisches Bild eines COVID-19, definiert als mindestens eines der beiden folgenden Kriterien:
  • akute respiratorische Symptome jeder Schwere
  • krankheitsbedingter Tod
    vorgefunden wird.
    https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Falldefinition.pdf?__blob=publicationFile
    Das bedeutet, dass seit der 11. Kalenderwoche – also zwischen dem 9. März und dem 12. April – mindestens 1.728.357 Menschen in Deutschland einen Arzt wegen akuter respiratorischer Symptome aufgesucht haben. Also ca. 49.400 Menschen am Tag. Davon waren etwa 1.600.00 Menschen nicht mit dem SARS-CoV-2 infiziert, sondern hatten andere klinische Befunde von Atemwegserkrankungen, die den jeweiligen behandelnden Arzt dazu veranlasst haben, eine Testung auf Sars-CoV-2 durchzuführen.
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    Infiziert mit dem SARS-CoV-2-Virus waren mithin deutschlandweit maximal 9 Prozent der getesteten Personen. Getestete Personen waren diejenigen, die ein klinisches Bild aufgewiesen haben (einen Arzt konsultiert haben). Bei Steigerungsraten von 3,1 Prozent und Abfall um inzwischen 2,3 Prozent innerhalb von 6 Wochen liegen mithin keinerlei Anhaltspunkte für eine erhöhte Übertragbarkeit vor. Die Zahlen des RKI belegen eher das Gegenteil.
    Mithin müsste der Verordnungsgeber Nachweise präsentieren, die auf andere Zahlen schließen ließen.
    Insbesondere müsste der Verordnungsgeber Zahlen vorlegen, die zum einen einen Vergleich mit dem Verlauf grippeähnlicher Erkrankungen aus den Vorjahren zulässt, um zu sehen, ob der bisherige Jahresverlauf den Erwartungen entspricht oder davon abweicht.
    Der Verordnungsgeber müsste weiterhin Daten vorlegen, aus denen sich ergibt, bei welcher Anzahl von den Personen, bei denen Sars-CoV-2 labordiagnostisch nachgewiesen wurde zeitgleich noch weitere behandlungsbedürftige Erkrankungen vorliegen und deren Art und Schwere.
    Zudem müsste der Verordnungsgeber vortragen, welche Maßnahmen in Bezug auf die übrigen 1,6 Millionen (!) mit akutem Atemwegssyndrom erkrankten Personen vorgenommen worden sind; wieviel von diesen Personen hospitalisiert worden sind und ggf. eine intensivmedizinische Behandlung oder Beatmung benötigen.
    hh.
    Konkrete Zahlen für das Land Rheinland-Pfalz
    Maßnahmen dürfen durch den Verordnungsgeber auch nicht in Bezug auf Zahlen in Hinblick auf eine konkrete Gefährdungslage in der
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    Bundesrepublik Deutschland erhoben werden, sondern es muss eine konkrete Gefährdungslage im Bundesland ersichtlich sein.
    Der Verordnungsgeber ist mithin aufgefordert, mitzuteilen, welche Daten erhoben worden sind, wie diese Daten validiert bzw. falsifiziert worden sind. Und wir diese Daten auf das Gebiet des Bundeslandes projiziert worden sind.
    Der Verordnungsgeber ist aufgefordert, mitzuteilen, mit welchen Modellen er wann gerechnet hat, welche Zahlen er diesen Modellen zugrunde gelegt hat und zu welchen Ergebnissen er gekommen ist.
    Ein exponentielles Wachstum – hierzu weiter unten – war zu keinem Zeitpunkt (weder vor den getroffenen Maßnahmen, noch seit Bestehen der Maßnahmen) gegeben und ist auch aktuell nicht ersichtlich. Sowohl die reinen Rohdaten in Bezug auf die Fallzahlen, als auch die reinen Rohdaten in Bezug auf die Todesfälle (im Covid-19-Zusammenhang nicht wegen Covid-19), lassen einen Grund für die Maßnahmen nicht erkennen.
    Insbesondere hat der Verordnungsgeber weiterhin darzulegen, wie er typische Berechnungsfehler ausgeschlossen hat.
    ii.
    Auswertung der Daten – Datenethik und Datenkompetenz
    Um die Daten für Prognosen auszuwerten, sind wissenschaftliche Maßstäbe an die Datenkompetenz derjenigen, die daraus Maßnahmen ableiten, anzulegen.
    Die Unterzeichnenden machen sich insoweit die Argumentation aus dem Artikel „Covid-19 und der Blindflug“ von RiskNET® zu eigen. RiskNET® ist der führende unabhängige deutschsprachige
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    Kompetenzzentrum und Wissenspool rund um den Themenkomplex Risikomanagement und Compliance:
    „Zu einem seriösen Umgang mit Unsicherheit gehören auch die Themen Datenethik und Datenkompetenz (Data Literacy). Hierzu zählt die Fähigkeit, Daten auf kritische Art und Weise zu sammeln, zu managen, zu bewerten und anzuwenden. Dieses Thema scheint aktuell bei der Risikobewertung der Covid-19-Krise bestenfalls eine untergeordnete Rolle zu spielen. So hat in der Zwischenzeit der Präsident des Robert-Koch-Instituts (RKI) bestätigt, dass testpositive Verstorbene unabhängig von der wirklichen (und kausalen) Todesursache als “Corona-Todesfälle” gezählt werden (“Bei uns gilt als Corona-Todesfall jemand, bei dem eine Coronavirus-Infektion nachgewiesen wurde”). D.h. auch Menschen, die mit Corona (und nicht an Corona) verstorben sind, werden in der Statistik aufgeführt. Hiermit wird nicht nur gegen ein Grundgebot der Infektiologie verstoßen, sondern auch gegen datenethische Grundsätze. Die Daten aus Italien zeigen, dass über 99% der Verstorbenen eine oder mehrere chronische Vorerkrankungen aufwiesen. Daher sollten auch die italienischen Daten kritisch hinterfragt werden und die reinen Rohdaten-Statistiken als Blaupause für Maßnahmen Anwendung finden.
    Die seitens des Verordnungsgebers definierten Maßnahmen basieren nicht auf einer ausreichenden Datengrundlage. Datenkompetenz und Datenethik kommen zu kurz. Diese Unsicherheit bei der Datengrundlage könnte recht einfach mit Hilfe repräsentativer Stichproben beseitigt werden – ein Ansatz, den jeder Risikomanager und Qualitätsmanager in der Praxis anwendet. Wenn ein seriös arbeitender Risiko- oder Qualitätsmanager keine Daten zur Verfügung hat, so generiert er die Daten mit Hilfe einer repräsentativen Stichprobe. Keinesfalls definiert er Maßnahmen basierend auf dem Leitprinzip “… wird
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    schon irgendwie passen!”. So fordern beispielsweise auch der Präsident des Weltärzteverbandes, Frank Montgomery sowie David L. Katz (Yale-Griffin Prevention Research Center) und viele weitere renommierte Wissenschaftler eine möglichst schnelle Aufhebung der radikalen Maßnahmen, da man hierüber im Ergebnis neue und möglicherweise noch viel größere Risiken produziere. Diese würden am Ende mehr Menschen töten als das Virus selbst. Ziel muss es sein, die Risikogruppen zu schützen. Ähnlich argumentiert auch Julian Nida-Rümelin, Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München, aus der Perspektive der Risikoethik.
    Daten als eine Schlüsselressource für staatliches Handeln
    Im November 2019 hat die Bundesregierung ein Eckpunktepapier zur geplanten Datenstrategie vorgelegt. Es beginnt mit den Worten: “Im digitalen Zeitalter sind Daten eine Schlüsselressource für gesellschaftlichen Wohlstand und Teilhabe, für eine prosperierende Wirtschaft und den Schutz von Umwelt und Klima, für den wissenschaftlichen Fortschritt und für staatliches Handeln. Die Fähigkeit, Daten verantwortungsvoll und selbstbestimmt zu nutzen, zu verknüpfen und auszuwerten, ist gleichermaßen Grundlage für technologische Innovation, für das Generieren von Wissen und für den gesellschaftlichen Zusammenhalt.”. Als zentrale Handlungsfelder werden die verantwortungsvolle Datennutzung und die Erhöhung der Datenkompetenz gefordert.
    Das Hochschulforum Digitalisierung, ein vom BMBF geförderter Thinktank des Stifterverbands der Wissenschaften, hat bereits im August 2019 mit dem “Data Literacy Framework” einen umfassenden Kompetenzrahmen für Data Literacy vorgelegt, der in singulärer Weise die Ebene der Datenkultur und die Dimension der Datenethik nicht nur thematisiert, sondern
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    konkrete Beispiele für deren Anwendung liefert. Insbesondere ist die Notwendigkeit der Einbeziehung verschiedenster Perspektiven (Fachexperte, Datenexperte, Datenschützer, Datenethiker) herausgearbeitet.
    Dass die Debatte und Entscheidungsfindung in der Corona-Krise weitgehend ohne die Beteiligung von Statistikern, Epidemiologen, Datenschützern und Datenethikern abläuft, ist vor diesem Hintergrund schwer nachzuvollziehen. Verzerrte Daten, deren Qualität kaum zur Entscheidungsfindung taugen, werden in hoch komplexen Modellen analysiert, als enthielten sie die dringend benötigten Informationen zur Gewinnung von Handlungswissen. Die negativen Konsequenzen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und Wohlstand sind nicht ausreichend durchdacht. Der politische Umgang mit der Corona-Krise in Deutschland ist bislang kein Lehrstück für verantwortungsvolle Datennutzung und Datenkompetenz.
    Politische Maßnahmen sind wenig bis gar nicht evidenzbasiert
    Viele der beschlossenen politischen Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie sind wenig bis gar nicht evidenzbasiert und durch Fakten begründet. Sinnhaftigkeit und Ratio werden nur unzureichend und vor allem nicht kritisch hinterfragt. Nicht alle Wissenschaftler weisen darauf hin, dass die Transparenz und Qualität der Daten aktuell sehr eingeschränkt ist. Fakt ist jedoch, dass die wissenschaftliche Evidenz mit gering eingestuft werden muss, da beispielsweise keine repräsentativen Stichproben durchgeführt wurden. Dies führt dazu, dass politisch beschlossene Maßnahmen auf keinem soliden Datenfundament basieren, sondern eher einem Blindflug gleichen.
    Was wir wissen und was wir nicht wissen!
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    Basierend auf Studien der Weltgesundheitsorganisation WHO infizieren sich jährlich rund 15 Prozent der Weltbevölkerung mit einem der umlaufenden Influenzastämme. D.h. jedes Jahr infizieren sich ungefähr eine Milliarde Menschen an einem der saisonalen Influenzaviren.
    Von diesen infizierten Menschen sterben jedes Jahr zwischen 290 000 bis 650 000 Personen kausal verursacht durch Influenza.
    Influenzaviren mutieren häufig. Das ist der Grund dafür, dass sie mal mehr, mal weniger aggressiv sind.
    Daher schwankt auch die Zahl der Todesfälle sehr stark. Während der sehr heftigen Influenza-Saison im Winter 2017/2018 starben in Deutschland nach Schätzungen des Robert-Koch-Instituts (RKI) 25.000 Menschen an der Grippe. Aktuelle Analysen präsentieren bei Covid-19 eine geringe Infektiosität mit einem Ansteckungsrisiko unterhalb der Grippe (Influenza A/B). Die von Virologen geschätzte (finale) Letalität liegt mit 0,3-0,7 Prozent (case fatality rate, CFR) nur gering über der Influenza und weit unter der Pandemie von SARS-1 aus dem Jahr 2002/2003, die damals weltweit bei 9,6 Prozent lag. Siehe hierzu ergänzend die aktuelle Studie von Roussel et al. (2020): SARS-CoV-2: Fear Versus Data. Verwiesen sei auch auf die Studie “Covid-19 — Navigating the Uncharted” von Anthony S. Fauci, M.D., H. Clifford Lane, M.D., and Robert R. Redfield, M.D. [veröffentlicht im “The New England Journal of Medicine”]. Der italienische Virologe Giulio Tarro bestätigt, dass die Mortalität von Covid-19 auch in Italien bei unter 1 Prozent liege und damit vergleichbar mit der Grippe sei. Die höheren Werte ergeben sich nur, weil nicht zwischen Todesfällen mit und durch Covid19 unterschieden werde, und weil die Anzahl der (symptomfreien) Infizierten stark unterschätzt werde.
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    Auch Carsten Scheller, Professor für Virologie an der Universität Würzburg, beklagt die schlechte Datenlage und setzt sich mit Schätzungen auseinander, die im ZDF Harald Lesch aufgestellt hatte, und die einen Kollaps der Kliniken vorausgesagt hatten. Die in Veröffentlichungen häufig dargestellten Exponentialfunktion hat aus seiner Sicht eher mit der zunehmenden Anzahl an Tests zu tun, als mit einer ungewöhnlichen Ausbreitung des Virus selbst.
    Bei der Diskussion um Covid-19 gibt es zahlreiche Unbekannte, etwa wie lange es dauert, bis eine infizierte Person für andere ansteckend wird, wie lange die Ansteckung dauert, wie hoch die Sterblichkeitsrate ist und ob und wie lange Menschen infiziert sind, bevor Symptome auftreten. Von vielen “Experten” werden diese unbekannten Parameter in der Risikokommunikation als sicherer Wissen verwendet.
    Basierend auf Daten der italienischen Nationalen Gesundheitsinstituts ISS liege das Durchschnittsalter der positiv auf Covid-19 getesteten Verstorbenen in Italien derzeit bei rund 81 Jahren. Die Zahlen aus anderen Ländern, beispielsweise Deutschland und der Schweiz, bestätigen diese Fakten.
    80 Prozent der Verstorbenen hatten zwei oder mehr chronische Vorerkrankungen (beispielsweise koronare Herzerkrankung, Vorerkrankung der Lunge, chronische Lebererkrankung, Diabetes mellitus, Krebserkrankung, unterdrücktes oder schwaches Immunsystem).
    Die Sterblichkeit ist unbekannt, da aufgrund des schlechten Datenlage eine präzise Schätzung nahezu unmöglich ist. Insbesondere wurde ein großer Teil der infizierten Personen bisher nicht ermittelt.
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    Die Zahlen aus Italien unterscheiden nicht trennscharf, ob die Personen an Covid-19 starben oder an ihren chronischen Vorerkrankungen oder an einer Kombination davon (oder auch einem Krankenhauskeim o.ä. Ursachen). Dies führt zu einer Überschätzung der Todesrate. Hiermit wird nicht nur gegen ein Grundgebot der Infektiologie verstoßen, sondern auch gegen datenethische Grundsätze.
    So ruft beispielsweise die Mailänder Mikrobiologin Maria Rita Gismondo die italienische Regierung auf, die tägliche Anzahl der “Corona-Positiven” nicht mehr zu kommunizieren, da diese Zahlen “gefälscht” seien und die Bevölkerung in eine unnötige Panik versetzen würde.
    Auch außerhalb Italiens wird in vielen Covid-19-Statistiken die kausale Ursache nicht korrekt erfasst. Auch Patienten, die mit Covid-19 an einer schwerer Krankheit verstorben sind, fließen in die Statistik mit den Covid-19-Todesfällen ein.
    Bei weniger als 1 Prozent der Verstorbenen handelt es sich um Personen ohne chronische Vorerkrankungen.
    Die Aussagen in den Medien, dass auch jüngere Personen an Covid-19 verstorben sind, basieren häufig auf unsauberen Recherchen. In fast allen Fällen lagen schwere Vorerkrankungen (bspw. Krebs) vor, die teilweise erst bei der Analyse festgestellt wurden.
    Die weltweit verwendeten Viren-Tests, die auf der sogenannten Polymerasekettenreaktion (Polymerase Chain Reaction, PCR) basieren, gelten insgesamt als sehr zuverlässig. Trotzdem schließt ein negativer Test eine Infektion mit dem Coronavirus nicht vollständig aus, da bspw. Proben falsch oder zu einem
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    falschen Zeitpunkt entnommen oder wenn die Proben falsch transportiert wurden. Das ist ein Grund, warum mutmaßlich infizierte Patienten mehrfach getestet werden.
    In einigen Fällen wird ein falsches positives Resultat geliefert, d.h. die getesteten Personen wären in diesen Fällen nicht am neuen Coronavirus erkrankt, sondern womöglich an einem der bisherigen Coronaviren, die Teil der jährlichen Erkältungs- und Grippewelle sind. Der Test basiert darauf, dass jedes Virus Erbgut in Form von RNA bzw. DNA hat, wie der Mensch. Daher sollten auch diese Zahlen seriös interpretiert werden.
    Für die Beurteilung der angemessenen Maßnahmen sind die Parameter Reproduktionsfaktor, Ansteckungsdauer und Immunität wichtig. Im Falle von Covid-19 liegen hierüber keine gesicherten Informationen vor. Alle Experten arbeiten mit einer unsicheren Datenlage (und sollten dies auch kommunizieren).
    Für die gesunde Allgemeinbevölkerung ist nach allen bisherigen Erkenntnissen bei Covid-19 mit einem milden bis moderaten Szenarioverlauf zu rechnen.
    Aktuelle Studien an Makaken und auch menschlichen Patienten zeigen, dass vom Körper produzierte Antikörper eine Immunität gegenüber Covid-19 aufbauen. Die Mehrzahl der Wissenschaftler sprechen von einigen Monaten bis wenigen Jahren.
    Die aktuelle Gesamtmortalität in Europa – und auch in Italien – liegt weiterhin im Normalbereich und in vielen Ländern (bspw. D) sogar darunter.
    Die Übersterblichkeit, d.h. die Anzahl der unerwartet (!) an einer Lungenentzündung Erkrankten oder Verstorbenen ist in fast allen Ländern aktuell sehr niedrig.
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    Eine wissenschaftliche, datenbasierte und epidemiologische Studie zeigt auf: “We also found that most recent crude infection fatality ratio (IFR) and time-delay adjusted IFR is estimated to be 0.04% (95% CrI: 0.03-0.06%)
    and 0.12% (95%CrI: 0.08-0.17%), which is several orders of magnitude smaller than the crude CFR estimated at 4.19%.”
    Chinesische Wissenschaftler zeigen auf, dass extremer Wintersmog in der Stadt Wuhan eine wesentliche Ursache beim Ausbruch der Lungenentzündungen darstellt. Auch in Norditalien war die Luftverschmutzung in den vergangenen Monaten sehr hoch.“
    https://www.risknet.de/themen/risknews/covid-19-und-der-blindflug/
    In diesem Zusammenhang machen sich die Unterzeichnenden noch das Folgende Thesenpapier – auf das auch zu einem späteren Zeitpunkt nochmal zurückgegriffen werden darf – von Prof. Dr. med. Matthias Schrappe, Universität Köln, ehem. Stellv. Vorsitzender des Sachverständigenrates Gesundheit, Hedwig François-Kettner, Pflegemanagerin und Beraterin, ehem. Vorsitzende des Aktionsbündnis Patientensicherheit, Berlin, Dr. med. Matthias Gruhl, Arzt für Öffentliches Gesundheitswesen Hamburg/Bremen, Franz Knieps, Jurist und Vorstand eines Krankenkassenverbands, Berlin, Prof. Dr. phil. Holger Pfaff ,Universität Köln, Zentrum für Versorgungsforschung, ehem. Vorsitzender des Expertenbeirats des Innovationsfonds, Prof. Dr. rer.nat. Gerd Glaeske Universität Bremen, SOCIUM Public Health, ehem. Mitglied im Sachverständigenrat Gesundheit zu eigen:
    „Die Bedrohung durch SARS-CoV-2/Covid-19 macht ein Zusammenwirken von Politik und Wissenschaft notwendig. Eine
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    sinnvolle Beratung der politischen Entscheidungsträger muss mehrere wissenschaftliche Fachdisziplinen umfassen, wobei die diagnostischen Fächer (hier: Virologie), die klinischen Fächer (hier: Infektiologie, Intensivmedizin) und die Pflege ganz im Vordergrund stehen sollten. Da eine Epidemie jedoch nie allein ein medizinisch-pflegerisches Problem darstellt, sondern immer auf die aktuelle Verfasstheit der gesamten Gesellschaft einwirkt und auch nur im Rahmen einer gesamtgesellschaftlichen Anstrengung zu bewältigen ist, erscheint zusätzlich eine Mitwirkung von Vertretern der Sozialwissenschaften, Public Health, Ethik, Ökonomie,
    Rechtswissenschaft und Politikwissenschaft unverzichtbar. Entscheidend ist hierbei die Einsicht, dass notwendige Verhaltensveränderungen auf Ebene der Bevölkerung und in den Institutionen (denen bei Covid-19 besondere Bedeutung zukommt) nie allein durch eindimensionale Einzelinterventionen (z.B. gesetzliche Vorschriften), sondern nur durch Mehrfach- bzw. Mehrebeneninterventionen erreicht werden können, zu denen eben auch psychologische, soziale, ökonomische und politische Maßnahmen zählen. Im Einzelnen nimmt dieses Thesenpapier zu den drei Themenbereichen Epidemiologie, Prävention und gesellschaftspolitische Relevanz Stellung:
  1. Epidemiologie
    SARS-CoV-2/Covid-19 wird durch Tröpfchen-Infektion übertragen. Eine Infektion durch asymptomatische Virusträger ist möglich und epidemiologisch höchst relevant. Das epidemiologische Muster ist durch Risikogruppen (hohes Alter, Multimorbidität), die nosokomiale Übertragung im institutionellen Rahmen (Pflegeheime, Betreuungseinrichtungen, Krankenhäuser) und das spontane Auftreten von Clustern charakterisiert. Zur Diagnose dient der Nachweis von genetischem Material durch die PCR-Reaktion, welche jedoch nicht zwangsläufig eine gegebene Infektiosität bedeutet.
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    Durch die mangelnde Verfügbarkeit wird das Testverfahren meist nur bei Symptomen oder gegebenem Kontakt zu Infizierten durchgeführt, populationsbezogene Daten sind daher kaum vorhanden.
    These 1: Die zur Verfügung stehenden epidemiologischen Daten (gemeldete Infektionen, Letalität) sind nicht hinreichend, die Ausbreitung und das Ausbreitungsmuster der SARS-CoV-2/Covid-19-Pandemie zu beschreiben, und können daher nur eingeschränkt zur Absicherung weitreichender Entscheidungen dienen.
    These 1.1. Die Zahl der gemeldeten Infektionen hat nur eine geringe Aussagekraft, da kein populationsbezogener Ansatz gewählt wurde, die Messung auf einen zurückliegenden Zeitpunkt verweist und eine hohe Rate nicht getesteter (v.a. asymptomatischer) Infizierter anzunehmen ist.
  2. Die Zahl der täglich beim RKI gemeldeten Fälle wird in hohem Maße durch die Testverfügbarkeit und Anwendungshäufigkeit beeinflusst.
  3. Unter Berücksichtigung dieser anlassbezogenen Teststrategie ist es nicht sinnvoll, von einer sog. Verdopplungszeit zu sprechen und von dieser Maßzahl politische Entscheidungen abhängig zu machen.
  4. Die Darstellung in exponentiell ansteigenden Kurven der kumulativen Häufigkeit führt zu einer überzeichneten Wahrnehmung, sie sollte um die Gesamtzahl der asymptomatischen Träger und Genesenen korrigiert werden.
  5. Die Zahl der gemeldeten Fälle an Tag X stellt keine Aussage über die Situation an diesem Tag dar, sondern bezieht sich auf einen Zeitpunkt in der Vergangenheit.
  6. Ungefähr zwei Drittel der Infizierten werden zu diesem Zeitpunkt nicht erfasst.
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  7. Überlegungen zu populationsbezogenen Stichproben (Nationale Kohorte) müssen intensiviert werden.
    These 1.2. Die Zahlen zur Sterblichkeit (Case Fatality Rate) überschätzen derzeit das Problem und können nicht valide interpretiert werden.
  8. Mangelnde Abgrenzung der Grundgesamtheit: es ist derzeit nicht bekannt, auf wie viel infizierte Personen die Zahl der gestorbenen Patienten zu beziehen ist;
  9. Fehlende Berücksichtigung der attributable mortality: es ist nicht klar, inwieweit die beobachtete Letalität tatsächlich auf die Infektion mit SARS-CoV-2 zurückzuführen und nicht durch die Komorbidität oder den natürlichen Verlauf zu erklären ist;
  10. Fehlender Periodenvergleich über mehrere Jahre in gleichen Patientenkollektiven vergleichbarer Morbidität: es gibt keine Erkenntnisse über die excess-mortality im Vergleich zu einer Alters-, Komorbiditäts- und Jahreszeit-gematchten Population in den zurückliegenden Jahren.
    These 1.3. SARS-CoV-2 kann als nosokomiale Infektion in Krankenhäusern und Pflegebzw. Betreuungseinrichtungen auf andere Patienten und Mitarbeiter übertragen werden. Dieser Ausbreitungstyp stellt mittlerweile den dominierenden Verbreitungsmodus dar. Der Aufenthalt in Risikogebieten und der individuelle Kontakt wird an Bedeutung abnehmen.
    These 1.4. Covid-19 ist durch ein lokales Herdgeschehen (Cluster) mit nicht vorhersehbarem Muster des Auftretens gekennzeichnet. SARS-CoV-2/Covid-19 stellt keine homogene, eine ganze Bevölkerung einheitlich betreffende Epidemie dar, sondern breitet sich inhomogen über lokal begrenzte Cluster (z.B. Heinsberg, Würzburg, Wolfsburg) aus, die in Lokalisierung und Ausdehnung nicht vorhersehbar sind (komplexes System).
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  11. Präventionsstrategien
    These 2: Die allgemeinen Präventionsmaßnahmen (z.B. social distancing) sind theoretisch schlecht abgesichert, ihre Wirksamkeit ist beschränkt und zudem paradox (je wirksamer, desto größer ist die Gefahr einer „zweiten Welle“) und sie sind hinsichtlich ihrer Kollateralschäden nicht effizient. Analog zu anderen Epidemien (z.B. HIV) müssen sie daher ergänzt und allmählich ersetzt werden durch Zielgruppen-orientierte Maßnahmen, die sich auf die vier Risikogruppen hohes Alter, Multimorbidität, institutioneller Kontakt und Zugehörigkeit zu einem lokalen Cluster beziehen.
    Diese vier Risikofaktoren sind voneinander abhängig: während betagte Personen ohne Multimorbidität kaum ein erhöhtes Risiko haben, steigt ihr Risiko mit zunehmender Multimorbidität rapide an, erhöht sich weiter bei Kontakt zu Krankenversorgungsund/oder Pflegeeinrichtungen und „explodiert“ geradezu bei Auftreten spontan entstehender lokaler Herde. Für die Fortentwicklung der Präventionsstrategien sind u.a. folgende Empfehlungen zu geben:
  • Ergänzung der allgemeinen Präventionsmaßnahmen (Eindämmung, containment) durch spezifische Präventionskonzepte,
  • Entwicklung eines einfachen Risikoscores auf der Basis der o.g. vier Risikokonstellationen, das auf Einzelpersonen und Personengruppen anwendbar ist,
  • Trennung der Betreuungs- und Behandlungsprozesse der Infizierten bzw. NichtInfizierten im institutionellen Rahmen (Entwicklung von Vorgaben), und
  • zentrale Etablierung einer Hochrisiko-Task Force, die auf spontan entstehende Herde (Cluster) reagieren kann.
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  1. Gesellschaftliche Aspekte
    These 3: Entstehung und Bekämpfung einer Pandemie sind in gesellschaftliche Prozesse eingebettet. Die derzeitig angewandte allgemeine Präventionsstrategie (partieller shutdown) kann anfangs in einer unübersichtlichen Situation das richtige Mittel gewesen sein, birgt aber die Gefahr, die soziale Ungleichheit und andere Konflikte zu verstärken. Es besteht weiterhin das Risiko eines Konfliktes mit den normativen und juristischen Grundlagen der Gesellschaft. Demokratische Grundsätze und Bürgerrechte dürfen nicht gegen Gesundheit ausgespielt werden. Die Einbeziehung von Experten aus Wissenschaft und Praxis muss in einer Breite erfolgen, die einer solchen Entwicklung entgegenwirkt.
    Obwohl Solidarität und Verbundenheit eingefordert wird, ist davon auszugehen, dass die SARS-CoV-2/Covid-19-Pandemie und die bisherigen allgemeinen Präventionsmaßnahmen auf gesellschaftliche Prozesse einwirken und bestehende Konfliktlinien vertiefen. In erster Linie trifft dies auf die Problematik der sozialen Ungleichheit zu, denn allein die Bevölkerungs-bezogenen Maßnahmen treffen Personen mit niedrigem Einkommen und Selbstständige deutlich stärker als Personen mit größerem finanziellen Spielraum. In zweiter Linie wird die derzeitige Legitimationskrise des demokratischen Systems verschärft, denn erneut wird die Alternativlosigkeit des exekutiven Handelns dem demokratischen Diskurs gegenübergestellt (z.B. Reduktion der parlamentarischen Kontrolle). Die beiden letztgenannten Punkte werden verstärkt durch – drittens – ökonomische Risiken, die mit dem Fortbestehen und den eventuellen Verschärfungen in der Einschränkung von Freizügigkeit und Berufsausübung verbunden sind. Viertens besteht die Gefahr, dass unter Verweis
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    auf den unaufschiebbaren Handlungsbedarf autoritäre Elemente des Staatsverständnisses aus Ländern mit totalitären Gesellschaftssystemen in das deutsche Staats- und Rechtssystem
    übernommen werden (z.B. individuelle Handyortung). Es muss klargestellt werden und klargestellt bleiben, dass es keinen trade-off zwischen der demokratischen Verfasstheit und den Bürgerrechten auf der einen Seite und den Anforderungen der Seuchenbekämpfung auf der anderen Seite geben darf. Insbesondere dürfen die normativen Grundlagen des Rechtsstaates nicht relativiert werden.“
    http://www.matthias.schrappe.com/einzel/thesenpapier_corona.pdf
    Ergänzend wird auf den als Anlage diesem Schriftsatz beigefügte Beitrag von Christof Kuhbander vom 25. April 2020 verwiesen.
    jj.
    Zwischenfazit
    Aktuell ist ein legitimer Zweck für die im Rahmen der hier angegriffenen Verordnung getroffenen Maßnahmen nicht erkennbar.
    Ob mithin die Maßnahmen einen legitimen Zweck verfolgen, lässt sich erst dann mit Sicherheit sagen, wenn die Tatsachen bekannt sind, auf deren Grundlage der Verordnungsgeber von einer übertragbaren Krankheit mit einem gewissen Schweregrad ausgegangen ist.
    Hierzu sind nach dem Vorgenannten die Fragen des RKI aus dem Pandemieplan zu beantworten. Respektive die Ermittlungsergebnisse zu den Fragen, die als Grundlage für die Verordnung galten mitzuteilen. Dieses müsste dem Verordnungsgeber – da sie ja zwingend Grundlage der Maßnahmeentscheidung war – innerhalb eines Tages möglich sein.
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    Die Auskünfte, die der Verordnungsgeber in Bezug auf das Land Rheinlad-Pfalz mithin erteilen müsste, sind:
    Wie ändert sich der Anteil der infizierten (oder erkrankten) Personen in der Bevölkerung im Bereich des Verordnungsgebers von einer Zeiteinheit zur nächsten absolut und im Verhältnis zu den getesteten Personen?
    Wie schnell steigt die Fallzahl an (Unter Beachtung der Anzahl der getesteten Personen im Gebiet des Verordnungsgebers)?
    Wie hoch ist der Anteil der Bevölkerung, der kreuzreagierende Antikörper und damit gegebenenfalls einen gewissen Schutz gegen das pandemische Coronavirus aufweist?
    Wie hoch ist die Krankheitslast auf Bevölkerungsebene, in der Primärversorgung, auf Krankenhausebene und wie hoch ist die Anzahl der Todesfälle? Wobei zu unterscheiden ist zwischen Todesfällen „an“ und „Todesfällen“ mit SARS-CoV-2-Viren.
    Wie hoch ist der Anteil von COVID-19-Erkrankungen mit schwerem Krankheitsverlauf? Welche Risikofaktoren führen dazu, dass Personen schwer erkranken (z.B. Altersgruppen, Vorerkrankungen)? Sind antivirale Arzneimittel und Impfstoffe wirksam?
    Wie hoch ist der Anteil der Infizierten, die keine Symptome zeigen?
    Wie hoch ist der Anteil der Personen mit ARE in Arztpraxen? Wie hoch ist der Anteil von COVID-19-Patient*innen bezogen auf die Anzahl von Krankenhausbetten, medizinischem Personal, intensivmedizinischen Betten- und Beatmungsplätzen?
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    Die Beantwortung dieser Fragen ist zwingende Voraussetzung dafür, dass der Verordnungsgeber eine Einschätzung der Lage überhaupt vornehmen konnte, um entscheiden zu können, ob und welche Maßnahmen überhaupt einen legitimen Zweck verfolgen.
    Soweit mithin der Verordnungsgeber darlegungsbelastet ist, dass aufgrund seiner Ermittlungen Maßnahmen erforderlich sind, gibt es – wie zuvor dargelegt – bisher für das Gebiet von Rheinland-Pfalz keine belastbaren Daten, die überhaupt die Zweckmäßigkeit einer Verordnung rechtfertigen würden. Aus diesem Grund ist die Verordnung rechtswidrig und für wirkungslos zu erklären.
    Die Oberverwaltungsgerichte haben im Rahmen der bisherigen Verordnungen dazu tendiert, eine pauschale Abwägung zwischen dem Grundrecht auf Schutz von Leib und Leben und den Freiheitsgrundrechten vorzunehmen und das Schutzrecht von Leib und Leben generell als höher eingestuft.
    Eine solche pauschale Betrachtungsweise ist allerdings nicht zweckmäßig. Denn um eine solche Abwägung vorzunehmen, muss zwingend zunächst einmal – jedenfalls plausibel – erklärt werden können, welche Gefahr Leib und Leben überhaupt droht. Hierzu sind die vorgenannten Zahlenermittlungsmodelle ermittelt worden, deren Anwendung jedenfalls vom Verordnungsgeber behauptet werden müsste und von der Kammer auf Plausibilität überprüft werden müsste. Anderenfalls gäbe es keinen effektiven Rechtsschutz gegen Infektionsschutzmaßnahmen. Jede Infektion und jede Erkrankung kann potentiell tödlich verlaufen. Würden nur die Schutzgüter ins Verhältnis gesetzt, könnte aufgrund einer normalen Schnupfenerkrankung (Gefahr für Leib und Leben) eine Kontaktsperre (Einschränkung der Bewegungsfreiheit) angeordnet werden.
    Dass eine solche Maßnahme offensichtlich verfassungswidrig wäre, liegt auf der Hand.
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    Allerdings zeigt dieses Beispiel deutlich, dass die Rechtsprechung Kriterien entwickeln muss, die zwingend eine Plausibilitätsprüfung in Bezug auf befürchtete Krankheitsverläufe vornehmen muss, um nicht die irreversible Verletzung von Freiheits- und anderen Grundrechten aufgrund von Vermutungen oder pauschalen Behauptungen zu ermöglichen. Das stellt die Aufgabe der judikativen Gewalt dar.
    Um mithin effektiven Rechtsschutz überhaupt noch gewährleisten zu können, ist sowohl in Bezug auf die Gefährlichkeit einer übertragbaren Krankheit als auch in Bezug auf die Wirksamkeit von Maßnahmen jedenfalls eine Plausibilitätsprüfung anhand der wissenschaftlich entwickelten Prüfungsmaßstäbe vorzunehmen.
    Die aktuelle Datenlage vermag nach Ansicht der Unterzeichnenden einen legitimen Zweck im Hinblick auf die Eindämmung ein Pandemiegeschehen nicht zu begründen:
    Die ergriffenen Maßnahmen werden vorliegend nach hiesiger Ansicht bereits auf fehlerhafte Annahmen gestützt.
    Im Folgenden wir dargelegt, dass die Maßnahmen vom 23.03.2020-19.04.2020 letztlich keine messbaren Auswirkungen auf das Pandemiegeschehen hatten und dass – glücklicherweise – zu keinem Zeitpunkt ein exponentielles Wachstum zu beobachten war.
    Vorangestellt werden vollständigkeitshalber Ausführungen zu den Defiziten bei der Datenerhebung in den vergangenen Wochen.
    Die (wissenschaftlichen) Erkenntnisse um die COVID-19-Pandemie waren zunächst weltweit bruchstückhaft und von diversen Methodenfehlern gekennzeichnet, worauf im Folgenden noch vertieft eingegangen werden darf. Die Schätzungen zur Sterblichkeit und zum zu erwarteten Bedarf an Intensivbetten beruhen nicht auf
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    wissenschaftlich fundierten Prognosen, weshalb die Erwägungen des Verordnungsgebers fehlgehen und daher keine Grundlage (mehr) für die ergriffenen Maßnahmen darstellen können.
    Vollständigkeitshalber wird darauf hingewiesen, dass der Verordnungsgeber nicht gehindert gewesen ist, dafür Sorge zu tragen, eine valide Datengrundlage zu schaffen. Hinderungsgründe sind jedenfalls nicht ersichtlich.
    Voranzustellen sind zunächst nochmals die Kernfragen, die mithilfe entsprechender Daten beantwortet werden müssen, um sinnvolle Prognosen anstellen und angemessene Maßnahmen ergreifen zu können.
  2. Wie viele Infizierte gibt es in Deutschland?
  3. Wie viele davon sind an COVID-19 erkrankt?
  4. Wie viele kommen täglich dazu?
  5. Wie viele Menschen sterben ursächlich an COVID-19?
    Seit Wochen nähert man sich nicht der Beantwortung der Frage, was jeden Tag deutlicher von renommierten Wissenschaftlerinnen hinterfragt wird. Kritik an der ungenügenden Datenlage, auf die so weitgehende Grundrechtseingriffe, wie die hiesigen gestützt werden, formulierten im Rahmen eines am 05. April 2020 veröffentlichten Thesenpapiers u.a. auch die oben bereits zitierten sechs Gesundheitsexpertinnen (Schrappe et. al.), darunter zwei ehemalige Mitglieder des Sachverständigenrats der Bundesregierung für das Gesundheitswesen
    https://www.tagesschau.de/investigativ/ndr-wdr/corona-experten-thesenpapier-101.html
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    Sie – Schrappe et. al. – postulierten aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse mehrere Thesen, auf die im Einzelnen noch eingegangen wird und die oben benannt wurden.
    Besonderes Augenmerk verdient vor allem aber auch eine einzigartige Studie des Virologen Streek, der zurzeit im deutschen Epizentrum der Pandemie, den Kreis Heinsberg in Nordrhein-Westfalen, die Zahl der Infizierten erhebt und die Infektionswege erforscht, indem z.B. die Wohnungen von Infizierten untersucht werden. Die Untersuchung soll etwa Antworten auf die Fragen liefern, wo die größten Gefahrenherde sind und wie das Virus übertragen wird. Dabei stellte er fest, dass Schmierinfektionen letztlich wohl auszuschließen sind
    https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2020-04/hendrik-streeck-covid-19-heinsberg-symptome-infektionsschutz-massnahmen-studie/komplettansicht
    Die Wichtigkeit dieser Studie, die schon längst hätte seitens der Bundesregierung und des RKI hätte angestoßen werden müssen, betont auch der Statistikprofessor Gerd Bosbach am 03. April 2020:
    „Es ist gut und wichtig, dass das passiert. Aber warum muss Herr Streeck so etwas in Eigeninitiative machen, während man beim RKI weiterhin die Füße stillhält? Herr Streeck hat am Dienstag im ZDF bei Markus Lanz sehr deutlich gesagt, dass ihn die Untätigkeit der in der Corona-Krise federführenden Behörde verwundert.“
    https://www.nachdenkseiten.de/?p=59903
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    So unterschiedlich viele Fragen diskutiert werden, so erstaunlich offenkundig und wissenschaftlich belegt ist doch Folgendes:
    Es gibt keinen einzigen tatsächlichen oder wissenschaftlichen Beleg dafür, dass ohne die angegriffenen Normen das noch vor nunmehr knapp sechs Wochen prognostizierte „Katastrophenszenario“ mit einer solchen Wahrscheinlichkeit zu erwarten wäre, dass die angeordneten Maßnahmen gerechtfertigt wären. Das gilt selbstverständlich gerade in Anbetracht der Notwendigkeit der Relation von Gefahrprognose und potentiellem Schadenseintritt.
    Wäre dies der Fall, hätte der Kläger schon von den vorliegenden Anträgen abgesehen.
    Tatsächlich war das Inkrafttreten der aktuellen Regelungen jedoch der Höhepunkt einer sich immer weiter hochschaukelnden, nur als unseriös zu bezeichnenden Berichterstattung etwa über ein italienisches Gesundheitssystem, das schon 2018 unter einer saisonalen Grippewelle vollständig zusammengebrochen ist (dazu später vertieft).
    Spätestens, nachdem der bayerische Ministerpräsident Markus Söder dann im Alleingang eine Ausgangssperre in Bayern angeordnet und sich damit als „Krisenmanager“ dargestellt hat, waren andere Ministerpräsidentinnen zum Handeln gezwungen. Schließlich hatte man sowohl auf Seiten der Bundes- als auch der Landesregierungen wochenlang versäumt, sich in angemessener Art und Weise auf die ersten Corona-Infektionen in Deutschland vorzubereiten, einen angemessenen Vorrat an Schutzkleidung zu lagern, Erkrankte gezielt zu isolieren etc. und das, obwohl spätestens seit den Berichterstattungen über entsprechende Erkrankungen in China im Januar 2020 die Notwendigkeit staatlichen Handelns offenkundig war. Nunmehr, knapp sechs Wochen später, belegt jedoch der überwältigende Teil der seit dem 23. März 2020 veröffentlichten Studien Seite 136 von 289 zur COVID-19-Pandemie, dass die ursprünglichen Befürchtungen der Virologinnen, schlicht nicht zutreffend sind. Frühere, weniger schockierende Prognosen, etwa zur Ungefährlichkeit des Virus für Kinder, haben sich wiederholt bestätigt.
    Gleichwohl hat der Verordnungsgeber die Geltungsdauer der Verordnung faktisch verlängert, was auch der Anlass der hiesigen Klage ist. Der Staat muss unmittelbar auf Veränderungen in der Entscheidungsgrundlage reagieren, denn die staatlichen Maßnahmen gehen damit ersichtlich – zumindest inzwischen – zu weit und sind unverhältnismäßig.
    An dieser Stelle darf zugegeben werden, dass das Kontaktverbot freilich zu einer Reduzierung der Neuinfektionen führen wird, weil es offenkundig die schwerstmögliche und biologisch banalste Reaktion auf eine Pandemie ist. Es erschüttert jedoch die Grundfeste des Rechtsstaates nachhaltig, wenn die Exekutive wissenschaftliche Erkenntnisse vorsätzlich ignoriert (Helge Braun: „Wir reden jetzt bis zum 20. April nicht über irgendwelche Erleichterungen“). Das kommt verwaltungsprozessual einem Ermessensnichtgebrauch gleich und auf diesem Wege entstandene Entscheidungen sind bekanntlich per se fehlerhaft. So verhält es sich auch in Bezug auf den nunmehr ausgegeben zweiwöchigen Rhythmus für die weiteren Besprechungen zu „Lockerungen“. Zu Recht wies Christian Lindner am 22. April 2020 daraufhin, dass jeden Tag neu geprüft werden müsse, ob die Einschränkungen des Lebens, der Freiheit und der Grundrechte unserer Verfassung verhältnismäßig seien oder ob es nicht mildere Mittel gebe, die Gesundheit zu schützen, die zugleich die Folgewirkungen verringerten.
    https://www.deutschlandfunkkultur.de/fdp-kritik-an-angela-merkel-parteichef-christian-lindner.2950.de.html?dram:article_id=475204
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    Streek kritisierte die Prognosen am 6. April 2020 erneut dahingehend, dass die zugrunde gelegten Annahmen nicht evidenzbasiert seien:
    „Streeck: Zurzeit stützt man sich zu sehr auf Modellrechnungen. Aber diese Modelle stecken voller Annahmen, die niemand getestet hat. Und es muss oft ja nur eine Annahme falsch sein oder eine Sache unberücksichtigt und schon fällt das ganze Modell in sich zusammen.
    ZEIT ONLINE: Haben Sie dafür ein Beispiel?
    Streeck: In den – wirklich guten – Modellstudien des Imperial College über das Fortschreiten der Epidemie nehmen die Autoren zum Beispiel an, dass 50 Prozent der Haushalte, in denen es einen Fall gibt, sich nicht an die freiwillige Quarantäne halten. Woher kommt eine solche Annahme? Ich finde, wir sollten mehr Fakten schaffen.“
    https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2020-04/hendrik-streeck-covid-19-heinsberg-symptome-infektionsschutz-massnahmen-studie
    Deutliche Kritik zur Nachvollziehbar- und Überprüfbarkeit der Rechtmäßigkeit der Maßnahmen formulierte auch der Rechtswissenschaftler Holger Spamann am 4. April 2020 (Hervorhebungen durch die Unterzeichnenden):
    „In der Realität beschränkt sich die Kommunikation aber auf Pauschalbehauptungen, die am selben Tag oder sehr bald in Kraft tretende Maßnahme sei notwendig, um der Verbreitung des Virus genügend Einhalt zu gebieten. Auf den Webseiten der Kanzlerin, der Bundesregierung und des Bundesgesundheitsministeriums sucht man vergeblich nach epidemiologischen Prognosen, die dies unterlegen. Selbst auf der
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    Webseite des Robert-Koch-Institutes findet sich nichts. Zu ökonomischen und anderen Folgeabschätzungen wird erst gar nichts gesagt.
    Präzision ist weder möglich noch erforderlich. Aber Wahrscheinlichkeitsabschätzungen oder wenigstens Möglichkeitsanalysen sind für verantwortliches Handeln schlechterdings unabdingbar. Je nach Informationslage kann die gleiche Maßnahme angemessen, unzureichend, oder übertrieben sein. Notgedrungen suchen wir Bürger uns nun selbst im Internet epidemiologische und andere Prognosen von oft zweifelhafter Qualität, aber diese sind rar und, so darf man vermuten, schlechter als die der Regierung vorliegenden, da die Regierung sich —hoffentlich!— der Dienste der besten Epidemiologen und anderen Experten versichert hat. Auf manche wichtigen Fakten hat ohnehin nur die Regierung Zugriff, wie zum Beispiel die Versorgungslage mit Atemmasken, und überhaupt wird selbst die Relevanz von vielen Variablen nur Experten des Katastrophenschutzes bekannt sein. Ohne Transparenz kann der Bürger deshalb nicht beurteilen, ob die Regierung ihrer Aufgabe gerecht wird. Das schließt auch den Fall ein, dass die Regierung keine derartigen Prognosen besitzt: in dem Fall wäre sie offensichtlich inkompetent, auch das müsste der Bürger wissen.“
    https://verfassungsblog.de/beispiellose-freiheitseingriffe-brauchen-beispiellose-transparenz/
    Im Folgenden wird auch dargelegt, warum mit der bisher durchgeführten Art zu Testen die oben aufgeworfenen Fragen nicht beantwortet werden können. Auch dann nicht, wenn man diese Strategie wochenlang oder monatelang fortsetzen würde.
    (1)
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    Lock-down keine Auswirkungen – Reproduktionszahl seit dem 21. März 2020 stabil bei 1
    Nachdem die Politik lange – zu Unrecht, da kein exponentielles Wachstum zu beobachten war und die Verdopplungszeit nur in der exponentiellen Phase einer Epidemie eine Bedeutung zukommt, vgl. ausführlich unten – auf die Verdopplungszeit geschaut hat und Maßnahmen bzw. „Lockerungen“ davon abhängig machen wollte, dass ein gewisser Wert erreicht wird,
    https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/corona-welche-zahlen-fuer-eine-lockerung-sprechen-und-welche-dagegen-a-9f549665-78bd-4218-8894-7dd0dfecd7a8
    ist dieser Faktor nun in den Hintergrund gerückt und stattdessen geht es nunmehr um die Reproduktionszahl.
    Am 16. April 2020 lag die Reproduktionszahl nach Angaben des RKI schätzungsweise bei 0,7., Am 26.April 2020 wurde sie auf 0,9 geschätzt.
    https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/2020-04-16-de.pdf?__blob=publicationFile; https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/2020-04-26-de.pdf?__blob=publicationFile
    Als politisches Ziel galt es, die Reproduktionszahl unter 1 zu drücken.
    https://www.bundeskanzlerin.de/bkin-de/aktuelles/pressekonferenz-von-bundeskanzlerin-merkel-bundesminister-scholz-ministerpraesident-soeder-und-dem-ersten-buergermeister-tschentscher-im-anschluss-an-das-
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    gespraech-mit-den-regierungschefinnen-und-regierungschefs-der-laender-1744310
    Das könnte zugleich auf einen – nicht deutlich kommunizierten – Strategiewechsel hindeuten.
    Wenn jede infizierte Person statistisch weniger als eine Person ansteckt, geht die Ausbreitung zurück, sodass es am Ende zu einer Ausrottung des Virus kommt. Eine sog. Herdenimmunisierung wird so verhindert.
    Es ist indes nicht sinnvoll das Infektionsgeschehen in Gänze zum Erliegen zu bringen – so aber offenbar das Ziel der Regierenden, da diese eine Reproduktionszahl unter 1 anstreben. Diese Strategie läuft damit im Ergebnis darauf hinaus, dass nur eine Impfung wieder zur Normalität führen kann.
    In diesem – sehr bedenklichen Sinne – äußerte sich am 23. April 2020 zum Beispiel der bayerische Ministerpräsident Markus Söder. Er hat sich dafür ausgesprochen, nach der Entwicklung eines geeigneten Impfstoffs eine nationale Impfpflicht gegen die Covid-19-Lungenkrankheit einzuführen. Für eine solche Maßnahme wäre er sehr offen, sagte Söder nach einem Treffen mit dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten Kretschmann in Ulm. Bis zur Entwicklung eines Impfstoffs könne keine Entwarnung gegeben werden.
    https://www.deutschlandfunk.de/coronavirus-soeder-fuer-impfpflicht-gegen-covid-19.1939.de.html?drn:news_id=1123643
    Tatsächlich hatte sich Reproduktionszahl nämlich bereits seit dem 21. März 2020 nach den Angaben des RKI bei einen Wert „um 1“ stabilisiert – also auf den Wert, den die Politik nunmehr anstrebt. Seitdem ist die Zahl auch nicht signifikant gesunken.
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    https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2020/Ausgaben/17_20_SARS-CoV2_vorab.pdf?__blob=publicationFile
    Das bedeutet, dass die strengen Maßnahmen der Reduzierung des menschlichen Kontakts, die seit dem 23. März 2020 bundesweit gelten, nicht dazu geführt haben, die Reproduktionszahl zu stabilisieren. Die Stabilisierung ist bereits vor den strengen Maßnahmen eingetreten, mithin ist die Stabilisierung nicht auf die Maßnahmen ab dem 23. März 2020 zurückzuführen, da die Pandemie in Deutschland bereits zu diesem Zeitpunkt am Abebben war. Damit lässt sich eine Verlängerung der Maßnahmen nicht rechtfertigen.
    In diesem Sinne auch Stephan Grüger, SPD-Landtagsabgeordneter in Hessen: https://www.hessenschau.de/tv-sendung/diskussion-ueber-reproduktionszahl,video-120392.html
    Seite 142 von 289
    Um diese Ausführungen nachvollziehen zu können, muss berücksichtigt
    werden, dass der Erfolg der Maßnahmen nur zeitlich versetzt gemessen
    werden kann.
    Der Finanzwissenschaftler Stefan Homburg machte hierzu in der Welt am
  6. April 2020 folgende Ausführungen:
    Seite 143 von 289
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    Seite 145 von 289
    https://www.welt.de/wirtschaft/plus207258427/Schweden-als-
    Vorbild-Finanzwissenschaftler-gegen-Corona-Lockdown.html
    Bestätigung finden diese Ausführungen auch in den aktuellen Zahlen
    von EuroMOMO. Das europäische Projekt zur Überwachung der
    Sterblichkeit, erfasst mit standardisierten Verfahren in Echtzeit die
    Anzahl von Todesfällen im Zusammenhang mit Bedrohungen der
    öffentlichen Gesundheit in den teilnehmenden europäischen Ländern.
    Das System ist seit 2009 in Betrieb und wird kontinuierlich in den
    europäischen Ländern eingesetzt, die die Mindestanforderungen
    Seite 146 von 289
    erfüllen, nachdem im Frühjahr 2009 die sog. Schweinegrippe ausgerufen worden war, die ohne gravierende Folgen für die öffentliche Gesundheit blieb, aber enorme Kosten für die vorsorgliche Beschaffung von Impfstoffen verursacht hatte. Auf Grundlage der zeitnahen, standardisierten und koordinierten Erhebung der Sterblichkeit gelang es im Winter 2009/10, die Regierungen und Behörden in den europäischen Ländern zur angemessenen Vorbereitung der Gesundheitssysteme auf die Auswirkungen der Infektionswelle zu bewegen.
    Dort finden sich folgende aktuelle Graphiken, die keine Auffälligkeiten aufweisen:
    Seite 147 von 289
    Offensichtlich schätzen auch führende Politiker das Ansteckungsrisiko für sich selbst und die Gefahr, das Virus unbemerkt weiterzugeben und eine Verbreitung zu begünstigen, für nicht besonders hoch ein, wie das inzwischen bundesweit bekannte „Aufzugsbild“, das vor kurzem an der Universitätsklinikum Gießen-Marburg aufgenommen wurde, eindrücklich zeigt.
    Auf dem Bild sind der Bundesgesundheitsminister Spahn, der hessische Ministerpräsident Bouffier (68 Jahre), sein Regierungssprecher Bußer (59 Jahre), der Kanzleramtsminister Braun und der hessische Gesundheitsminister Klose zu sehen, sowie einige Mitarbeiterinnen des Klinikums. Bemerkenswert ist das Bild in vielfacher Weise. Abgesehen davon, dass Bouffier und Bußer zur Risikogruppe gehören, muss berücksichtigt werden, dass es zu dieser Situation in einem hochvulnerablen Bereich, nämlich in einem Krankenhaus, gekommen ist. Gerade dort ist die Ansteckungsgefahr besonders hoch und die Auswirkungen sind besonders gravierend. Seite 148 von 289 https://www.merkur.de/politik/jens-spahn-corona-foto-aufzug-mindestabstand-twitter-gesundheitsminister-deutschland-klinik-fauxpass-haeme-spott-zr-13651699.html Der Rückgang der Infektionen – unabhängig davon, ob bzw. welche Maßnahmen ergriffen wurden – entspricht auch den Beobachtungen des Präsidenten des israelischen Nationalen Forschungsrats, Professor Isaac Ben-Israel. Er argumentiert am 22. April 2020, dass die Corona-Epidemie nach bisherigen Erkenntnissen in den meisten Ländern nach ca. zehn Wochen vorbei sei, unabhängig davon, welche Maßnahmen getroffen werden und verweist hierbei auf Italien, Singapur und Taiwan: „Nach zehn Wochen liege das Wachstum «bei praktisch null». Und Ben-Israel fügt hinzu: «Die Zahlenreihen sprechen eine Seite 149 von 289 deutliche Sprache.» Sie machen, wenn er mit seinem Befund denn richtig liegt, Hoffnung, dass der Spuk bald vorbei ist. Für seine Untersuchung stützte sich Ben-Israel auf Corona-Fälle, die in den Wochen vom 4. März bis zum 15. April in den USA, in Grossbritannien, Deutschland, Spanien, Schweden, Israel oder der Schweiz gemeldet wurden – um nur einige der Staaten zu nennen, deren Statistik er untersucht hat. Die wöchentlichen Wachstumszahlen setzte er ins Verhältnis zum jeweiligen Total der Corona-Kranken. Das Resultat, gemäss dem der Quotient sinkt, nachdem er einen Spitzenwert erreicht hat, hätte er nicht erwartet, sagt der Forscher. «Verblüffend» sei vor allem, dass sich die ähnlichen Entwicklungen unabhängig vom untersuchten Land und unabhängig von den Massnahmen, mit denen Politiker gegen Sars-CoV-2 vorgehen, erkennen liessen. Daraus folgert Ben-Israel, dass Shutdowns unnötig sind, um die Expansion zu stoppen. Mehr als das: Mit den hohen ökonomischen und sozialen Kosten, die das Abwürgen der Wirtschaft nach sich zieht, richteten die Massnahmen mehr Schaden an, als dass sie Nutzen stiften würden, meint der Mathematikprofessor. Abstand halten und Gesichtsmasken tragen genügten völlig, um sich vor dem Virus zu schützen, ist Ben-Israel überzeugt. Alle gegen Corona erlassenen Ge- und Verbote bezeichnet er als Folge einer «Massenhysterie». Mitte April machte Ben-Israel das Ergebnis seiner komparativen Statistik in einem Interview mit der israelischen TV-Station Arutz 12 publik. Auf Israel bezogen, sagte er, dass die Spitze der Ausbreitung «seit einer Woche hinter uns liegt». Und in ungefähr zwei Wochen werde die Krankheit «fast ganz verschwunden» sein, prognostizierte der Mathematiker. Und was für Israel gelte, Seite 150 von 289 gelte wegen des vergleichbaren Musters auch für die anderen Staaten, die er untersucht habe. Seit er seine Resultate veröffentlicht habe, werde er mit E-Mails förmlich bombardiert, sagt Ben-Israel. Von den einen werde er als «Spinner» abgetan, andere würden ihn für seine einleuchtenden Resultate loben. Viele wollten auch wissen, worauf er die Ergebnisse seiner Untersuchung zurückführe. Doch da muss er passen: «Ich habe keine Erklärung dafür. Vielleicht hat es etwas mit dem Klima zu tun, oder vielleicht hat das Virus eine beschränkte Lebenszeit.» Er könne nur sagen, «dass aufgrund meiner Studien die Zahl der Infektionen auch in Ländern zurückgeht, die im Kampf gegen Corona nicht mit hartem Geschütz das ökonomische und soziale Leben stilllegen». Ein schnelles Ende des Shutdowns betrachte er deshalb als «ungefährlich». Er habe weder Bedenken noch Angst davor. Mehr als das: Harte Massnahmen gegen die Epidemie verurteilt der multidisziplinäre Forscher als groben Fehler, weil sie ohne triftigen Grund und basierend auf einem falschen Modell einen hohen Preis forderten – hohe Arbeitslosigkeit und Konkurse. Und doch, werfen wir ein, die makabren Bilder aus Italien – die Särge mit Corona-Toten in Bergamo zum Beispiel – sowie Clips aus Spanien, Belgien oder New York würden nicht zu seiner These passen, nach der man dem Virus keine Schranken setzen müsse, weil es nach ein paar Wochen unschädlich sei und verschwinde. Isaac Ben-Israel lässt den Einwand nicht gelten. Überall dort, wo die Corona-Mortalität hoch sei, sei das Gesundheitssystem schwach und überlastet. Das habe sich in Italien schon bei der «normalen» Grippewelle von 2017 beobachten lassen. Damals brach das italienische Gesundheitssystem zusammen, weil es unterdotiert war und zu Seite 151 von 289 wenig Reserven hatte. Das Gleiche gelte heute auch für andere Länder, denen Corona besonders arg zusetze. Die Krankheit sei zwar fies und böse – aber nicht so fies und böse, wie man anfänglich befürchtet hatte.“ https://www.weltwoche.ch/ausgaben/2020-17/kommentare-analysen/nach-zehn-wochen-liegt-das-wachstum-bei-null-die-weltwoche-ausgabe-17-2020.html (2) Testhäufigkeit und Dunkelziffer Ohne die Daten zur Testhäufigkeit kann man weder den sich anbahnenden Bedarf an Intensivbetten berechnen, noch kann man in irgendeiner Form wissenschaftlich fundiert Einschätzungen darüber abgeben, wie sich der Bedarf für Deutschland entwickeln wird. Darauf weisen auch Schrappe et. al. hin. http://www.matthias.schrappe.com/einzel/thesenpapier_corona.pdf, dort S. 10. Das RKI hat erst ab dem 26. März 2020 begonnen, in ihren täglichen Lageberichten wöchentlich über die Anzahl der durchgeführten Tests zu informieren. Im Lagebericht des RKI vom 22. April 2020 finden sich die aktuellen Zahlen der durchgeführten Testungen in Deutschland: Seite 152 von 289 Aus den weiteren Angaben des RKI lässt sich zudem erkennen, dass die Testkapazitäten zumindest seit KW 13 nicht einmal ansatzweise ausgeschöpft wurden. Die Tageskapazität aller Labore wurde für KW 13 mit 103.515 angegeben. Rechnet man das auf nur 5 Tage hoch (wobei viele Labore 7 Tage pro Woche arbeiten) ergäbe sich bereits eine Testkapazität von 515.575. Es wurden jedoch lediglich 361.374 Tests durchgeführt. In KW 15 wurde die wöchentliche Testkapazität mit 730.156 angegeben, somit wurde mit nur 360.139 nicht einmal die Hälfte der Testungskapazität ausgeschöpft. In KW 16 wurden trotz Erweiterung der Testkapazitäten auf 818.426 sogar noch weniger Tests, nämlich lediglich 323.449 durchgeführt. Zu den Zahlen: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/2020-04-15-de.pdf?__blob=publicationFile Seite 153 von 289 Über die fehlende Ausschöpfung der Testkapazitäten beklagen sich auch Labore – z.B. in Bayern und Berlin –, die auch keinen Materialmangel zu beklagen haben: https://www.morgenpost.de/berlin/article228914471/Coronavirus-Berlin-Tests-Labore-Corona-Covid-19.html; https://www.br.de/nachrichten/bayern/corona-tests-in-bayern-kapazitaeten-derzeit-nicht-ausgeschoepft,RwJgubl Aus Bayern ist am 16. April 2020 zu vernehmen gewesen: „Bislang (Stand: 16.4.,12.00 Uhr) wurde laut Meldesystem erst an zwei Tagen die 13.000er-Marke an Tests überschritten – die Kapazitäten werden derzeit also noch nicht voll ausgeschöpft. In der Vergangenheit habe es temporär Lieferengpässe oder Probenspitzen bei einigen Laboren gegeben, die sich auf die Ausschöpfung ihrer Kapazitäten ausgewirkt haben dürften. Dies sei derzeit jedoch nicht der Fall. Was die Test-Indikation angeht, gelten nach wie vor die Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts. Menschen können sich also nur bei entsprechenden Symptomen testen lassen, ein Strategiewechsel hin zu breit angelegten Tests in der Bevölkerung ist derzeit offenbar noch nicht vollzogen.“ https://www.br.de/nachrichten/bayern/corona-tests-in-bayern-kapazitaeten-derzeit-nicht-ausgeschoepft,RwJgubl Vor dem Hintergrund, dass es dringend und unstreitig notwendig ist, repräsentative Testungen durchzuführen, ist die Nichtnutzung vorhandener Kapazitäten aufgrund einer evident unzulänglichen Testungsstrategie des RKI, an der sich aber alle Bundesländer orientieren, nicht akzeptabel. Ein Schritt in die richtige Richtung ist, dass das RKI am 24. April 2020 nunmehr empfiehlt, dass jede Person, die eine Seite 154 von 289 Atemwegsinfektion hat (ohne weitere Bedingungen, vgl. unten), getestet wird. Sinnvoller wäre indes offenkundig die freien Kapazitäten für repräsentative Testungen zu nutzen. https://www.focus.de/gesundheit/testkapazitaeten-sind-jetzt-da-rki-vizepraesident-verkuendet-wichtige-aenderung-bei-empfehlung-zu-corona-tests_id_11918776.html Schon am 31. März 2020 wies der Statistikexperte Gerd Antes dringlich auf die Notwendigkeit der Durchführung repräsentativer Testungen hin: „Wir müssen sehr regelmäßig, vielleicht jede Woche, einen repräsentativen Bevölkerungsquerschnitt auf Infektionen untersuchen. Dafür sind sehr viele Tests nötig. Das bindet Ressourcen und ist teuer, wäre in Anbetracht der Lage aber angemessen, um eine solide Entscheidungsgrundlage zu schaffen. Aus dem Anteil der Infizierten in einer solchen Stichprobe lassen sich genaue Rückschlüsse auf die Gesamtsituation ziehen. Damit wird es deutlich leichter, abzuschätzen, ob oder wie die Zahl der Neuinfektionen steigt oder abnimmt und mit wie vielen Patienten und Intensivpatienten die Krankenhäuser in den nächsten Wochen rechnen müssen.“ https://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/coronavirus-die-zahlen-sind-vollkommen-unzuverlaessig-a-7535b78f-ad68-4fa9-9533-06a224cc9250 Auch der Statistiker Bosbach äußerte sich am 3. April 2020 in diesem Sinne: „Wir wissen aus der Wahlforschung, dass sich schon bei 2.000 Teilnehmern recht zuverlässige, also repräsentative einfache Ergebnisse – wie der Anteil der Infizierten oder der Anteil der Seite 155 von 289 wirklich Kranken – erzielen lassen. Mit 12.000 Teilnehmern könnte auch schon differenziert ausgewertet werden, zum Beispiel nach Alter und Geschlecht. Bei regelmäßiger Wiederholung bekämen wir auch die Entwicklung gut mit. Repräsentatives Testen ist keine große Kunst, beim Mikrozensus macht das das Statistische Bundesamt jedes Jahr. Warum hat man das nicht längst gemacht? Begründet wurde das bisher immer damit, dass zu wenige Tests verfügbar wären. Nun erfolgten laut RKI in der 13. Kalenderwoche 350.000 Tests. Wieso sollte es nicht möglich sein, mehrere Tausend davon abzuzweigen, um endlich mit sauberen Daten zielgenau zu entscheiden?“ https://www.nachdenkseiten.de/?p=59903 Kritik an der Testungsstrategie wurde auch von Leopoldina-Forscherinnen am 13. April 2020 artikuliert (Hervorhebungen durch die Unterzeichnenden):
    „Ein substantieller Teil der infizierten Population ist sogar für die gesamte Infektionsdauer kaum bis nicht erkrankt. Daher führen die bisher stark symptomgeleiteten Erhebungen zu einer verzerrten Wahrnehmung des Infektionsgeschehens, die belastbare (daten- oder gar modellgestützte) Schätzungen hinsichtlich der Effizienz von Maßnahmen kaum zulässt.“
    Leopoldina, 3. Ad-hoc-Stellungnahme vom 13. April 2020, S. 5.
    Diese Versäumnisse stehen der Verfassungsmäßigkeit der gravierenden Grundrechtseingriffe ebenfalls entgegen.
    Solange die Dunkelziffer – die grundsätzlich positiv zu bewerten ist, führt sie doch zu einer Herdenimmunität – da dies für nicht abgeschätzt
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    werden kann, sind auch Bemühungen, Infektionsketten nachzuweisen nur begrenzt überzeugend.
    Ebenso wenig ist nachvollziehbar, dass der Präsident des RKI erst am 16. April 2020 erklärte, dass mehrere Studien zur Verbreitung des SARS-CoV-2- Virus nunmehr starten würden. Wieso das nicht schon früher passiert ist, bleibt unbeantwortet.
    https://www.deutschlandfunk.de/covid-19-wie-hoch-die-dunkelziffer-bei-den-coronavirus.1939.de.html?drn:news_id=1120846
    (3)
    Kein exponentielles Wachstum
    In Deutschland kam es erfreulicherweise nicht zur befürchteten exponentiellen Verbreitung des SARS-CoV-2 Virus.
    Exponentielles Wachstum (auch unbegrenztes bzw. freies Wachstum genannt) beschreibt ein mathematisches Modell für einen Wachstumsprozess, bei dem sich die Bestandsgröße in jeweils gleichen Zeitschritten immer um denselben Faktor vervielfacht.
    https://de.wikipedia.org/wiki/Exponentielles_Wachstum; https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/exponentielles-wachstum-35929
    Vorliegend kam es zu keiner Vervielfachung – also nicht einmal zu einer Verdopplung – der Anzahl der Infizierten in Deutschland.
    Als Ausgangswert wird vor dem Hintergrund, dass zuvor kein stringentes Testregime eingerichtet war und gerade die Anfangszeit einer Pandemie mit vielen Unsicherheiten behaftet ist, der Zeitpunkt
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    gewählt, an dem in Deutschland erstmals 10.000 Personen infiziert waren.
    Der folgenden Darstellung werden die aktuellen veröffentlichten Zahlen des RKI (Stand 27. April 2020) zu Grunde gelegt.
    Die 10.000-Grenze wurde erstmal am 17. März 2020 überschritten.
    Damit von einem exponentiellen Wachstum gesprochen werden kann, muss sich der Ausgangswert zunächst innerhalb eines Zeitraums verdoppeln und ab dieser Verdoppelung muss es in demselben Zeitraum erneut zu einer Verdopplung kommen. Das soll anhand eines Beispiels kurz verdeutlich werden: Am Tag x gibt es 10.000 Infizierte, vier Tage später hat sich die Zahl verdoppelt, es gibt 20.000 Infizierte. Um nunmehr von einem exponentiellen Wachstum sprechen zu können, müsste es innerhalb vier Tage erneut zu einer Verdopplung kommen. D.h. nach weiteren vier Tagen müsste es 40.000 Infizierte geben. Es bedarf also immer zwei Bezugszeiträume. Die reine Verdopplungszeit ist für die Frage, ob ein exponentielles Wachstum zu beobachten ist.
    Im Folgenden werden jeweils die Daten angegeben, an denen es zu einer Verdopplung kam, ausgehend von dem Tag, an dem erstmals die 10.000 Grenze überschritten wurde. Das ist zu keinem Zeitpunkt innerhalb desselben Zeitraums geschehen.
    Datum
    Zahl der Infizierten
    17.03.
    12.360
    21.03. (4 Tage später)
    27.199
    27.03. (6 Tage später)
    55.427
    08.04. (12 Tage später)
    113.328
    Zu einer weiteren Verdoppelung kam es bislang nicht
    https://experience.arcgis.com/experience/478220a4c454480e823b17327b2bf1d4
    Seite 158 von 289
    Hieraus wird ersichtlich, dass es nie zu einer Verdopplung innerhalb zwei gleicher miteinander in Bezug zu setzender Zeiträume gekommen ist. Das gilt selbst dann, wenn man jeweils die Wochenendstage herausrechnen würde.
    In diesem Zusammenhang sei auf Ausführung der Tagesschau verwiesen, aus der deutlich wird, wie pädagogisiert – und verkürzt – die öffentliche Berichterstattung zum Teil ist. Dort wird exponentielles Wachstum – ohne zu erklären, ob es in Deutschland dazu gekommen ist – wie folgt am 8. April 2020 erklärt (Hervorhebungen durch die Unterzeichnenden):
    „Exponentielles Wachstum (auch unbegrenztes bzw. freies Wachstum genannt) beschreibt die Veränderung einer bestimmten Größe in einem festgelegten Zeitraum um immer denselben Faktor. Die Reproduktionszahl verweist dabei auf die zentrale Bedeutung des exponentiellen Wachstums für das Verständnis der Abläufe bei einer Pandemie. Eine Basisreproduktionszahl von 3 bedeutet, dass sich die Infiziertenzahl in jedem einzelnen Ansteckungsintervall um den Faktor 3 vergrößert, um sich in der nächsten “Runde” dann erneut zu verdreifachen, worauf eine weitere Verdreifachung folgt. Die in diesen Tagen weltweit verhängten Ausgangsbeschränkungen und Aufrufe zur Selbstisolation zielen genau auf diesen fatalen Mechanismus.
    Dass noch immer nicht alle den Sinn der Maßnahmen begreifen, liegt laut Experten auch in der generellen Schwierigkeit von Menschen, die Dynamik nicht linearer Entwicklungen korrekt zu bewerten. Diese wird drastisch unterschätzt, weil sie nicht den Erfahrungen kontinuierlicher Wachstumsprozesse im Alltag folgt.“
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    https://www.tagesschau.de/inland/corona-pandemie-glossar-101.html
    (4)
    Keine Unterscheidung zwischen SARS-CoV-2 Infizierten und COVID-19 Erkrankten
    Eine Unterscheidung zwischen Test-Positiven und Erkrankten wird – auch und gerade bei den angestellten Prognosen – nicht vorgenommen.
    Dabei muss in der Infektiologie zwischen Infektion und Erkrankung unterschieden werden. Eine Erkrankung bedarf einer klinischen Manifestation.
    „Infektionen, Arten und Formen (engl.: types and kinds of infections) ▶Differenzierung nach der klinischen Manifestation: Die Erscheinungen einer Infektion können inapparent (asymptomatisch, latent, abortiv, stumm) oder manifest sein. Eine schwache klinische Manifestation (Erkrankung) entspricht einer subklinischen, symptomarmen oder mitigierten Infektion.“
    https://www.rki.de/DE/Content/Service/Publikationen/Fachwoerterbuch_Infektionsschutz.pdf?__blob=publicationFile (S. 69).
    Darauf wird zu Recht auch in einem Beitrag vom 25.03.2020 auf der Ärzteplattform esanum hingewiesen:
    „Die nächste Hürde besteht darin, dass die PCR ein indirektes Testverfahren darstellt, welches lediglich anzeigt, ob eine Person Kontakt mit einem Erreger hatte. Dies bedeutet nicht automatisch, dass diese Person auch Krankheitssymptome entwickelt oder gar verstirbt.
    Seite 160 von 289
    […]
    Bei den Zahlen, die uns die Medien tagtäglich in beängstigender Weise vor Augen führen, wird nicht zwischen Test-Positiven und Erkrankten unterschieden. Da die absolute Mehrheit der Test-Positiven keine oder nur milde Symptome entwickelt, ist es massiv irreführend, in dieser Höhe von Erkrankten zu sprechen.
    Der renommierte Methodiker und Public-Health-Forscher John P. A. Ioannidis, der zu den meistzitierten WissenschaftlerInnen der Welt gehört, weist ebenfalls darauf hin, dass es keine Evidenz gibt, die die aktuellen drastischen sozialen und wirtschaftlichen Einschränkungen rechtfertigen würde. Coronaviren als typische Erreger von Erkältungskrankheiten sorgen Jahr für Jahr für banale Erkältungskrankheiten, die hauptsächlich bei betagten, oft kardial und pulmonal vorbelasteten Menschen mit Komplikationen wie Pneumonien tödlich verlaufen können. Der einzige Unterschied bei SARS-CoV-2 könnte sein, dass die Infektionsraten in der Bevölkerung bisher nie gemessen worden sind.“
    https://www.esanum.de/today/posts/wie-aussagekraeftig-sind-die-corona-tests
    Daraus ergibt sich, dass für die Bedarfsberechnung der Krankenhausbetten sinnvollerweise nur erkrankte Personen, also solche mit grippeähnlichen Symptomen, berücksichtigt werden sollten. Aktuell werden die Prognosen zur Belastung des Gesundheitssystems allerdings ausgehend von allen Infizierten berechnet. Hierbei wird zugrunde gelegt, dass 3-6 % aller infizierten Menschen (vgl. oben) schwer erkranken und beatmungspflichtig werden.
    (5)
    Fehlgesteuerte Testung
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    Die Vorgaben in Deutschland sind die, dass nur erkrankte Menschen getestet werden sollen. Voraussetzung für die Durchführung eines Tests ist das Vorliegen grippeähnlicher Symptome.
    https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/C/Coronavirus/BMG_BZgA_Coronavirustest_Plakat_barr.pdf
    Am 25. März 2020 modifizierte das RKI seine Kriterien. Es sollen nur Menschen getestet werden, die respiratorische und Kontakt zu einem bestätigtem COVID-19-Fall hatten, in der Pflege, einer Arztpraxis oder im Krankenhaus tätig sind oder einer Risikogruppe zugehören. Zuvor musste entweder der Kontakt zu einem COVID-19-Fall vorliegen oder die Person musste sich in einem Risikogebiet aufgehalten haben. Die Fokussierung auf Risikogruppen dürfte dazu führen, dass die Sterblichkeitsrate zukünftig relativ hoch liegen wird. Die Kriterien erscheinen vernünftig, dennoch sollte man die zu erwartenden Auswirkungen auf die zukünftigen Zahlen, die auch eine psychologische und damit politische Wirkung haben, transparent einordnen und in den Prognosen berücksichtigen.
    Wer eine Infektion symptomlos übersteht, bleibt nach dieser Testungsstrategie für die Statistik unsichtbar. Wieler geht, wie oben bereits dargelegt, davon aus, dass 50 % der Infizierten symptomlos bleiben und damit nicht an COVID-19 erkranken.
    vgl. oben sowie: https://www.morgenpost.de/web-wissen/article228197725/Coronavirus-Typische-Symptome-und-Anzeichen-wann-bei-Corona-Arzt-Dauer-Verlauf-und-mehr.html
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    Mithin können auf dieser Datengrundlage keine wissenschaftlich begründbaren Hochrechnungen – und damit auch keine derart einschneidenden Grundrechtseingriffe – gestützt werden.
    Der amerikanische Gesundheitswissenschaftler und einer der weltweit führenden Spezialisten auf dem Gebiet der Klinischen Epidemiologie an der Stanford University John P. A. Ioannidis erläutert das Vorgenannte wie folgt:
    “The data collected so far on how many people are infected and how the epidemic is evolving are utterly unreliable. Given the limited testing to date, some deaths and probably the vast majority of infections due to SARS-CoV-2 are being missed. We don’t know if we are failing to capture infections by a factor of three or 300. Three months after the outbreak emerged, most countries, including the U.S., lack the ability to test a large number of people and no countries have reliable data on the prevalence of the virus in a representative random sample of the general population.
    This evidence fiasco creates tremendous uncertainty about the risk of dying from Covid-19. Reported case fatality rates, like the official 3.4% rate from the World Health Organization, cause horror — and are meaningless. Patients who have been tested for SARS-CoV-2 are disproportionately those with severe symptoms and bad outcomes. As most health systems have limited testing capacity, selection bias may even worsen in the near future.
    […]
    Some worry that the 68 deaths from Covid-19 in the U.S. as of March 16 will increase exponentially to 680, 6,800, 68,000, 680,000 … along with similar catastrophic patterns around the globe. Is
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    that a realistic scenario, or bad science fiction? How can we tell at what point such a curve might stop?
    The most valuable piece of information for answering those questions would be to know the current prevalence of the infection in a random sample of a population and to repeat this exercise at regular time intervals to estimate the incidence of new infections. Sadly, that’s information we don’t have.
    […]
    Yet if the health system does become overwhelmed, the majority of the extra deaths may not be due to coronavirus but to other common diseases and conditions such as heart attacks, strokes, trauma, bleeding, and the like that are not adequately treated. If the level of the epidemic does overwhelm the health system and extreme measures have only modest effectiveness, then flattening the curve may make things worse: Instead of being overwhelmed during a short, acute phase, the health system will remain overwhelmed for a more protracted period. That’s another reason we need data about the exact level of the epidemic activity.”
    https://www.statnews.com/2020/03/17/a-fiasco-in-the-making-as-the-coronavirus-pandemic-takes-hold-we-are-making-decisions-without-reliable-data/
    Die Testungsstrategie wurde auch vom Virologen und Leiter des Gesundheitsamts Frankfurt am Main, René Gottschalk am 4. April 2020 kritisiert (Hervorhebungen durch die Unterzeichnenden):
    Ihre vorletzte Frage ist, dass es natürlich momentan alles sehr, sehr schlimm aussieht, aber wir haben ja überhaupt keinen Überblick darüber, wie verbreitet diese Erkrankung in der
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    Bevölkerung wirklich ist. Wir testen Patienten, die Symptome haben.
    […]
    Wir testen vor allem Patienten, die schwer erkrankt sind und damit bekommen wir Todesfallzahlen, die natürlich erst einmal erschreckend sind, aber wenn Sie sich vorstellen, dass es eine sehr, sehr hohe Dunkelziffer geben wird in der Bevölkerung, und davon geht jeder aus, dann ist auch klar, wenn ich einen Todesfall habe unter 1.000 Patienten, dann habe ich eine relativ hohe Todesrate von 1 Promille, oder wenn ich einen Todesfall mit 100 Patienten habe, dann habe ich eine Todesrate von 1 Prozent, aber wenn die Bevölkerung, die betroffen ist, bereits 100.000 oder 1.000.000 ist, dann ist diese Todesrate für den Einzelnen natürlich genauso beklagenswert, aber für die Summe in der Statistik ist das eben weit unter dem, wie es bei einer Influenza ist und das können wir erst sagen, wenn wir wirklich sicher auch feststellen können, wie viele Patienten, wie viele Gesunde da auch schon das gar nicht gemerkt haben, in der Bevölkerung betroffen sind.
    https://www.deutschlandfunk.de/virologe-zu-covid-19-ostern-abwarten-und-gucken-wie-sich.868.de.html?dram:article_id=474040
    Ebenfalls kritisch äußerte sich Bosbach am 3. April 2020 (Hervorhebungen durch die Unterzeichnenden):
    „Die Zahl der positiv Getesteten umfasst eine kleine, nicht repräsentativ ausgewählte Gruppe. Es sind dies Menschen, die starke Krankheitssymptome aufweisen, wegen Vorerkrankungen oder ihres hohen Alters ein erhöhtes Risiko tragen, Kontaktpersonen im Umfeld von Infizierten sowie Personen, die
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    nah am Patienten dran sind, wie Ärzte und Pflegepersonal. Um es salopp zu sagen: Wenn sie in dieser Gruppe morgen doppelt so viele Menschen testen wie heute, werden sie morgen wahrscheinlich auch fast doppelt so viele Infizierte finden wie heute. Daraus lässt sich aber weder ermessen, wie sehr das Virus in der Gesamtbevölkerung bereits verbreitet ist, noch in welchem Tempo es sich verbreitet.
    […]
    Ja klar, es gibt eine riesige Dunkelziffer, was keiner ernsthaft in Zweifel zieht. Eben weil die Krankheit von vielen gar nicht bemerkt wird oder die Symptome nur schwach sind. Je höher die Dunkelziffer ist, desto geringer fallen aber auch die Raten der Schwererkrankten und der Toten aus. In anderen Ländern gibt es entsprechende Hinweise auf das Ausmaß der Verbreitung des Virus, etwa in Südkorea oder Island. Wir haben auch Daten zum Kreuzfahrtschiff Diamond Princess, die auf einen geringen Prozentsatz an ernsthaften Erkrankungen schließen lassen. Warum kommt bei uns keiner auf die Idee, solche Erhebungen vorzunehmen? Dann wüsste man, ob die ergriffenen drastischen Maßnahmen gerechtfertigt sind. Mein Plädoyer als Statistiker: Wir müssen die Fakten für derart folgenschwere Entscheidungen kennen, statt die Menschen mit unpassenden Zahlen, wie der Zahl der positiv Getesteten, in Angst und Schrecken zu versetzen.“
    https://www.nachdenkseiten.de/?p=59903
    Problematisch ist die Dunkelziffer auch dahingehend, dass so der Zahl der gemeldeten Infektionen, die letztlich zur alleinigen Grundlage staatlichen Handelns gemacht wurde – insbesondere mit Blick auf die Verdopplungszeit –, eine nur geringe Aussagekraft zukommt.
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    Zu Recht kritisierten Schrappe et. al. – wie oben bereits kurz angerissen – die Fixierung auf den Verdopplungszeitraum (Hervorhebungen durch die Unterzeichnenden):
    „Die Zahl der gemeldeten Infektionen hat nur eine geringe Aussagekraft, da kein populationsbezogener Ansatz gewählt wurde, die Messung auf einen zurückliegenden Zeitpunkt verweist und eine hohe Rate nicht getesteter (v.a. asymptomatischer) Infizierter anzunehmen ist.
  7. Die Zahl der täglich beim RKI gemeldeten Fälle wird in hohem Maße durch die Testverfügbarkeit und Anwendungshäufigkeit beeinflusst.
  8. Unter Berücksichtigung dieser anlassbezogenen Teststrategie ist es nicht sinnvoll, von einer sog. Verdopplungszeit zu sprechen und von dieser Maßzahl politische Entscheidungen abhängig zu machen.
  9. Die Darstellung in exponentiell ansteigenden Kurven der kumulativen Häufigkeit führt zu einer überzeichneten Wahrnehmung, sie sollte um die Gesamtzahl der asymptomatischen Träger und Genesenen korrigiert werden.
  10. Die Zahl der gemeldeten Fälle an Tag X stellt keine Aussage über die Situation an diesem Tag dar, sondern bezieht sich auf einen Zeitpunkt in der Vergangenheit.
  11. Ungefähr zwei Drittel der Infizierten werden zu diesem Zeitpunkt nicht erfasst.
  12. Überlegungen zu populationsbezogenen Stichproben (Nationale Kohorte) müssen intensiviert werden“
    These 1.2. Die Zahlen zur Sterblichkeit (Case Fatality Rate) überschätzen derzeit das Problem und können nicht valide interpretiert werden.
    Seite 167 von 289
  13. Mangelnde Abgrenzung der Grundgesamtheit: es ist derzeit nicht bekannt, auf wie viel infizierte Personen die Zahl der gestorbenen Patienten zu beziehen ist;
  14. Fehlende Berücksichtigung derattributable mortality: es ist nicht klar, inwieweit die beobachtete Letalität tatsächlich auf die Infektion mit SARS-CoV-2 zurückzuführen und nicht durch die Komorbidität oder den natürlichen Verlauf zu erklären ist;
  15. Fehlender Periodenvergleich über mehrere Jahre in gleichen Patientenkollektiven vergleichbarer Morbidität: es gibt keine Erkenntnisse über die excess-mortality im Vergleich zu einer Alters-, Komorbiditäts- und Jahreszeit-gematchten Population in den zurückliegenden Jahren.“
    http://www.matthias.schrappe.com/einzel/thesenpapier_corona.pdf.
    In diesem Sinne auch Bosbach:
    „Ich halte die Informationspolitik der Regierung und der sie beratenden Experten für mangelhaft und demokratiegefährdend. Das geht damit los, dass der engstirnige Blick auf die angeblichen Infiziertenzahlen und das Hantieren mit den täglichen Steigerungen bei den Todeszahlen Angst verbreitet. Befeuert wird das dadurch, dass immer noch von Erkrankten und nicht korrekterweise von positiv Getesteten gesprochen wird. Eine Infektion löst bekanntlich bei einer großen Mehrheit nur geringe oder gar keine Symptome aus, weshalb sie auch nicht getestet werden. Als Indikator für den Ausstieg aus den weitgehenden Kontakteinschränkungen allein das Abflachen der Zahl der positiv Getesteten zu nehmen und das dann noch mit großer Beliebigkeit in Zeitintervallen von anfangs zehn und jetzt plötzlich 14 Tagen zu beziffern, ist – höflich ausgedrückt – nicht faktenbasiert.“
    Seite 168 von 289
    […]
    „Sehen Sie: Wenn die Tests immer mehr werden und die Zahl der positiv Getesteten auf demselben oder auch einem leicht erhöhten Niveau mitsteigt, kann das noch Monate so weitergehen. Wegen neuartiger Testauswertungsmethoden soll man demnächst vielleicht bis zu zehnmal mehr testen können als bisher. Kommt es so, werden die Fallzahlen explodieren, ohne dass dies ein valider Hinweis auf eine exponentielle Verbreitung des Erregers wäre. Und warum ist man überhaupt so plötzlich vom Zehn-Tages-Ziel abgerückt? Ich habe die Zahlen seit Anfang März ausgewertet. Ab dem 29. März morgens bis heute morgen kommen die Steigerungsraten der positiv Getesteten der ersten Merkel‘schen Regel – Verdopplung in zehn Tagen – schon sehr nahe. Bei gleichbleibenden Steigerungsraten hätten wir bis zum 8. April mit 2,16 einen Faktor, der nur ganz knapp über der angestrebten Verdopplung liegt. Ist das der Grund, weshalb plötzlich von der Verdopplung in 14 Tagen die Rede ist? Schlüssig und überzeugend ist das nicht.“
    https://www.nachdenkseiten.de/?p=59903
    Antes kritisiert die aktuelle Testungsstrategie ebenfalls und zeigt auf, wie getestet werden müsste, um belastbare Daten zu erhalten (Hervorhebungen durch die Unterzeichnenden):
    SPIEGEL: Was ist die Alternative?
    Antes: Wir müssen sehr regelmäßig, vielleicht jede Woche, einen repräsentativen Bevölkerungsquerschnitt auf Infektionen untersuchen. Dafür sind sehr viele Tests nötig. Das bindet Ressourcen und ist teuer, wäre in Anbetracht der Lage aber angemessen, um eine solide Entscheidungsgrundlage zu
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    schaffen. Aus dem Anteil der Infizierten in einer solchen Stichprobe lassen sich genaue Rückschlüsse auf die Gesamtsituation ziehen. Damit wird es deutlich leichter, abzuschätzen, ob oder wie die Zahl der Neuinfektionen steigt oder abnimmt und mit wie vielen Patienten und Intensivpatienten die Krankenhäuser in den nächsten Wochen rechnen müssen.
    https://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/coronavirus-die-zahlen-sind-vollkommen-unzuverlaessig-a-7535b78f-ad68-4fa9-9533-06a224cc9250
    Durch die Nichtberücksichtigung der, wie oben dargelegt und auch von renommierten Wissenschaftlerinnen bestätigten, als hoch einzuschätzende Dunkelziffer bereits Immunisierter, muss davon ausgegangen werden, dass die Letalität tatsächlich deutlich geringer ist als die in Deutschland vom RKI höchstangegebene Zahl von 3,4 %. Auch die Bedarfsberechnungen im Hinblick auf das Gesundheitssystem gehen so fehl. Dafür spricht auch eine am 8. April 2020 bekannte gewordene aktuelle Studie, aus der sich ergibt, dass ich weltweit bereits mehrere zehn Millionen Menschen mit dem Coronavirus angesteckt haben könnten, ohne dass die Betroffenen in einer offiziellen Statistik auftauchen. Das berichten Forscherinnen der Universität Göttingen. Demnach werden weltweit nur etwa sechs Prozent der Corona-Infektionen erfasst. Für die Hochrechnungen haben die Forscherinnen ein Paradoxon in der aktuellen Pandemie genutzt: Die festgehaltene Sterberate von COVID-19-Patientinnen weicht zwischen einzelnen Ländern erheblich ab. Auch die Zeit, die zwischen dem Erfassen der Infektion und dem Tod der Patienten liegt, schwankt im Ländervergleich stark – obwohl hinter allen Erkrankungen der gleiche Erreger steckt. Die Forscherinnen gehen dabei davon aus, dass sich ein Großteil der Abweichungen durch die unterschiedliche Datenqualität erklären lassen dürfte. Seite 170 von 289 https://www-spiegel-de.cdn.ampproject.org/c/s/www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/corona-nur-sechs-prozent-der-weltweiten-faelle-werden-erfasst-a-c9520fce-a102-49fe-8290-fec96fa8ed40-amp Auch weisen weitere Studien darauf hin, dass es eine sehr hohe Dunkelziffer gibt: Nach einer Studie mit Antikörper-Tests haben Wissenschaftlerinnen der Universität Stanford ermittelt, dass sich im kalifornischen Landkreis Santa Clara bis zu 50-mal mehr Menschen mit dem Coronavirus Sars-CoV-2 infiziert haben als zuletzt offiziell angegeben. Aufgrund der Ergebnisse rechneten sie hoch, dass zum Stichtag 1. April 4,1 Prozent der Bevölkerung die Infektion durchgemacht hatten, das wären etwa 81.000 Menschen. Gemeldet waren zu diesem Zeitpunkt in der Region rund 1.000 Fälle. Für die Studie hatten die Forscherinnen einen Aufruf über Facebook gestartet und 3.300 Probantinnen rekrutiert. Die Forscher gewichteten ihre Ergebnisse anschließend, um ein repräsentativeres Bild zu erreichen. Auch in Österreich sind laut einer Dunkelziffer-Studie deutlich mehr Menschen mit dem Coronavirus infiziert als die offizielle Statistik ausweist. Im Vergleich zu den Anfang April offiziell ausgewiesenen rund 8.500 Fällen seien tatsächlich wohl etwa 28.500 Personen betroffen gewesen, teilte das Meinungsforschungsinstitut Sora mit. Das entspreche 0,33 Prozent der Bevölkerung. Die sogenannte Schwankungsbreite sei allerdings erheblich: Es sei von einer Spanne zwischen gut 10.000 und mehr als 67.000 Infizierten auszugehen. Für die Studie ließ Sora rund 1.500 Menschen auf das Virus testen.
    Forscherinnen der Columbia Universität kamen in einer Simulation ebenfalls zu dramatischen Dunkelziffern. Sie haben die Ausbreitung des Coronavirus mit einem Pandemie-Simulationsprogramm nachgespielt. Seite 171 von 289 Die Daten für ihre Berechnungen stammten aus der frühen Phase der Epidemie in China, als es noch keine Kontaktbeschränkungen gab. Demnach kamen auf jeden nachweislich Infizierten etwa sieben unentdeckte Fälle, schreiben die Autoren im Fachmagazin “Science”. Vgl. zu alledem: https://www.deutschlandfunk.de/covid-19-wie-hoch-die-dunkelziffer-bei-den-coronavirus.1939.de.html?drn:news_id=1123081 Es handelt sich bei dem Dargestellten indes nicht um einen Fehler, der versehentlich unterlaufen ist, sondern um die ausgegebene – offensichtlich falsche – Testungsstrategie. Der Umstand, dass die Testkapazitäten begrenzt sind, ist – trotz der grundsätzlich ernstzunehmenden Situation – kein Freibrief für so weitgehende Grundrechtseingriffe für einen derart langen Zeitraum – insbesondere nicht gegen Nichtstörer. Und schon gar nicht hindert die limitierte Anzahl an Tests die Durchführung einer repräsentativen Studie, wie Bosbach zutreffend ausführt: Um zu einer wirklich realistischen Einschätzung der Lage zu kommen, bräuchte es Erhebungen zum Stand der „Durchseuchung“ der Bevölkerung. Dann erst ließen sich belastbare Aussagen zur Häufigkeit schwerer Erkrankungen und der Letalität treffen. Warum ist in der Richtung bis heute nichts passiert? Auch das ist mir schleierhaft. Wir wissen aus der Wahlforschung, dass sich schon bei 2.000 Teilnehmern recht zuverlässige, also repräsentative einfache Ergebnisse – wie der Anteil der Infizierten oder der Anteil der wirklich Kranken – erzielen lassen. Mit 12.000 Teilnehmern könnte auch schon differenziert ausgewertet werden, zum Beispiel nach Alter und Geschlecht. Bei regelmäßiger Wiederholung bekämen wir auch die Entwicklung gut mit. Repräsentatives Testen ist keine große Seite 172 von 289 Kunst, beim Mikrozensus macht das das Statistische Bundesamt jedes Jahr. Warum hat man das nicht längst gemacht? Begründet wurde das bisher immer damit, dass zu wenige Tests verfügbar wären. Nun erfolgten laut RKI in der 13. Kalenderwoche 350.000 Tests. Wieso sollte es nicht möglich sein, mehrere Tausend davon abzuzweigen, um endlich mit sauberen Daten zielgenau zu entscheiden? https://www.nachdenkseiten.de/?p=59903 Es ist nach alledem nicht einsehbar, warum die freien Testkapazitäten aktuell nicht genutzt werden, um sich ein besseres Bild über die Verbreitung des Virus zu machen. (6) Zählung der COVID-19 Verstorbenen Das RKI zählt alle Verstorbenen, die positiv auf COVID-19 getestet wurden, als COVID-19 Verstorbene; unabhängig von der konkreten Todesursache. https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/faktenfuchs-wie-werden-corona-todesfaelle-gezaehlt,RtnpYVL; https://www.merkur.de/welt/coronavirus-deutschland-rki-zahlen-statistiken-falsch-tote-covid-19-robert-koch-institut-kritik-zweifel-zr-13640817.html Wieler gab an: „Bei uns gilt jemand als Corona-Todesfall, bei dem eine Corona-Infektion nachgewiesen wurde.“ Seitens des Universitätsklinikum Straßburg wurde bekannt gegeben, dass von dort 90 COVID-19 positiv getesteten und beatmungspflichtigen Seite 173 von 289 Patientinnen drei unter 50 und ohne Vorerkrankungen seien. Die restlichen Patientinnen hätten Vorerkrankungen mit unterschiedlichem Schweregrad. Ferner teilten sie mit, dass sich schwere Verläufe vor allem, bei alten Patientinnen mit Vorerkrankungen finden.
    Brief des Deutschen Instituts für Katastrophenmedizin vom 24. März 2020 an das Innenministerium Baden-Württemberg.
    Das macht deutlich, dass die Daten auch dadurch verzerrt werden, dass suggeriert wird, alle positiv getesteten Verstorbenen seien auch tatsächlich an COVID-19 verstorben.
    Auch Italien zählt jeden – auch post mortem – auf positiv getesteten Verstorbenen als COVID-19 Toten.
    https://www.telegraph.co.uk/global-health/science-and-disease/have-many-coronavirus-patients-died-italy/
    Streek beanstandete schon früh das Vorgehe und spricht sich für die Durchführung von Autopsien aus, um verlässliche Daten zu erhalten (Hervorhebungen durch die Unterzeichnenden):
    „ZEIT ONLINE: Und was ist von den Todeszahlen zu halten, die in Deutschland bisher im Vergleich noch recht gering sind?
    Streeck: Wir werden erst im Nachhinein beantworten können, ob und wie sehr die monatliche Sterberate durch Covid-19 ansteigt. Ich habe mir die Fälle von 31 der 40 Verstorbenen aus dem Landkreis Heinsberg einmal genauer angeschaut – und war nicht sehr überrascht, dass diese Menschen gestorben sind. Einer der Verstorbenen war älter als 100 Jahre, da hätte auch ein ganz normaler Schnupfen zum Tod führen können. Aber wie gesagt: Die Studie läuft noch.
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    ZEIT ONLINE: Sollten wir genauer untersuchen, woran die Menschen wirklich gestorben sind?
    Streeck: Ich denke schon. Es ist oft sehr wichtig zu wissen, ob die Menschen an einer viralen Pneumonie, also ursächlich an Covid-19, verstorben sind oder an etwas anderem. Bei einem der Heinsberger Patienten wurde zwar Sars-CoV-2 im Rachen nachgewiesen. Aber er hatte keine Lungenentzündung, sondern ist an einem Herzstillstand gestorben.“
    https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2020-04/hendrik-streeck-covid-19-heinsberg-symptome-infektionsschutz-massnahmen-studie/komplettansicht
    Auch Schrappe et. al. wiesen auf diese Problematik hin (Hervorhebungen durch die Unterzeichnenden):
    „2. Es ist nicht klar, inwieweit die beobachtete Letalität auf die Infektion mit SARS-CoV-2 zurückzuführen ist.
    Die Letalität von Covid-19 weist eine deutliche Altersabhängigkeit und eine ebenso deutliche Abhängigkeit von der Komorbidität bzw. der Zahl der Komorbiditäten auf. Dieses Bild gilt aber auch für die SARS-CoV-2/Covid-19-unabhängige Krankenhaussterblichkeit. Da in näherer Zukunft die Sterblichkeit für die medizinisch-pflegerische und öffentliche Diskussion eine erhebliche Rolle spielen wird, ist die Tatsache von Bedeutung, dass die in der Literatur verwendeten Definitionen der Covid-bedingten Sterblichkeit lediglich die Kriterien
     Covid-19 Nachweis und
     Tod des Patienten
    verwendet werden (Onder et al. 2020). Dies bedeutet, dass keine Kriterien vorhanden sind, mittels derer die unkorrigierte crude
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    mortality von der zurechenbaren Sterblichkeit (attributable mortality) unterschieden werden kann – mit anderen Worten und vielleicht etwas pointiert ausgedrückt: wir wissen nicht, ob der Patient an Covid-19 verstorben ist oder mit Covid-19. Auch auf der Webseite des RKI ist keine Definition der Covid-19 bedingten Sterblichkeit vorzufinden (wohl aber eine Definition der COVID-19-Erkrankung; Stand 05.04.2020).“
    http://www.matthias.schrappe.com/einzel/thesenpapier_corona.pdf, dort S. 14 f.
    Die oben dargestellte Vorgehensweise verstößt auch gegen die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin in Bezug auf deren Regeln zur Durchführung einer ärztlichen Leichenschau. Dort heißt es zur Feststellung der Todesursache:
    „Todesursache sind Krankheiten, Verletzungen oder Vergiftungen, die den Tod unmittelbar verursacht haben. Neben der Todesursache muss eine Kausalkette angegeben werden, mit dem entsprechenden Grundleiden auf der Todesbescheinigung an dritter Stelle. Die Kausalkette lautet z. B.: Arteriosklerose. Koronararteriensklerose. Myokardinfarkt. Gelegentlich müssen auch viergliedrige Kausalketten angegeben werden.“
    https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/054-002l_S1_Regeln-zur-Durchfuehrung-der-aerztlichen-Leichenschau_2018-02_01.pdf (Seite 8).
    Die Deutsche Gesellschaft für Pathologie und der Bundesverband Deutscher Pathologen forderten in einer am 7. April 2020 veröffentlichen Pressemitteilung die Durchführung möglichst zahlreicher Obduktionen von Corona-Verstorbenen und widersprechen so der Empfehlung des RKI, dort heißt es u.a.:
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    „Im besten Fall ließen sich daraus weitere Therapieoptionen ableiten – darin bestehe der Wert der Obduktion für die Lebenden, so Prof. Dr. med. K.-F. Bürrig, Präsident des Bundesverbandes. Die Obduktion sei in hohem öffentlichem Interesse und sollte deshalb nicht vermieden, sondern im Gegenteil so häufig wie möglich durchgeführt werden. Schon bei Ausbruch des Marburg-Virus, bei HIV, bei SARS, MERS und BSE haben Befunde aus der Pathologie und Neuropathologie geholfen, die klinischen Krankheitsbilder zu verstehen und haben damit auch therapeutische Konzepte beeinflusst. Dies muss auch für COVID-19 gelten. Dieses Anliegen hat auch Prof. Dr. T. Welte vom Deutschen Zentrum für Lungenforschung/DZL und Direktor der Klinik für Pneumologie und Infektionsmedizin der Med. Hochschule Hannover/MHH an die DGP gerichtet.
    In der RKI-Empfehlungen vom 24.03.2020 heißt es u.a.: „Eine innere Leichenschau, Autopsien oder andere aerosolproduzierende Maßnahmen sollten vermieden werden. Sind diese notwendig, sollten diese auf ein Minimum beschränkt bleiben.“ Diese Empfehlung richte, so Bürrig, das Augenmerk auf die Vermeidung von infektionsgefährlichen Aerosolen bei der Leichenöffnung. Das sei ein wichtiger Aspekt, aber als Entscheidungsgrundlage zu schmal. Zumal bei den Obduktionen nach allen einschlägigen Vorgaben der Schutz des medizinischen und nicht-medizinischen Personals sichergestellt wird. BDP und DGP bitten das RKI darum, die Gesundheitsbehörden entsprechend zu informieren.“
    https://www.pathologie-dgp.de/die-dgp/aktuelles/meldung/pressemitteilung-an-corona-verstorbene-sollten-obduziert-werden/
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    Scharf kritisiert wird die Zählung der COVID-19 Verstorbenen auch vom Hamburger Rechtmediziner Klaus Püschel am 8. April 2020. Mit seinem Team obduziert er die Toten in Hamburg, und stellte fest, dass ausschließlich vorerkrankte Menschen mit dem Virus verstorben seien, und dass das Virus der letzte Tropfen gewesen sei, der das Fass zum Überlaufen gebracht habe:
    „Dieses Virus beeinflusst in einer völlig überzogenen Weise unser Leben. Das steht in keinem Verhältnis zu der Gefahr, die vom Virus ausgeht.
    […]
    Ich bin überzeugt, dass sich die Corona-Sterblichkeit nicht mal als Peak in der Jahressterblichkeit bemerkbar machen wird.
    […]
    Alle, die wir bisher untersucht haben, hatten Krebs, eine chronische Lungenerkrankung, waren starke Raucher oder schwer fettleibig, litten an Diabetes oder hatten eine Herz-Kreislauf-Erkrankung.“
    https://www.welt.de/regionales/hamburg/article207086675/Rechtsmediziner-Pueschel-In-Hamburg-ist-niemand-ohne-Vorerkrankung-an-Corona-gestorben.html?utm_source=pocket-newtab
    Die Gesundheitsbehörde der Stadt Hamburg erklärte vor dem Hintergrund jüngst, die Corona-Todesfälle anders zu zählen als das RKI. Beim Institut werden alle Verstorbene, bei denen das Virus SARS-CoV-2 festgestellt wurde, in die Todeszählung aufgenommen. In Hamburg nur diejenigen, die nachweislich auch an COVID-19 gestorben sind. Bei Sterbefällen mit positivem Corona-Test wird bei einer Obduktion die
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    genaue Todesursache festgestellt. Der Unterschied zwischen den Zählweisen ist gravierend: Am Donnerstag, den 9. April 2020, gab das RKI für Hamburg 14 Todesfälle an, die Gesundheitsbehörde Hamburgs dagegen lediglich 8. Viele der Verstorbenen litten bereits an teilweise schweren Vorerkrankungen. Hamburg drängt deshalb darauf, dass bundesweit die Zählweise überprüft wird.
    https://www.merkur.de/welt/coronavirus-deutschland-rki-zahlen-statistiken-falsch-tote-covid-19-robert-koch-institut-kritik-zweifel-zr-13640817.html
    Kritisch hierzu auch die Leopoldina-Forscherinnen am 13. April 2020: „Sterblichkeitsraten, die das Verhältnis der an COVID-19 Verstorbenen zur Anzahl der Neuinfizierten quantifizieren, müssen auf der Basis aller Infizierten bzw. der Gesamtbevölkerung berechnet werden und nicht nur auf der Basis der registrierten Erkrankten. Das individuelle Sterberisiko durch COVID-19 muss auch vor dem allgemeinen Hintergrund der Multikausalität und Komplexität von Todesfällen stärker als bislang beachtet werden. Die Anzahl von an COVID-19 Verstorbenen muss ins Verhältnis gesetzt werden zu der Anzahl der in einem vergleichbaren Zeitraum in einer äquivalenten Altersgruppe an anderen Erkrankungen Verstorbenen.“ Leopoldina, 3. Ad-hoc-Stellungnahme vom 13. April 2020, S. 7. Inzwischen ist das RKI am 14. April 2020 als Reaktion auf die Kritik von Püschel von seinem Kurs abgewichen und empfiehlt nunmehr ausdrücklich die Durchführung von Obduktionen, nachdem sie zuvor wie oben dargelegt, davon abgeraten haben. https://www.tz.de/muenchen/stadt/muenchen-coronavirus-chefpathologe-interview-experten-tote-obduktion-erfolge- Seite 179 von 289 13657620.html; https://www.abendblatt.de/hamburg/article228902113/Corona-Virus-Hamburg-Schleswig-Holstein-beatmung-rki-news-blog-1404-Infizierte-Lockerung-Covid-19.html Warum sich das RKI solange gegen die Durchführung von Autopsien ausgesprochen hat, ist nicht ersichtlich. Die bisherigen Befunde von Püschel bestätigen sich weiterhin, inzwischen wurden 133 Menschen, die im Zusammenhang mit COVID-19 gestorben sind in Hamburg obduziert. Püschel stellte fest, dass das Durchschnittsalter der Verstorbenen bei 79,5 Jahren lag: „Dies entspricht in etwa dem mittleren Sterbealter, wie wir es aus der Bevölkerung auch ohne Corona kennen. […] Der überwiegende Anteil der Verstorbenen war schon vorher relativ alt und schwer krank. […] Es waren Menschen, die im Altenheim oder in Krankenhäusern darniederlagen und von der Infektion noch zusätzlich niedergedrückt wurden. Stark vereinfacht kann man auch formulieren, dass mit dem Ableben in absehbarer Zeit zu rechnen war. […] “…kein 50-Jähriger dabei gewesen mit gut eingestellter Diabetes oder gut eingestelltem Bluthochdruck.“ https://www.n-tv.de/panorama/Hamburger-Corona-Tote-waren-zuvor-erkrankt-article21742076.html (7) Italienische Zustände – kein Novum Seite 180 von 289 Die Situation, die in den norditalienischen Städten herrschte bzw. herrscht, ist im Übrigen bedauerlicherweise keineswegs eine noch nie dagewesene. Das Gesundheitssystem war auch 2018 durch die Behandlung einer Vielzahl an Grippepatientinnen überlastet. Operationen mussten verschoben werden, um Beatmungskapazitäten für Influenzapatientinnen, die an einer Lungenentzündung litten, bereit stellen zu können und Ärztinnen wurden aus ihrem Urlaub zurückgerufen.
    In einem Zeitungsartikel der renommierten italienischen Zeitung Corriere della Serra vom 10. Januar 2018 heißt es hierzu (deutsche Übersetzung):
    Seite 181 von 289
    Seite 182 von 289
    Seite 183 von 289
    Originalartikel:
    https://milano.corriere.it/notizie/cronaca/18_gennaio_10/mila
    no-terapie-intensive-collasso-l-influenza-gia-48-malati-gravimolte-
    operazioni-rinviate-c9dc43a6-f5d1-11e7-9b06-
    fe054c3be5b2.shtml?refresh_ce-cp
    Soweit ersichtlich wurde seitens des Verordnungsgeber bislang auch in
    Gänze unberücksichtigt gelassen, dass ein weiterer Erklärungsansatz für
    die unterschiedliche Betroffenheit der verschiedenen Städte bzw.
    Seite 184 von 289
    Einwohnerinnen und der Verlauf einer Lungenerkrankung auch in der unterschiedlich hohen Luftverschmutzung gefunden werden kann. So lag die Luftverschmutzung in Bergamo 2018 nach Angaben der European Environment Agency bei 53,10 μg/m3, in Madrid bei 43,58 μg/m3 in Mainz bei 38,14 μg/m3. https://www.eea.europa.eu/data-and-maps/dashboards/air-quality-statistics Dass Luftverschmutzung das Risiko viraler Lungenerkrankungen stark erhöht, entspricht den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Vgl. z.B. Croft et al. The Association between Respiratory Infection and Air Pollution in the Setting of Air Quality Policy and Economic Change. Ann. Am. Thorac. Soc. 2019, 16, 321–330. Auch Wuhan war im Januar 2020 besonders stark belastet, sodass auch hier ein Zusammenhang mit der Anzahl der schweren Krankheitsverläufe und der Luftverschmutzung naheliegt. https://www.eurasiareview.com/01022020-polluted-air-could-be-an-important-cause-of-wuhan-pneumonia-oped/; https://kurier.at/politik/ausland/wieso-italien-warum-das-land-so-schwer-vom-coronavirus-getroffen-wurde/400787480 Unter Beachtung des Vorgenannten verdient auch die Analyse von Oliver Meiler vom 19. März 2020 Zustimmung (Hervorhebungen durch die Unterzeichnerin): „Das Istituto Superiore di Sanità, Italiens oberstes Gesundheitsinstitut, hat nun eine Studie vorgelegt, in der es alle klinischen Daten der Opfer analysiert hat. Folgende Erkenntnisse und Mittelwerte kamen heraus: Seite 185 von 289 Das durchschnittliche Alter der Verstorbenen liegt bei 79,5 Jahren. Die deutlich am stärksten betroffene Altersgruppe sind die 80- bis 89-Jährigen. Nur fünf Menschen waren unter 40 Jahre, alle waren krank, ehe sie sich mit dem Virus infizierten. 70 Prozent der Opfer sind Männer. Drei Personen (0,8 Prozent) starben offenbar ausschließlich “am” Coronavirus – “ohne wenn und aber”, wie die Italiener sagen. Alle anderen litten an mindestens einer schweren Vorerkrankung. Die Hälfte hatte drei oder mehr Krankheiten, die häufigsten waren: Bluthochdruck, Diabetes, Krebs, Herz- und Atembeschwerden. […] Trotzdem fragen sich die Italiener natürlich, warum es gerade sie zuerst und so stark traf. Auch dazu gibt es viele Thesen und Erzählungen, die vielleicht nur so lange Bestand haben, bis Vergleichswerte aus anderen Ländern vorliegen. Grund eins ist demografisch: Italiens Bevölkerung gehört zu den betagtesten der Welt, das Durchschnittsalter liegt bei 46,3 Jahren. Fast 14 Millionen Italiener sind über 65 Jahre alt. Grund zwei: Das “Epizentrum” der Ausbreitung umfasst jene drei Regionen im Norden, alle in der Po-Ebene, die das wirtschaftliche und industrielle Herz des Landes bilden, die Lombardei, Venetien und die Emilia-Romagna. Nirgendwo in Europa ist die Luftverschmutzung größer. Viele ältere Bewohner leiden an Atemwegsbeschwerden. Und die Bevölkerungsdichte ist hoch: Ungefähr 40 Prozent der Italiener leben dort. Ein gefährlicher Mix. Zoomt man die besonders betroffenen Gebiete näher heran, rücken die Seite 186 von 289 Städte Lodi, Brescia und Bergamo ins Zentrum, letztere kämpfen mit schwindenden Kräften gegen die Katastrophe. Nur Mailand und Provinz blieben bisher relativ verschont, und weil in der Metropolregion drei Millionen Menschen eng an eng leben, ist es von zentraler Bedeutung, dass das so bleibt. Motiv drei: Italien ist durchaus zurecht stolz auf sein öffentliches, allen zugängliches Gesundheitswesen. Nur wurde es in der jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrise radikal zusammengespart. Der hochverschuldete Staat hat Forschungszuschüsse im vergangenen Jahrzehnt um 21 Prozent gekürzt und viele brillante Wissenschaftler ans Ausland verloren. Die Corona-Krise traf das System im ungünstigsten Moment. Motiv vier: Italien war das erste Land, das Flüge aus und nach China verbot. Die Maßnahme war nicht durchdacht: So reisten Passagiere aus China über Paris, Frankfurt und Zürich nach Italien ein, ungetestet. https://www.sueddeutsche.de/politik/coronavirus-italien-gruende-1.4851458 Die Warnung vor italienischen Verhältnissen seitens des RKI wurde jüngst auch vom CDU-Haushaltsexperte Andreas Mattfeldt kritisiert. Er kritisierte die Informationspolitik des RKI: “Ich war sehr irritiert, dass Professor Wieler italienische Szenarien für Deutschland skizziert hat.” Dies entbehre “jedweder Grundlage”. Bislang seien genug Intensivbetten in den Krankenhäusern vorhanden. https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/id_87649098/robert-koch-institut-kritik-an-informationspolitik-der-bundesbehoerde.html Seite 187 von 289 Die oben dargelegte These, dass eine Vorschädigung der Lungen durch Feinstaub und Abgase die Tödlichkeit des Virus verstärken könnte, erhärtet sich ferner zunehmend: Zu dem Ergebnis kommt jedenfalls auch eine amerikanische Forscherinnengruppe. Sie fanden heraus, dass bereits kleine Differenzen in der Luftqualität einen großen Unterschied machen, wie am 9. April 2020 in SPIEGEL Wissenschaft berichtet wurde. “Wir haben herausgefunden, dass schon ein Anstieg von einem Mikrogramm Feinstaub pro Kubikmeter Luft die COVID-19-Todesrate im Schnitt um 15 Prozent erhöht”, schreiben die Forscherinnen. Anders ausgedrückt: Hätte die Luft in Manhattan in den vergangenen 20 Jahren nur ein Mikrogramm weniger Feinstaubpartikel pro Kubikmeter enthalten, wären dort der Berechnung zufolge jetzt etwa 250 Menschen weniger im Zusammenhang mit COVID-19 gestorben. Die Studie wurde zwar noch nicht in einem anerkannten Fachjournal veröffentlicht, aber zur Begutachtung beim “New England Journal of Medicine” eingereicht. Es sei die erste landesweite Untersuchung zum Zusammenhang zwischen der Luftqualität und dem Verlauf von COVID-19-Erkrankungen in den USA, berichten die Wissenschaftlerinnen. Sie hoffen, dass die Erkenntnisse Regionen mit vergleichsweise schlechter Luftqualität helfen werden, sich auf eine erhöhte Zahl Infizierter mit schwerem Krankheitsverlauf vorzubereiten. “In Regionen mit schlechter Luftqualität werden mehr SARS-CoV-2-Infizierte ins Krankenhaus kommen und mehr werden sterben”, sagte etwa Dominici der “New York Times”.
    https://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/corona-virus-in-regionen-mit-schlechter-luftqualitaet-ist-die-todesrate-hoeher-a-b3d14b05-5f44-4706-b6e0-10544323abdc
    Auch die FAZ berichtete am 17. April 2020 über diese Studie.
    Seite 188 von 289
    https://www.faz.net/aktuell/wissen/corona-krise-verschaerft-schmutzige-luft-das-pandemie-desaster-16728901.html?utm_source=pocket-newtab
    Der Autor des vorgenannten Artikels verweist dann noch auf drei weitere Beobachtungsstudien, die er im Einzelnen kurz skizziert und die den Verdacht nahelegen, dass nicht nur die historische Vorbelastung allein, sondern vor allem die aktuelle Luftverschmutzung das Sterberisiko bei einer Sars-CoV-2-Ansteckung erhöht.
    https://www.faz.net/aktuell/wissen/corona-krise-verschaerft-schmutzige-luft-das-pandemie-desaster-16728901-p2.html
    (8)
    Zwischenfazit
    Nach alledem ist zu konstatieren, dass es keine wissenschaftliche Evidenz für die Notwendigkeit der Maßnahmen ab dem 23. März 2020 gibt und gab. Und schon gar nicht für deren Verlängerung.
    Der Staat muss sich rechtfertigen, wenn er in die Grundrechte der Menschen eingreift. Auch wenn sich dieser Grundsatz in den letzten Wochen faktisch umgekehrt hat. Die offiziellen Zahlen der staatlichen Einrichtungen, die über jeden Zweifel erhaben sein dürften, rechtfertigen die massiven Grundrechtseinschränkungen nach alledem erwiesenermaßen nicht.
    Die Politik hat die Situation falsch eingeschätzt, sie hat erst zu spät und dann auch noch zu heftig reagiert. Zu dem Zeitpunkt hatte das Infektionsgeschehen nach alledem bereits seinen Höhepunkt überwunden. Damit müssen sich wenigstens die Gerichte nun auseinandersetzen, da die Politikerinnen nicht bereit zu sein scheinen, ihren Kurs zu korrigieren. Seite 189 von 289 Dafür bedarf es Mut. Mut, den die Politikerinnen scheinbar nicht haben. Ihnen fehlen der Mut und das Rückgrat, einzuräumen, dass die Einschätzung – die so gravierenden Folgen für alle Bundesbürgerinnen nach sich zogen – fehlerhaft war. Stattdessen vertiefen sie die Rechtsverletzungen durch die Verlängerung der Verordnungen weiter, und stellen – wider wissenschaftlicher Evidenz – das aktuelle eingedämmte Infektionsgeschehen als Ergebnis der „richtigen Strategie“ dar, die man nun weiterverfolge. So äußerte sich beispielsweise Söder am 15. April 2020 wie folgt: „Eines kann man, glaube ich, sagen: Deutschland ist bislang im Vergleich zu vielen anderen Ländern besser durch diese schlimme Krise, die global stattfindet, gekommen. Wir können schon sagen, dass wir Corona zumindest anders unter Kontrolle haben, als das in vielen Ländern der Welt der Fall ist. Warum? Weil die Strategie, die wir entwickelt haben, die richtige war: Rechtzeitig, frühzeitig zu handeln und konsequent zu bleiben. Deswegen ist es wichtig, dass wir diesen grundlegenden Weg fortsetzen. Ich freue mich heute, dass wir weiter einen vorsichtigen Weg beschritten haben. Wir haben keine unkontrollierten Exit-Strategien diskutiert, sondern wir setzen weiter auf Vorsicht. Denn wir glauben, dass die größte Gefahr darin bestehen könnte, dass die guten Zahlen – was heißt „gute Zahlen“- , dass also die Entwicklung, die stabil ist, einen Rückschlag erleidet, wenn wir zu viel riskieren, wenn wir leichtsinnig werden und wenn wir Normalität vortäuschen, die es noch nicht geben kann, solange es keinen Impfstoff, solange es keine Medikamente gibt. Solange müssen wir einen Weg, ein Konzept finden, mit Corona zu leben – in Form von so viel Seite 190 von 289 Sicherheit wie möglich, aber auch mit den Möglichkeiten, den Menschen wieder die Freiheit zu geben.“ https://www.bundeskanzlerin.de/bkin-de/aktuelles/pressekonferenz-von-bundeskanzlerin-merkel-bundesminister-scholz-ministerpraesident-soeder-und-dem-ersten-buergermeister-tschentscher-im-anschluss-an-das-gespraech-mit-den-regierungschefinnen-und-regierungschefs-der-laender-1744310 Die Einschätzungsprärogative ist dann an ihre Grenzen gestoßen, wenn die Annahmen, die den Entscheidungen zugrunde liegen, – so wie hier – fehlerhaft sind. Es wird daher in Anlehnung an oben gestellte Fragen beantragt, dem Verordnungsgeber aufzugeben, zu den vorgenannten Ausführungen Stellung zu nehmen und zu erläutern, auf welche wissenschaftliche Grundlage er die Grundrechtseingriffe stützt. Er möge ferner darlegen, welche Argumente ihn zu der Annahme verleiten, die Pandemie rechtfertige ein derartiges Vorgehen, insbesondere in Abgrenzung zu sonstigen, in der Vergangenheit liegenden Infektionsgeschehen. Ferner soll er dazu Stellung nehmen, was das Ziel der Maßnahmen ist. Ob es die anfangs ausgerufene Eindämmung des Virus ist oder dessen Ausrottung. c. Geeignetheit der Maßnahmen Seite 191 von 289 Soweit die durch den Verordnungsgeber vorgelegten Daten bekannt sind, ist zu prüfen, ob die von ihm in der Verordnung angeordneten Maßnahmen zur Erreichung des Zwecks geeignet sind. Fraglich wird in diesem Zusammenhang insbesondere sein, ob durch die hier in der Verordnung ausgesprochenen Ver- und Gebote eine Verringerung der Übertragung überhaupt gesichert ist. Zu dieser Frage gibt es unterschiedliche Expertinnenmeinungen und -antworten. So liegen Studien vor, dass neben Krankenhäusern und Alten- und Pflegeheimen größter „Brandherd“ für Übertragungen der familiäre Kontakt ist.
    „Eine wirksame Quarantäne ist für die Bekämpfung des Coronavirus unerlässlich, und dies kann nicht ohne umfangreiche Tests auf Covid-19 geschehen, sagt der stellvertretende Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation, Bruce Aylward.
    “Um das Virus tatsächlich zu stoppen, musste [China] jeden Verdachtsfall schnell testen, jeden bestätigten oder verdächtigen Fall sofort isolieren und dann die engen Kontakte 14 Tage lang unter Quarantäne stellen, damit sie herausfinden konnten, ob einer von ihnen infiziert war”, sagte Aylward dem New Scientist in einem Exklusivinterview. “Das waren die Maßnahmen, die die Übertragung in China stoppten, nicht die großen Reisebeschränkungen und Ausgangssperren”.
    https://www.newscientist.com/article/2237544-who-expert-we-need-more-testing-to-beat-coronavirus/
    Der Verordnungsgeber müsste mithin plausible Berechnungsmodelle vorlegen, aus denen unter Verwendung der ermittelten Daten hervorgeht, dass die verordneten Beschränkungen einen signifikant hohen Abfall der Transmissionsrate bewirken können. Insbesondere wäre in dieses Berechnungsmodell einzubeziehen, welche Folgeschäden aufgrund einer Ausgangsbeschränkung bestehen. Mithin ob das Ziel,
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    Gesundheit und Leben der Allgemeinheit zu schützen mit einer solchen Maßnahme überhaupt erreicht werden kann, oder ob nicht die Maßnahme selber erst Gesundheit und Leben der Allgemeinheit erheblich gefährdet.
    In diesem Zusammenhang sind aktuelle Erkenntnisse zu häuslicher Gewalt gegenüber Partnerinnen und Partnern, sowie Kindern innerhalb des Beobachtungszeitraums vorzulegen. Weiterhin sind Erkenntnisse über die Meldung von psychischen Erkrankungen und Suizidversuchen und Suiziden vorzutragen.
    Weiterhin wird zu thematisieren sein, ob eine Absenkung der Übertragbarkeit durch die angeordneten Maßnahmen überhaupt erreicht werden kann, wenn zugleich zur Aufrechterhaltung von absoluten Mindeststandards die in der Verordnung erlaubten Ausnahmetatbestände gegeben sind.
    Soweit aufgrund der notwendigen Ausnahmetatbestände eine Reduzierung der Übertragungsrate ohnehin nicht gegeben ist, ist die dem zugrundeliegende Maßnahme auch nicht geeignet.
    d.
    Erforderlichkeit
    Sollte es dem Verordnungsgeber gelingen den legitimen Zweck und die Geeignetheit der Maßnahmen darzulegen, so sind die ergriffenen Maßnahmen jedenfalls nicht (mehr) erforderlich.
    Beschränkungen der Grundrechte sind erforderlich, wenn der Gesetzgeber nicht ein anderes, gleich wirksames, aber das Grundrecht nicht oder weniger stark einschränkendes Mittel hätte wählen können.
    BVerfGE 30, 292 (316) = NJW 1971, 1255; BVerfGE 63, 88, 115 = NJW 1983, 1417; BVerfGE 67, 157 (173, 176) = NJW 1985, 121.
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    Zu berücksichtigen ist, dass dem Gesetzgeber bei der Beurteilung der Eignung und Erforderlichkeit des gewählten Mittels zur Erreichung der erstrebten Ziele sowie bei der in diesem Zusammenhang vorzunehmenden Einschätzung und Prognose, der dem Einzelnen oder der Allgemeinheit drohenden Gefahren, ein Beurteilungsspielraum zusteht, welcher vom Bundesverfassungsgericht je nach der Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs, den Möglichkeiten, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden, und der auf dem Spiel stehenden Rechtsgüter nur in begrenztem Umfang überprüft werden kann.
    BVerfG NJW 2008, 2409, 2413; BVerfGE 96, 56, 64 = NJW 1997, 1769; BVerfGE 77, 170, 215 = NJW 1988, 1651; BVerfGE 88, 203, 262 = NJW 1993, 1751 = NStZ 1993, 483 = NZS 1993, 353.
    Der Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers findet jedenfalls dann seine Grenzen, wenn die Erwägungen offensichtlich fehlgehen und vernünftigerweise keine Grundlage für eine gesetzgeberische Maßnahme darstellen können.
    BVerfG, Beschluss vom 21. Dezember 2011 – 1 BvR 2007/10 –, juris, Rn. 29 = NJW 2012, 1062 ff.
    aa.
    Andere gleichwirksame Mittel
    Zuvördest sei der Hinweis erlaubt, dass auch die Leopoldina-Forscherinnen Zweifel an der Erforderlichkeit der Maßnahmen am 13. April 2020 äußerten: „Während an der prinzipiellen Geeignetheit der ergriffenen Maßnahmen zur Erreichung des Ziels, insbesondere der Abflachung der Infektionskurve, ebenfalls kein Zweifel bestehen Seite 194 von 289 dürfte, sieht das beim dritten Punkt, der Erforderlichkeit, möglichweise anders aus. Denn hier lautet die Frage, ob es nicht mildere Maßnahmen gleicher Effektivität gibt.“ Leopoldina, 3. Ad-hoc-Stellungnahme vom 13. April 2020, S. 11. Sähe man die Prognosen als ausreichende Grundlage um eine Erforderlichkeit anzunehmen, ist dem aber jedenfalls entgegen zu halten, dass das Ziel, Infektionen zu reduzieren, aber auch durch weniger einschneidende Grundrechtseingriffe erreicht werden kann. Voranzustellen sind hier erneut Erwägungen von Schrappe et al., in welchen die Wirksamkeit, bzw. die Notwendigkeit der hier angegriffenen einschneidenden Maßnahmen in Frage gestellt wird (Hervorhebungen durch die Unterzeichnenden): „1. Wirksamkeit der allgemeinen Präventionsmaßnahmen (containment): Die Situation und die Wirksamkeit der Maßnahmen in China ist aufgrund der Politisierung des Epidemie-Geschehens und der stark eingeschränkten Pressefreiheit kaum zu bewerten. In den europäischen Staaten mit strengen Regelungen bzgl. des shutdowns ist jedoch auch nach mehrwöchigem Einsatz wie z.B. in Italien (seit 8.3.2020) keine eingreifende Verbesserung der Situation in Sicht (wenn man von einer leichten Abflachung absieht), weder gemessen an den gemeldeten Infektionszahlen noch gemessen an der Mortalität. Einschränkend ist natürlich festzuhalten, dass es keine Vergleichsgruppe gibt, d.h. man weiß nicht, welchen Verlauf die Infektionszahlen genommen hätten, wenn man keine Maßnahmen ergriffen hätte. Es bleibt jedoch die wichtige Beobachtung bestehen, dass sich weder im Verlauf der Infektionszahlen noch in der Letalität zwischen den Ländern ein großer Unterschied zeigt, der auf die unterschiedlichen Seite 195 von 289 Ausprägungen der Ausgangsbeschränkungen und der Einschränkungen der Berufsausübung zurückzuführen wäre. So lässt sich insbesondere nicht ablesen, dass es mit stärkerer Einschränkung bis hin zum shutdown zu einer deutlicher verzögerten Ausbreitung käme, als wenn man „nur“ niedriggradigere Empfehlungen z.B. zum social distancing gibt. Insbesondere der Schutz der Risikogruppen (v.a. hohes Alter und Multimorbidität) wird durch die allgemeinen, unspezifischen Präventionsmaßnahmen nicht verwirklicht, sondern im Gegenteil ist eine Gefährdung dieser Gruppen durch die eingeschränkte Wirksamkeit dieser Maßnahmen nicht ausgeschlossen. Es muss daher auf die Einschätzung des Deutschen Ethikrates hingewiesen werden, dass für den Fall, dass eine Strategie „… innerhalb eines gesetzten Zeitraums nicht zu dem gewünschten Erfolg der Vermeidung einer Überlastung des Gesundheitssystems …“ führt oder „… andere gesundheitliche, wirtschaftliche und psychosoziale Schäden …“ überwiegen, „… die Legitimität der Strategie [endet]“ (Deutscher Ethikrat 2020).“ http://www.matthias.schrappe.com/einzel/thesenpapier_corona.pdf, dort S.19 Zu Recht weisen sie auch daraufhin, dass die Wahrscheinlichkeit einer neuen Infektionswelle steigt, je erfolgreicher die Maßnahmen die Kurve abflachen lässt: „2. Paradoxie in der Zeitachse: Falls man jedoch trotz der o.g. Einschränkungen von einer Wirksamkeit der verschiedenen containment-Strategien ausgeht, treten große Schwierigkeiten dahingehend auf, dass man das entsprechende Vorgehen zeitlich nicht zu limitieren weiß. Um so wirksamer das „Abflachen der Kurve“ ist, um so wahrscheinlicher ist das Auftreten neuer Wellen nach Lockerung der Maßnahmen, weil in der Seite 196 von 289 vorangegangenen Welle eine relevante Immunität der Bevölkerung nicht erreicht werden konnte. In Abhängigkeit von der Saisonalität der Infektion wird insbesondere der Winter 2020/21 bedeutsam werden, vor allem wenn zusätzliche negative Einflüsse durch die Verschlechterung der sozialen Lage und der Ernährungssituation nicht auszuschließen sind.“ http://www.matthias.schrappe.com/einzel/thesenpapier_corona.pdf, dort S. 20. (1) Beschränkung der Regelungen auf besonders gefährdete Menschen Einig sind sich die Expertinnen jedenfalls in der Benennung von Risikogruppen.
    Es genügt vor dem Hintergrund, dass in der Bevölkerung eine Immunität aufgebaut werde muss, nur diejenigen mit einer strengen Kontaktsperre zu belegen, bei denen statistisch eine deutlich höhere Gefahr für einen schweren Krankheitsverlauf besteht.
    Dass inzwischen evident ist, dass bestimmte Risikogruppen besonders betroffen sind, wird beispielsweise auch von einer aktuellen Studie von Forscherinnen des Londoner Imperial College, über die Jan Wittmann am 31. März 2020 berichtete, bestätigt: „Die groß angelegte Erhebung zeigt, welche Altersgruppen wie stark von einer Infektion betroffen sind. Kinder und Teenager starben praktisch nie, unter den 20- bis 29-Jährigen waren es auch nur 0,03 Prozent. Von den Menschen über 80 hingegen starben ungefähr 7,8 Prozent. Auf Grundlage des Datensatzes ergibt sich in der Studie so ein Mittelwert von 0,66 Prozent. Berücksichtigt man nur all jene, die eine Diagnose bekommen hatten, lässt also die Dunkelziffer außen vor, starben 1,38 Prozent Seite 197 von 289 der Patientinnen und Patienten. Hatten die Menschen Vorerkrankungen stieg der Anteil derer, die starben, in allen Altersklassen. Die Ergebnisse sind eine Bestätigung dessen, was die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schon länger betont: “Auch wenn wir immer noch viel darüber lernen, wie sich Covid-19 auf Menschen auswirkt, scheinen ältere Personen und Personen mit Vorerkrankungen häufiger schwer zu erkranken.”“ […] Erstmals schätzten die Forscher auch, wie viele der Infizierten einen so schweren Verlauf haben, dass sie im Krankenhaus behandelt werden müssen. Insgesamt gelte das für ungefähr 8 Prozent aller Patientinnen und Patienten, heißt es. Aber auch hier gibt es starke Altersunterschiede. Unter Kindern fanden die Forscher keinen einzigen schweren Fall, unter Teenagern nur einen einzigen. Besonders stark stieg das Risiko nach dem fünfzigsten Lebensjahr an. Bei den über Achtzigjährigen musste dann fast jeder Fünfte ins Krankenhaus.“ https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2020-03/coronavirus-risikofaktoren-studie-alter-erkrankung-covid-19 Auch Gerd Gigerenzer weist auf diese Evidenz hin (Hervorhebungen durch die Unterzeichnenden): ZEIT ONLINE: Anfangs hieß es, das Virus treffe alle Menschen gleich. Stimmt das aus Sicht des Risiko-Experten? Gigerenzer: Das Virus trifft nicht alle gleich, aber es verfolgt auch keine Absichten. In Italien etwa wurden nicht die Ärmsten getroffen, sondern mit dem Schwerpunkt Norditalien die Reichsten. Die Opfer sind meist Menschen in fortgeschrittenem Alter. Für mich war der Bericht der italienischen Seite 198 von 289 Gesundheitsbehörden sehr interessant, in dem die ersten 3.200 Covid-19-Toten untersucht wurden. Nur ein Prozent war jünger als 50 und es traf doppelt so viele Männer wie Frauen. Bei der Spanischen Grippe traf es dagegen viele junge Menschen. ZEIT ONLINE: Was folgt daraus für die Frage: Wen schützt man? Gigerenzer: Aus der Altersstruktur folgt schon, dass der Schutz der Älteren im Vordergrund stehen muss. Die Frage ist bloß: Wie kann dieser Schutz aussehen? In den USA hat die Schließung der Universitäten dazu geführt, dass man die Studenten nach Hause geschickt hat. Meine Tochter studiert in den USA in Princeton, dort haben viele Studenten vor der Abreise noch richtig Party gemacht und einige sich mit dem Virus infiziert. Und nun liegen sie krank zu Hause bei den Eltern und haben möglicherweise Oma und Opa angesteckt. ZEIT ONLINE: Das war also keine kluge Maßnahme. Gigerenzer: Eher nicht. Wichtiger wäre es, individuelle Risikokompetenz zu entwickeln.“ Zu Recht weist er auch auf die zu erwarteten Folgen für die Gesellschaft hin: „ZEIT ONLINE: Zwei Punkte, an denen sich normales Leben festmacht, sind Schule und Arbeit. Heißt das, Sie würden dafür plädieren, an diesen beiden Stellen bald wieder in eine Vor-Corona-Normalität einzusteigen? Gigerenzer: Richtig. Wobei man dann natürlich infizierte Fälle isolieren und kontrollieren muss. Das heißt: eine Kombination von maximaler Freiheit der Nicht-Infizierten und maximaler Seite 199 von 289 Kontrolle der Infizierten. Und dazu gehört auch Selbstkontrolle, also das, was ich Risikokompetenz nenne, und nicht nur staatliche Kontrolle. ZEIT ONLINE: Was wäre der richtige Zeitpunkt dafür? Nach den Osterferien? Gigerenzer: Das wäre wünschenswert, aber das können wir derzeit nicht wissen, das muss man kurzfristig entscheiden. Unter Ungewissheit hat es keinen Sinn, Fünfjahrespläne zu machen. Aber unser Leben kann so auch nicht weitergehen, das hätte enorme Kosten für die Gesellschaft.“ https://www.zeit.de/gesellschaft/2020-03/gerd-gigerenzer-risiko-forschung-coronavirus-pandemie/komplettansicht Aus dem Lagebericht des RKI vom 23. April 2020 ergibt sich ferner, dass Kinder mit unauffälligem Immunsystem füreinander offenbar nicht gefährlich sind. Auch Frauen sind offenbar weniger gefährdet als Männer. Beides macht die Auswertung des RKI vom 23. April 2020 zu den Daten der Verstorbenen deutlich. Wobei auch hier zu beachten gilt, dass die Kausalität des Todes nicht geklärt ist. Nach wie vor werden alle Verstorbenen, die positiv getestet sind, als COVID-19-Tote gezählt. Insgesamt sind hiernach 5.094 Personen in Deutschland im Zusammenhang mit einer COVID-19-Erkrankung verstorben. Es handelt sich um 2.935 (58%) Männer und 2.156 (42%) Frauen, für 3 Personen ist das Geschlecht unbekannt. Der Altersmedian liege bei 82 Jahren (!). Von den Todesfällen waren 4.409 (87%) Personen 70 Jahre und älter. Im Unterschied dazu beträgt der Anteil der über 70-Jährigen an der Gesamtzahl der übermittelten COVID-19-Fälle nur 19%. https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/2020-04-23-de.pdf?__blob=publicationFile Seite 200 von 289 Diese Zahlen sprechen eine deutliche Sprache und zeigen, dass offensichtlich eine Differenzierung nach dem Alter nicht nur gerechtfertigt werden kann, sondern geboten ist. Kekulé äußerte sich bereits am 26. März 2020 wie folgt: „Spätestens seit dem Ausbruch in Norditalien ist klar, dass Hochaltrige und Menschen mit bestimmten Vorerkrankungen ein besonders hohes Risiko für schwere und tödliche Verläufe haben. Wenn wir diese Risikogruppen konsequent schützen, kann die Sterblichkeit durch Covid-19 nach meiner Beurteilung in eine Größenordnung reduziert werden, die sich von einer schweren Influenzasaison nicht wesentlich unterscheidet. Auch eine Überlastung der medizinischen Versorgung wird dadurch vermieden.“ https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2020-03/coronavirus-quarantaene-lockdown-ausgangssperre-alternative-pandemie-alexander-kekule/seite-2 Auch Willich befürwortete einen besonderen Schutz von gefährdeten Personengruppen: „Deswegen ist es sinnvoll und notwendig, bestmöglichen Schutz für diese gefährdeten Personengruppen zu entwickeln. Es ist vermutlich nicht zu verhindern, dass die Pandemie durch die Welt geht und große Teile der Menschheit infiziert. Die Frage ist, ob das Monate oder Jahre dauert. Und natürlich, wann Impfstoffe zur Verfügung stehen werden.“ https://www.tagesspiegel.de/politik/epidemiologe-warnt-vor-noch-schaerferen-massnahmen-gibt-keinen-grund-das-ganze- Seite 201 von 289 land-in-haeusliche-quarantaene-zu-schicken/25672822.html?utm_source=pocket-newtab Zuspruch findet ein solches Vorgehen auch bei dem Infektiologen Ansgar Lohse (Hervorhebungen durch die Unterzeichnenden): „Ohne eine Impfung, die vor 2021 nicht kommen wird, kann die unkontrollierte Ausbreitung des Virus nur gestoppt werden, wenn eine ausreichende Zahl von Menschen eine Immunität entwickelt. Die Epidemie wird sonst jedes Mal neu aufflammen, wenn wir die Maßnahmen lockern. Wir müssen zulassen, dass sich diejenigen, für die das Virus am ungefährlichsten ist, zuerst durch eine Ansteckung immunisieren.“ https://www.bz-berlin.de/deutschland/klinikdirektor-wir-muessen-mehr-ansteckungen-zulassen Schrappe et. al. definierten ebenfalls Risikogruppen und kritisieren die unterschiedslos durchgeführten Maßnahmen: „Das derzeitige Vorgehen ist als isolierte Maßnahme theoretisch nicht ausreichend begründet, denn es handelt sich, wie im Abschnitt zur Epidemiologie ausgeführt, bei Covid-19 nicht um eine Epidemie, die alle Bevölkerungsteile gleichermaßen betrifft, sondern um eine Epidemie mit relativ genau benennbaren Risikogruppen  hohes Alter,  Komorbidität,  nosokomiales Risiko und  Kontakt zu lokalen Clustern. Aufgrund ihrer Komplexität erscheint es nicht zielführend, auf eine einzige Form der Maßnahmen zu setzen, nämlich die Seite 202 von 289 unterschiedslose Beschränkung der persönlichen Kontakte. So ist es – anders als z.B. bei einer Influenza-Epidemie, wo in der älteren Bevölkerung durch die vorangegangenen Infektionswellen eine (unvollständige) Immunität existiert – nicht nachvollziehbar, warum sich Kinder und Personen jüngeren Alters nicht frei bewegen können, zumindest solange sie ältere Personen oder solche mit Prädispositionen nicht kontaktieren. Dies gilt umso mehr, als dass sich diese Gruppe im Verlauf der Epidemie aller Wahrscheinlichkeit nach in jedem Fall anstecken wird (aber nicht bzw. nur selten erkrankt).“ http://www.matthias.schrappe.com/einzel/thesenpapier_corona.pdf, dort S. 20 f. Trotz der dargestellten unterschiedlichen Risiken für die verschiedenen Bevölkerungsgruppen unterliegen aktuell dennoch alle Altersgruppen, Männer wie Frauen, Gesunde und chronisch Kranke denselben Beschränkungen. Dabei wird weder nach dem Risiko, schwer zu erkranken oder zu sterben, noch nach sozialen, wirtschaftlichen und emotionalen Gesichtspunkten unterschieden. Die Beschränkung der weiterführenden Regelungen auf besonders gefährdete Personen ist verfassungsmäßig unter Hinweis auf die unterschiedliche hohe Risikoexposition auch grundsätzlich rechtfertigungsfähig. Für derartige zielgruppen-spezifische Präventionsstrategien spricht sich auch Schrappe et. al. aus. http://www.matthias.schrappe.com/einzel/thesenpapier_corona.pdf, dort S. 21 Ein besonderes Risiko sieht aktuell auch Drosten, er befürchtet, dass sich das Infektionsgeschehen von der bislang hauptsächlich betroffenen jungen und mittelalten Bevölkerung zur älteren Bevölkerung über 70 Seite 203 von 289 Jahre verschiebt, was seines Erachtens zu einer noch nicht bekannten Belastung der Intensivstationen führen könnte. https://www.merkur.de/welt/coronavirus-drosten-deutschland-welle-infizierte-tote-rki-virologe-zahlen-experte-zr-13684583.html Es liegt auf der Hand, dass vor dem Hintergrund, dass die Erkrankung offensichtlich im Wesentlichen für ältere Menschen gefährlich ist, diese – auch möglicherweise gegen ihren Willen zur Aufrechterhaltung des Gesundheitssystems – zu schützen sind. Das kann bewerkstelligt werden, indem beispielsweise Menschen ab 70 Jahren aufgegeben wird, in den Situationen, in denen sie keinen Abstand von 1,5 Meter einhalten können (wie im öffentlichen Personennahverkehr und in Geschäften), eine Schutzmaske der Kategorie FFP2 oder FFP3 tragen. Selbstverständlich muss der Verordnungsgeber dafür Sorge tragen, dass diese Masken auch zur Verfügung stehen. Sollte er das nicht können, kann er die Versäumnisse jedenfalls nicht dadurch kompensieren, dass er stattdessen einfachheitshalber in die Grundrechte aller Menschen eingreift. Denkbaren wären z.B. auch Läden dazu zu verpflichten, zu bestimmten Zeiten nur Angehörige von Risikogruppen zu bedienen. Da es abstrakt schwerfallen dürfte, Risikogruppen zu definieren, wäre eine Möglichkeit, allen Menschen ab 60 Jahren aufzugeben, eine Risikoabklärung bei ihrem Hausarzt bzw. bei ihrer Hausärztin durchzuführen. Dieses Vorgehen soll sicherstellen, dass nur diejenigen Menschen mit Grundrechtseingriffen belastet werden, die tatsächlich statistisch ein erhöhtes Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf haben. Seite 204 von 289 In diesem Sinne auch: https://www.tagesschau.de/inland/quarantaene-alte-menschen-corona-101.html Eine altersmäßige Anknüpfung erscheint – so man entgegen der hier vertretenen ‚Ansicht überhaupt einen derartigen Handlungsbedarf sieht – sinnvoll, da es statistisch unstreitig die Hauptrisikogruppe darstellt. Gleichzeitig sind sie nicht mehr im Erwerbsleben, womit die Sanktionen sie weniger treffen als den Großteil der Bevölkerung. Es wird beantragt, dem Verordnungsgeber aufzugeben, darzulegen, warum er es abgelehnt hat, Schutzkonzepte für bestimmte Risikogruppen zu entwickeln. (2) Ausweitung der Testkapazitäten Die Erfolge Südkoreas in der Eindämmung des Virus beruhen insbesondere auch darauf, dass dort direkt zu Beginn eine große Anzahl an Tests durchgeführt wurde. Dadurch konnten Infektionsherde schnell identifiziert und isoliert werden. In keinem Land werden pro Einwohnerin mehr Tests durchgeführt und Infektionsketten konsequenter rekonstruiert als in Südkorea.
    https://www.vorwaerts.de/artikel/corona-korea-andere-laender-umgang-krise-lernen; https://www.merkur.de/politik/coronavirus-suedkorea-vorbild-deutschland-corona-krise-covid-19-merkel-zr-13597775.html; https://www.tagesspiegel.de/politik/epidemiologe-warnt-vor-noch-schaerferen-massnahmen-gibt-keinen-grund-das-ganze-
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    land-in-haeusliche-quarantaene-zu-schicken/25672822.html?utm_source=pocket-newtab
    Der Einwand, dass es zu wenig Testkapazitäten gäbe, hat sich inzwischen offenkundig erledigt. Allerdings galt er zu keiner Zeit, worauf Kekulé zu verweisen:
    „Dafür müssen die Testkapazitäten ausgeweitet und die Logistik verbessert werden. Die deutschen Universitäts- und Privatlabore haben dafür ausreichende Reserven. Der bisher verwendete Test, der auf einem aufwendigen molekularbiologischen Verfahren beruht, dauert allerdings mehrere Stunden und kann nur mit speziellen Laborgeräten durchgeführt werden.“
    https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2020-03/coronavirus-quarantaene-lockdown-ausgangssperre-alternative-pandemie-alexander-kekule/seite-3
    Genau diese Maßnahme – die nicht erst jetzt bekannt sind – die das mildere Mittel sind, weil sie gezielt gegen Störer gerichtet sind, wurden nun dem Innenministerium in einem Strategiepapier vorgeschlagen, wie am 27. März 2020 bekannt wurde. Dort wird empfohlen, dass die Testkapazität in Deutschland “sehr schnell” hochgefahren werden solle. So spielen sie ein Szenario durch, in dem die Testkapazitäten bis Ende April schrittweise auf 200.000 Tests am Tag erhöht werden sollen.
    https://www.tagesschau.de/investigativ/ndr-wdr/corona-strategiepapier-szenarien-101.htm; https://www.sueddeutsche.de/politik/coronavirus-tests-strategie-1.4858950
    Ergänzend darf auf den erfolgreichen Umgang Taiwans mit dem Virus hingewiesen werden – auch dieser Erfolg basiert vorwiegend auf konsequentes Test.
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    https://www.freiheit.org/jetztmutmachen-taiwan-stiller-sieg-uber-corona
    (3)
    Schutzkonzepte statt Schließungen und Besuchsverbote
    Der Verordnungsgeber sieht wie oben dargelegt ein Schutz- und Hygienekonzept vor, unter welchem Geschäfte geöffnet haben dürfen.
    Diese Maßnahmen können ebenso gut auf für eine Vielzahl an verbotenen Betrieben und Einrichtungen angewendet werde. Zum Beispiel Gastronomiebetriebe – wenigstens für die, die einen Außenbereich haben. Auch sie können mit Hygienevorschriften belegt werden.
    Das einzige einleuchtende Kriterium kann nur das nach einem Schutzkonzept sein. Wer ein solches vorlegen kann, dem muss die Öffnung erlaubt sein.
    (4)
    Schweden und Dänemark
    Ein schwedischer Publizist erklärt im britischen Spectator: „Es ist nicht Schweden, das ein Massenexperiment durchführt. Es sind alle anderen Länder, die das tun.“ Schweden ist wegen seiner lockeren Maßnahmen unter internationaler Kritik. Es zeichnet sich jedoch ab, dass das Land damit besser abschneiden wird, als alle andere mit der harten Linie.
    In einer Betrachtung, die auch Kollateralschäden einbezieht durch nicht erfolgte ärztliche Behandlung von Nicht-Corona Fällen, Schäden und Traumatisierungen die Kinder durch die Isolierung erleiden, sowie Folgeschäden durch die wirtschaftlichen Probleme, schneidet aber
    Seite 207 von 289
    Schweden besser ab als die Länder, die den Shutdown und Quarantäne durchgezogen haben.
    https://www.meinbezirk.at/niederoesterreich/c-politik/modell-schweden-zur-bewaeltigung-der-coronakrise-erfolgreich_a4033593
    Schweden hält auch weiter an seiner Strategie fest, wie im Tagesspiegel am 9. April 2020 zu lesen war:
    In Schweden gibt es bisher wenig Beschränkungen. In dem Land mit seinen rund zehn Millionen Einwohnern sind Grundschulen, Bars, und Restaurants geöffnet. Die Regierung appelliert lediglich immer wieder an die Bürger, soziale Kontakte zu minimieren, Abstand zu halten, Hygienevorschriften einzuhalten, nach Möglichkeit im Homeoffice zu arbeiten und bei Krankheitssymptomen auf keinen Fall zur Arbeit zu fahren. Zudem gilt ein Versammlungsverbot für mehr als 50 Menschen sowie ein Besuchsverbot in Pflegeheimen.
    Dennoch oder vielleicht gerade wegen des schwedischen Sonderwegs hat Löfven seine Landsleute per Interview vorsorglich auf Tausende Tote vorbereitet. Er rechnet auch damit, dass die Pandemie sein Land noch Monate beschäftigen wird, wie er DN am vergangenen Wochenende sagte.
    Die Einschränkungen im Alltag werden also nicht nach Ostern aufhören. Auch das ist ein Argument der schwedischen Führung, nicht auf einen kompletten Lockdown zu setzen. Die jetzige Strategie soll notfalls über Monate weiterverfolgt werden.
    https://www.tagesspiegel.de/wissen/schweden-in-der-coronavirus-krise-es-ist-nicht-die-loesung-alles-zu-schliessen/25730582.html
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    Dabei hat die Regierung jüngst vom Parlament weitreichende Befugnisse bekommen, um etwa Ausgangssperren oder die Schließung von Geschäften verhängen zu können. Davon hat sie aber noch keinen Gebrauch gemacht.
    https://www.rbb24.de/panorama/thema/2020/coronavirus/beitraege_neu/2020/04/schweden-sonderweg-corona-restaurants-kontaktsperren.html
    Am 19. April 2020 beschäftigte sich der Tagesspiegel erneut mit dem „Sonderweg“ Schwedens und warf die Frage auf, ob sie doch am Ende richtig lagen. Darauf deutet zumindest gegenwärtig vieles hin:
    https://www.tagesspiegel.de/wissen/kampf-gegen-das-coronavirus-liegt-schweden-am-ende-doch-richtig/25750526.html
    Auch Lohse, der Direktor der Hamburger Universitätsklinik, hält das Vorgehen Schwedens für richtig und äußerte sich schon am 9. April 2020 wie folgt:
    „Die schwedischen Maßnahmen sind meines Erachtens die rationalsten weltweit. Natürlich stellt sich die Frage, ob das psychologisch durchzuhalten ist. Anfänglich müssen die Schweden mit deutlich mehr Todesfällen rechnen, die sich aber mittel- bis langfristig dann deutlich reduzieren. Abgerechnet wird in einem Jahr – wenn die Schweden es durchhalten. Die Angst vor der Virusinfektion zwingt Politiker leider oft zu Handlungen, die nicht unbedingt vernünftig sind. Die Politik ist getrieben, auch durch die Bilder der Medien.“
    https://www.abendblatt.de/hamburg/article228880917/uke-professor-shutdown-lohse-deutschland-hamburg-corona-virus-
    Seite 209 von 289
    infektion-covid-19-impfstoff-coronavirus-krise-patienten-immunitaet-krankenhaeuser-kontaktverbot-kliniken-infektionsrate.html
    In Dänemark wird der Lockdown inzwischen bereut: „Wir hätten nie den Stoppknopf drücken sollen. Das dänische Gesundheitssystem hatte die Situation unter Kontrolle. Der totale Lockdown war ein Schritt zu weit.“, argumentiert Professor Jens Otto Lunde Jørgensen vom Aarhus Universitätskrankenhaus. Dänemark fährt derzeit den Schulbetrieb wieder hoch und lockerten so früher als geplant ihre Maßnahmen.
    https://www.stern.de/politik/ausland/daenemark-lockert-corona-lockdown-schneller-als-geplant-und-oeffnet-kitas-und-schulen-9223030.html
    Deutliche und berechtigte Kritik am „deutschen Weg“ ist nunmehr aus Schweden zu vernehmen am 23. April 2020 berichtete der Tagesspiegel über die warnenden Worte des schwedischen Epidemiologen und Regierungsberater Johan Giesecke. Grund für die knallharten Maßnahmen in vielen Ländern Europas sei aus seiner Sicht gewesen, „dass sich Politiker in ganz Europa ein Rennen geliefert haben, wer härter und schneller durchgreift.“ Fakt jedoch sei: „Es gibt keinen wissenschaftlichen Beleg, dass Lockdowns tatsächlich einen Effekt haben.“ Was die Ausbreitung des Coronavirus verlangsame, sei Händewaschen und soziale Distanzierung. Es brauche aber „keine Gesetze und keine Polizei“, damit sich die Bürger an die Regeln halten. „Die Menschen sind nicht dumm.“
    Die Strategie von Bundeskanzlerin Angela Merkel sei im Gegensatz zu Schwedens Vorgehen „nicht nachhaltig“. Deutschland könne „nicht auf Dauer in diesem Stillstand bleiben“ und werde „seine Beschränkungen aufheben, weil es nicht anders geht“. Das führe jedoch dazu, was die Bundesregierung bekämpfen wollte: „Es wird wieder mehr Infektionen geben.“
    Seite 210 von 289
    Das Argument, dass die Kontaktsperren die Krankenhäuser vor dem Kollaps gerettet hätten, lässt Giesecke nicht gelten. „Die Prognosen für den Bedarf an Krankenhausbetten waren zu hoch.“ Studien, die vor Hunderttausenden Toten warnten, seien „extrem übertrieben“. Die meisten EU-Länder hätten ausreichende Kapazitäten. Der Professor garantiert: „Unser Gesundheitssystem ist nicht kollabiert und es wird nicht kollabieren.
    Mit Blick auf die vergleichsweise hohe Zahl der Todesfälle in seinem Land sagt Giesecke: „Wir sollten die Todeszahlen in einem Jahr zählen.“ Die Länder mit den härteren Maßnahmen würden dann genauso viele Tote haben wie Schweden. „Der einzige Unterschied zu Schweden ist, dass die Todesfälle in diesen Ländern später passieren – nachdem sie ihre Maßnahmen gelockert haben.
    https://www.tagesspiegel.de/wissen/schon-mehr-als-2000-coronavirus-tote-premier-loefven-spricht-schweden-letzte-warnung-aus/25763490.html
    Die neuesten Zahlen zu Patienteninnen und Todesfällen in Schweden zeigen offenkundig, dass die Epidemie dort dem Ende entgegengeht: Seite 211 von 289 https://www.meinbezirk.at/niederoesterreich/c-politik/schweden-epidemie-geht-ohne-lockdown-zu-ende_a4042380#gallery=null Hier wird ersichtlich, dass die Zahl der Todesfälle in Schweden seit dem Höhepunkt in der zweiten April Woche deutlich zurückgeht. Der schwedische Staatsepidemiologe Tegnell geht davon aus, dass das neuartige Coronavirus SARS-CoV-2 „nicht aufzuhalten ist“. Und er ist auch der Überzeugung, dass die Kurve flach gehalten werden müsse, um Krankenhäuser nicht zu überlasten. Doch Tegnell hatte von Anfang an auch die sozialen Folgen im Blick: Die Einschränkungen sollten nicht zu streng sein, damit Menschen auch bereit sind, diese über Monate zu akzeptieren. Zudem hofft er darauf, dass auf diese Weise genug widerstandsfähige Menschen an Covid-19 erkranken, um eine Immunität gegen den Erreger zu entwickeln. https://www.meinbezirk.at/niederoesterreich/c-politik/schweden-epidemie-geht-ohne-lockdown-zu-ende_a4042380#gallery=null Seite 212 von 289 (5) Zwischenfazit Nach alledem ist deutlich geworden, dass es jedenfalls gleich geeignete, mildere Maßnahmen gibt. Dass die milderen Maßnahmen ggf. schlechter durchgesetzt bzw. kontrolliert werden können ist letztlich kein Argument, welches in der Erforderlichkeit durchgreift, was der Rechtswissenschaftler Frederik Ferreau in seinem Beitrag am 14. April 2020 zutreffend skizziert: „Was bedeutet nun der prognostische Charakter der Erforderlichkeitsprüfung für die Bewertung der Gleichgeeignetheit verschiedener Infektionsschutzmaßnahmen? Auf den ersten Blick ist nicht ersichtlich, dass die milderen Mittel weniger geeignet sein sollen als „harte“ Regelungen: Nach derzeitigem Kenntnisstand schließt bereits die Einhaltung von Abstands- und Hygienevorgaben eine Übertragung aus und verlangsamt so die Virusausbreitung. Etwas anderes ergibt sich erst auf den zweiten Blick: Denn es ist zu erwarten, dass diese Vorgaben nicht flächendeckend eingehalten werden und ihr „Bremseffekt“ daher geringer ausfällt. Hier wird nun die (Prognose der) Rechtsdurchsetzbarkeit zum Argument in der Erforderlichkeitsbewertung: Ist das mildere Mittel gegenüber dem härteren nur mit (erheblich) größerem Aufwand durchsetzbar, so ist es weniger geeignet. Ist aber dem Staat zuzumuten, mildere Mittel durch Etablierung eines disziplinierend wirkenden Vollzugsregimes durchzusetzen, erweisen sie sich als gleichgeeignet. Auf die aktuelle Situation gewendet: Die Durchsetzung von Veranstaltungsverboten oder Geschäftsschließungen ist für Ordnungskräfte leichter zu kontrollieren als die Einhaltung kleinteiliger Abstands- oder Hygienevorgaben. Allerdings Seite 213 von 289 könnte eine gewisse Anzahl an Verstößen gegen diese Vorgaben immer noch tolerabel sein, wenn sie in der Addition nicht eine Überforderung des Gesundheitssystems erwarten lassen. Zudem können (Stichproben-)Kontrollen zur Einhaltung milderer Regelungen, die wiederum von abschreckend wirkenden Sanktionen flankiert sind, ein hinreichend effektives Rechtsdurchsetzungsregime formen. […] Dass die genannten milderen Mittel ähnlich effektiv (durchsetzbar) sein können wie härtere Regelungen, liegt auch am zu erwartenden Verhalten der Bevölkerung: Die zurückliegenden Wochen haben die Bürger mit Abstands- und Hygieneregelungen vertraut gemacht und sie für die Gefahr sensibilisiert. Dadurch entsteht neben dem staatlichen Vollzugs- auch zusätzlicher „sozialer Druck“, der auf Mitmenschen ebenso wie Geschäftsinhaber und Veranstalter disziplinierend wirken kann. Auch dies sollte künftig in die Beurteilung der Effektivität staatlicher Infektionsschutzmaßnahmen einfließen.“ https://www.juwiss.de/56-2020/ Hier hat sich der Verordnungsgeber ersichtlich darauf zurückgezogen prophylaktisch pauschal weiterhin das meiste zu untersagen, ohne sich im Detail die Mühe zu machen, präzise zu differenzieren. Das mag vielleicht für einige wenige Tage hinnehmbar sein, aber jedenfalls nicht für nunmehr über vier Wochen. e. Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn Zuletzt sind die tiefgreifenden Einschnitte in die Freiheitsgrundrechte auch nicht im engeren Sinne verhältnismäßig. Seite 214 von 289 Bei der gebotenen Gesamtabwägung muss zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht sowie der Dringlichkeit der ihn rechtfertigenden Gründe die Grenze der Zumutbarkeit für die Adressaten des Verbots gewahrt sein. BVerfG, NJW 2008, 1137, 1138 Die Maßnahme darf sie mithin nicht übermäßig belasten (Übermaßverbot oder Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne), insoweit findet im Wesentlichen eine Zweck-Mittel-Relation statt, bei der geprüft wird, ob die Maßnahme unter Berücksichtigung der Intensität des Eingriffs nicht außer Verhältnis zu dem Rechtsgut steht, das zurücktreten muss. BVerfG, NVwZ 2019, 1432 (1433) Rn. 26; BVerfGE 115, 320 (345) = NJW 2006, 1939; BVerfGE 90, 145 (173) = NJW 1994, 1577; BVerfGE 83, 1 (19) = NJW 1991, 555 Zwar birgt eine exponentielle Phase – zu der es nie kam – einer Epidemie bereits aufgrund der Vielzahl an Betroffenen – weitestgehend unabhängig von der tatsächlichen Gefährlichkeit des Virus – eine Gefahr für die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems, indes ist die notwendige Reduzierung der Fallzahlen, wie oben dargelegt, sogar ohne die restriktiven Maßnahmen erreicht worden. Die Reproduktionszahl ist bereits seit dem 21. März 2020 stabil, also seit einem Zeitpunkt, an dem die hier angegriffenen Maßnahmen noch gar wirken konnten. Selbst bei anderer Bewertung steht hier jedenfalls die Intensität des Eingriffs außer Verhältnis zu den Rechtsgütern, die zurücktreten müssen. Hier wird tiefgreifend in das Allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG), die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG), die Seite 215 von 289 körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG), die Bewegungsfreiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) die Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG), die Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG), die Freizügigkeit (Art. 11) sowie die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) eingegriffen. Insbesondere die Freiheit der Person nimmt einen hohen Rang („unverletzlich“) unter den Grundrechten ein und ist letztlich Grundlage und Voraussetzung der Entfaltungsmöglichkeiten des Bürgers. BVerfG BeckRS 2019, 16417 Rn. 24; BVerfGE 128, 326 (372) = NJW 2011, 1931 (1936) Es handelt sich vorliegen nicht um bloße Unannehmlichkeiten, die den Verordnungsadressatinnen und dem Kläger aufgebürdet werden, sondern um tiefgehende Eingriffe in die Kernbereiche gleich mehrerer Grundrechte. Insbesondere ist durch diese Maßnahmen absurderweise auch die Gesundheit aller Menschen durch die Maßnahmen gefährdet, wie im Folgenden noch näher dargelegt wird.
    Die Folgen des lock downs sind auch derart gravierend und weitreichend, dass es sich hier gerade nicht um eine bloße und vermeintlich einfache Abwägung zwischen Gesundheit oder Wirtschaft handelt.
    Nicht nur SAR-CoV-2, auch Isolation kann krank machen, worauf eine Expertinnen-Gruppe um den Leiter des ifo-Instituts Clemens Fuest und dem Mediziner Martin Lohse hinweist: „Es geht also nicht um die falsche Alternative: medizinische Versorgung oder wirtschaftliche Produktivität. Sondern es geht darum, die ökonomische Basis der medizinischen wie der sonstigen Infrastruktur unseres Gemeinwesens kurz-, mittel- und langfristig zu sichern und die verheerenden Folgen zu vermeiden oder doch abzufedern, die ein mehr als wenige Seite 216 von 289 Wochen dauernder weitgehender Stillstand weiter Teile der Ökonomie und des öffentlichen Lebens ebenso nach sich ziehen würde wie eine Pandemie mit zahlreichen schwer Erkrankten und Toten.“ https://www.ifo.de/DocDL/Coronavirus-Pandemie-Strategie-Fuest-Lohse-etal-2020-04.pdf. S. 2. Das ifo-Institut hat u.a. berechnet, dass der aktuell einmonatige shut down das Bruttoinlandsprodukt um 4,3 bis 7,5 Prozent einbrechen lassen könnte. Ein dreimonatiger Stillstand könnte bis zu 729 Milliarden Euro kosten und im schlimmsten Fall 1,8 Millionen Arbeitsplätze vernichten und verweist auch auf die soziopsychologischen Folgen. Vgl. zu alledem https://www.tagesspiegel.de/politik/ausstieg-aus-den-corona-beschraenkungen-forscherteam-legt-plan-fuer-ende-des-stillstands-vor/25713670.html Ferner stellten Fuest/Lohse et. al. in ihrem am 2. April 2020 publizierten Strategiepapier fest: „Gleichzeitig haben diese Maßnahmen negative Konsequenzen für die medizinische Betreuung bei anderen Erkrankungen als COVID-19 und insgesamt für gesundheitliche, soziale und psychische Belange sowie für das wirtschaftliche Fundament unserer Gesellschaft. All dies trifft neben den medizinischen Risikogruppen besonders sozioökonomisch schlecht gestellte Menschen, alte Menschen, Menschen mit Behinderungen, Alleinerziehende und Familien mit kleinen Kindern, Alleinlebende, Obdachlose, kranke und psychisch labile Personen.“ https://www.ifo.de/DocDL/Coronavirus-Pandemie-Strategie-Fuest-Lohse-etal-2020-04.pdf, dort S. 1 Seite 217 von 289 Auch der Deutsche Ethikrat hat in einer am 27. März 2020 veröffentlichten ad-hoc Empfehlung zur Corona-Krise auf die weitreichenden Folgen hingewiesen und gemahnt: „Systemgefährdungen durch die Beschränkungen lassen sich in nahezu allen gesellschaftlichen Teilsystemen prognostizieren: In der Wissenschaft etwa, wenn weder die Forschungsinfrastruk-turen aufrecht erhalten werden können noch der fachliche Aus-tausch im erforderlichen Maß gepflegt werden kann. Auch das Bildungssystem wird seiner gesamtgesellschaftlich bedeutsamen Funktion nicht mehr gerecht. Sport und Kultur sind erheblich beeinträchtigt. Von besonderer Bedeutung sind darüber hinaus: Sozialpsychologische Folgen: Der Lockdown zielt darauf ab, den Anstieg der Infektionen zu bremsen, um eine Überforde-rung der Gesundheitsversorgung zu verhindern. Zur Rettung des Lebens schwer Erkrankter ist dies notwendig. Aber auch erwartete Nebenwirkungen bedrohen die Gesundheit, mög-licherweise sogar das Leben insbesondere solcher Personen, die vulnerablen Gruppen angehören. Dazu gehören: Patienten, deren medizinische Behandlung als derzeit nicht zwingend notwendig ausgesetzt wird, Personen in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, der Behindertenhilfe, der Sozialpsychiatrie und in Pflegeheimen, denen Besuche weitgehend vorenthalten und für die nahezu sämtliche Freizeit-, Arbeits-, Bildungs- und Therapie-Angebote eingestellt werden, Seite 218 von 289 Frauen und Kinder, die von häuslicher, durch sozialen Stress induzierter Gewalt bedroht sind, Personen, denen Vereinsamung droht. Ökonomische Folgen: Die Krise macht, worauf von verschiedener Seite zu Recht hingewiesen wird, nicht nur deutlich, dass in solchen Fällen mehr als lediglich ein handlungsfähiger Staat, nämlich mittel- bis langfristig auch eine funktionierende Marktwirtschaft für die Bewältigung der Situation gebraucht wird. In bestimmten Branchen – etwa der Hotellerie, dem Gastgewerbe, dem Kulturbereich – wird gegen-wärtig die wirtschaftliche Existenz vor allem von Kleinunter-nehmern und Selbstständigen gefährdet, die für ihr tägliches Auskommen auf regelmäßige Einnahmen angewiesen sind. Zugleich verlieren viele Menschen, gerade auch in prekären Arbeitsverhältnissen, ihre Arbeit. Neben absehbaren Wohl-standsverlusten für jedermann durch eine drohende weltweite Rezession sind außerdem Probleme der Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs und die Sicherung der Kapazitäten und des Know-hows in der Produktion zu bedenken. Nicht zuletzt hängen die unmittelbare Versorgung medizinischer Einrichtungen mit der für die klinische Behandlung notwendigen Ausrüstung und die Sicherung gebotener Hygienestandards von funktionierenden Versorgungsstrukturen ab. Vor allem zu befürchten ist aber ein Zusammenbruch des marktwirtschaftlichen Gesamtsystems, wenn in Deutschland zu viele Unternehmen der mittelständischen Industrie aufgrund naturgemäß meist geringer Kapitalreserven Insolvenz anmelden müssen. Dabei genügt es aus strukturellen Gründen nicht, solche Insolvenzen zu verhindern; vielmehr sollte es auch darum gehen, das operative Geschäft wieder zu ermöglichen. Dies ist nur Seite 219 von 289 erreichbar, wenn die komplex vernetzte Interaktion von Produzenten untereinander und mit den Konsumenten im Rahmen der Rechtsordnung wieder hinreichend in Gang kommen kann und ein jedenfalls teilweise normalisiertes Konsumverhalten wieder möglich wird. Elementare Bedingungen demokratischer Kultur: Auf längere Sicht ist es selbst für eine gefestigte Demokratie problematisch, in einem Zustand zu verharren, in dem insbesondere die gerade als Korrektiv und Impulsgeber für die demokratischen Prozesse gedachten Grundrechtsgarantien weitgehend außer Kraft gesetzt sind, oder wenn etwa Wahlen verschoben werden oder auf Briefwahl gesetzt wird. Für den Rechtsstaat ist es zudem elementar wichtig, nicht in ein Denken in Kategorien des Ausnahmezustands zu verfallen.“ Der Ethikrat wirft außerdem die Frage auf, inwieweit die Krise – selbst wenn sich die Strategie des shut downs als erfolgreich erweisen sollte (was wie gesagt nicht der Fall war) – überhaupt die Zurücksetzung der vorgenannten Interessen legitimiere kann (Hervorhebungen durch die Unterzeichnenden): „Soweit man diese Interessen überhaupt für einen bestimmten Zeitraum (Konstellation I) als nachrangig einzustufen bereit ist, dürften sie sich jetzt als starke Gründe für die Durchbrechung der Strategie erweisen. Entsprechende Überlegungen gelten für die Berücksichtigung ökonomischer Folgeerwägungen. Die absehbare weltweite Rezession, der massive Rückgang des Bruttoinlandprodukts und die damit verbundenen Belastungen der öffentlichen Haushalte lassen sich nämlich mit quantitativen Kennziffern nicht hinreichend erfassen. Sie haben, wie die skizzenhafte Zusammenstellung deutlich gemacht hat, Auswirkungen auf existenzielle Funktionsbedingungen eines Seite 220 von 289 Gemeinwesens, dessen sozialstaatliche Solidarität auf wirtschaftliche Leistungsfähigkeit angewiesen ist. Solche und ähnliche Überlegungen bedürfen der ernsthaften gesellschaftlichen Debatte auch schon in Zeiten der Krise. Dabei wird auch zu erörtern sein, welche Lebensrisiken eine Gesellschaft als akzeptabel einzustufen gewillt ist und welche nicht. Die in den kommenden Monaten erforderliche Bestandsaufnahme und Evaluation wird dabei auch den rechtlichen Ordnungsrahmen eingehend zu analysieren haben – nicht zuletzt mit kritischem Blick auf die neuetablierten Eingriffsbefugnisse.“ Abschließend hält er zu Recht fest: „Krisen so heißt es oft, seien die „Stunde der Exekutive“. Das greift zu kurz. Gerade in der Krise ist auf das Zusammenwirken des gewaltengegliederten und zudem föderal differenzierten Staates mit der Vielfalt gesellschaftlicher und namentlich wissenschaftlicher Stimmen zu setzen. Die aktuell zu klärenden Fragen berühren die gesamte Gesellschaft; sie dürfen nicht an einzelne Personen oder Institutionen delegiert werden. Gerade schmerzhafte Entscheidungen müssen von den Organen getroffen werden, die hierfür durch das Volk mandatiert sind und dementsprechend auch in politischer Verantwortung stehen. Die Corona-Krise ist die Stunde der demokratisch legimitierten Politik.“ Vgl. zu alledem Deutscher Ethikrat, Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise, AD-HOC- Empfehlung vom 27.03.2020. Seite 221 von 289 Eine prägnante Zusammenfassung der Folgen des shut downs findet sich auch bei Schrappe et. al.: „Auch bei Präventionsmaßnahmen, vor allem wenn sie in das soziale und politische Leben einer Gesellschaft tief eingreifen, muss der zu erwartende Nutzen gegen die möglichen negativen Folgen abgewogen werden (s. Stellungnahme des deutschen Ethikrates, 2020). Es gibt zahlreiche Stimmen, die darauf hinweisen, dass die Wahrscheinlichkeit nicht gering ist, dass die Kollateralfolgen einen größeren negativen Einfluss auf die Bevölkerung haben als sie von der eigentlichen Pandemie ausgehen (Abele-Brehm et al. 2020, Konrad und Thum 2020, Straubhaar 2020). Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hat in seinem aktuellen Sondergutachten darauf hingewiesen, dass es einen deutlichen Zusammenhang zwischen Fortdauer der Einschränkungen der Freizügigkeit und Berufsausübung und den zu erwartenden wirtschaftlichen Folgen gibt (SVR 2020). Es besteht außerdem Einigkeit darüber, dass auch von der Beschränkung sozialer Kontakte und von Arbeitslosigkeit ein relevantes Morbiditätsrisiko ausgeht. Zusätzlich zur biologischen Ansteckung darf nicht noch eine soziale und emotionale Ansteckung durch Ängste auftreten, die zu unerwünschten sozialen Folgen führen könnte (z.B. Anschwärzen der Nachbarn; Anpöbeln alter Menschen in Discount-Läden; Stigmatisierung). Die Überprüfung der Verhältnismäßigkeit muss daher fortlaufend erfolgen und kann nicht einmalig für einen unbestimmten Zeitraum getroffen werden. Weiterhin sind normative Grenzen in der rechtsstaatlichen Verfasstheit zu beachten. […] Seite 222 von 289 Für die europäischen Demokratien muss daher der nicht verhandelbare Grundsatz gelten, dass die demokratische Gesellschaftsform nicht gegen Gesundheit ausgespielt werden darf http://www.matthias.schrappe.com/einzel/thesenpapier_corona.pdf, dort S. 20 und 25. Deutlich weist im Weiteren Bosbach auf die Gefahren des shut downs hin: „Wir müssen auch auf die sozialen Folgen der Maßnahmen zu sprechen kommen. Ein Beispiel: Demenzkranke Menschen in Heimen werden jetzt von maskierten Pflegern möglichst körperlos betreut. Das wirft die Betroffenen völlig aus der Bahn bis hin zur Gefahr, daran zu sterben. Solche Härten gibt es jetzt zuhauf. Menschen verlieren ihre Arbeit, versauern zu Hause, häusliche Gewalt und Kindesmissbrauch wachsen. Da sind die Existenzsorgen meines Italieners und meines Stammtheaters vergleichsweise harmlos. Wenn harte Maßnahmen ergriffen werden, dann will ich vorher auch bitte harte Fakten sehen. Nicht dass wir später sagen müssen, die meisten Opfer entstammen der Therapie, nicht der Krankheit.“ https://www.nachdenkseiten.de/?p=59903 Auch Antes verwies auf die Folgen des shut downs und mahnte zur Besonnenheit: SPIEGEL: Sollte die Gesundheit hier nicht vor wirtschaftlichen Interessen stehen? Antes: Natürlich, nur kann man das so isoliert nicht betrachten. Es geht darum, Risiken und Chancen aller Optionen abzuwägen. Von den aktuellen Schutzmaßnahmen sind deutlich mehr Seite 223 von 289 Menschen betroffen als direkt vom Coronavirus bedroht. Riskieren wir eine dauerhafte Rezession, bedeutet das den wirtschaftlichen und persönlichen Schaden oder sogar Ruin für Millionen Menschen. Das kann ebenfalls schwere gesundheitliche Folgen haben. Dazu kommen schwere soziale Schäden, wie etwa häusliche Gewalt und Vereinsamung, ebenfalls mit gesundheitlichen Auswirkungen. https://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/coronavirus-die-zahlen-sind-vollkommen-unzuverlaessig-a-7535b78f-ad68-4fa9-9533-06a224cc9250 Deutlich zu machen ist an der Stelle auch, dass es nicht möglich ist – so aber die Argumentation des Verordnungsgebers – alleine der Logik eines maximalen Infektionsschutzes zu folgen. Vielmehr sind für die Gesamtabwägung neben den massiven Grundrechtseinschränkungen selbst vor allem – wie gerade bereits überblicksmäßig gezeigt – auch mittelbare Auswirkungen der Verbotsmaßnahmen sowie deren nicht-intendierte Nebenfolgen in den Blick zu nehmen: etwa der Anstieg an häuslicher Gewalt, die erhöhte Selbstgefährdung, womöglich eine höhere Suizidrate aufgrund sozialer Isolation usw. Es handelt sich hierbei ohne Zweifel um eine sehr komplexe und voraussetzungsvolle Aufgabe, bei der man den staatlichen Institutionen einen weiten Einschätzungsspielraum wird zubilligen müssen. Entscheidend ist jedoch, dass eine solche Gesamtbetrachtung vorgenommen wird und nicht den seuchenpolizeilichen Imperativ absolut setzt. In diesem Sinne auch: https://www.ifo.de/DocDL/Coronavirus-Pandemie-Strategie-Fuest-Lohse-etal-2020-04.pdf, dort S. 20. Seite 224 von 289 Die beachtenswerten Gedanken des Staatsrechtlers Uwe Volkmann vom 10. April 2020 sollen hier ebenfalls Gehör finden: „Das Grundrecht auf Leben ist in unserer Verfassung ein wichtiges Grundrecht, es ist aber nicht das höchste Gut in unserer Gesellschaft. Das höchste Gut ist die Menschenwürde, die der Verfassungsgeber bewusst an den Anfang des Grundgesetzes gestellt hat und die allen anderen Rechten vorgeht. […]. Es kann nicht das Ziel der gegenwärtigen Politik sein, Ansteckung und damit die Ausbreitung der Krankheit um jeden Preis zu vermeiden. Ein solcher Krankheitvermeidungsabsolutismus ist kein Ziel, das sich sinnvollerweise erreichen lässt.“ Er beobachte außerdem zunehmend, dass die „Ausübung von Freiheit“ in der Gesellschaft von Angst geprägt sei. Die Angst in der Gesellschaft nehme zu und infiziere diese wie ein Virus. Daher erwarte er von einer verantwortungsvollen Politik, den Bürgerinnen und Bürgern diese Angst zu nehmen und nicht wie ein Präventionsstaat von vorneherein alles einzuschränken. Zu Recht warnt er auch davor, dass die Ausgangsbeschränkungen und die damit verbundenen Einschränkungen der Grundrechte auch Auswirkungen auf unser künftiges Zusammenleben hätten. Bewegungsfreiheit, freie Ausübung von Berufen, politische Versammlungen – all das sei aktuell nicht möglich, so Volkmann. Sollte dieser Zustand länger anhalten, könnte das das Prinzip unserer freiheitlichen Gesellschaft insgesamt infrage stellen. Zu alledem: https://www.deutschlandfunk.de/staatsrechtler-zu-ausgangsbeschraenkungen-volkmann-recht.691.de.html?dram:article_id=474458 Seite 225 von 289 In diesem Sinne äußerten sich auch die Leopoldina-Forscherinnen am 13. April 2020:
    „Die Maßnahmen, die mit Blick auf die Pandemie den Schutz von Leben und Gesundheit bezwecken, ziehen an anderer Stelle gerade Einbußen dieser Rechtsgüter nach sich. Diese dürfen bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht ausgeblendet und einem Primat des seuchenpolizeilichen Imperativs geopfert, sondern müssen in eine Gesamtabwägung mit eingestellt werden. Entscheidend ist, dass diese Erweiterung der Perspektive überhaupt vollzogen und so der Multidimensionalität der Lage Rechnung getragen wird. Man könnte von einem Gebot der multidimensionalen Risikobewertung sprechen, die an die Stelle der monothematischen Ausrichtung allein auf das Ziel der Eindämmung der Pandemie tritt. Erst die Einbeziehung der nicht-intendierten Nebenfolgen macht die ganze Komplexität dieser Aufgabe der Abwägung kollidierender Güter deutlich“
    Leopoldina, 3. Ad-hoc-Stellungnahme vom 13.04.2020, S. 11.
    Der Verordnungsgeber hat sich hier ersichtlich lediglich von Erwägungen des maximalen Infektionsschutzes leiten lassen.
    Volkmann analysierte bereits am 1. April 2020 gegenüber der FAZ die Situation der Freiheitsgrundrechte in Deutschland zutreffend:
    „Die wirtschaftlichen Rechte, vor allem als Rechte der beruflichen und unternehmerischen Betätigung: für ganze Zweige der Wirtschaft, deren Läden oder Betriebstätten nun geschlossen sind, im Verordnungsweg aufgehoben, danach möglicherweise für immer wertlos geworden, weil die Betriebe vernichtet sind. Die Versammlungsfreiheit: ausgesetzt, mancherorts sogar ohne jede Befristung, und dies gerade in einer
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    Situation, in der man darüber nachdenken könnte, ob man sie in ihrer zentralen Funktion nicht gerade jetzt brauchen könnte. Die Freizügigkeit im Bundesgebiet: erheblichen Einschränkungen ausgesetzt, ansonsten kaum noch wahrgenommen unter der Wirkung des allgegenwärtigen Appells „Bleibt zu Hause“. Die Ausreisefreiheit: rechtlich wie faktisch noch stärker zurückgenommen als in der ehemaligen DDR, die einen immerhin in die sozialistischen Bruderstaaten ließ.
    Die Glaubensfreiheit: reduziert im Wesentlichen auf das Recht zur Hausandacht, wie letztmals zur Zeit der Religionskriege. Die freie Entfaltung der Persönlichkeit, auch als Möglichkeit, mit anderen Menschen in Austausch und Beziehung zu treten: bis auf weiteres auf die Wege der Telekommunikation begrenzt, wie bislang nur bei den Troglodyten der digitalen Welt. Die körperliche Bewegungsfreiheit: irgendwie noch gewahrt, aber nur in sicherem Abstand zu den Mitmenschen, zudem der beständigen Kontrolle durch die soziale Gemeinschaft und die Polizei ausgesetzt.“
    https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/staatsrecht-und-die-wuerde-des-menschen-16705618.html?premium
    In den bisher erlassenen Gerichtsentscheidungen wurde nach hiesiger Ansicht die Bedeutung des Lebensschutzes regelmäßig über- und die Bedeutung der eingeschränkten Grundrechte unterschätzt. Insbesondere fehlt es häufig an der notwendigen Differenzierung zwischen dem individuellen Lebensrecht- und risiko des Einzelnen und der real zu erwartenden Belastung für das Gesundheitssystem. Denn nur dann, wenn eine Versorgung aller Menschen, die Hilfe benötigen, nicht mehr gewährleistet werden kann, wird ein überragend wichtiges Rechtsgut, nämlich die Menschenwürde tangiert. Eine Differenzierung zwischen dem Schutz des individuellen Lebens und der Gefahr für das Gesundheitssystem, was letztlich eine Gefahr für die Menschenwürde
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    (Triage) darstellt, wird – soweit ersichtlich – regelmäßig nicht vorgenommen.
    Vor diesem Hintergrund ist darauf hinzuweisen, dass aktuell das Gesundheitssystem in seiner Gesamtheit nicht überlastet ist.
    Am 18. April 2020 meldeten von 1.179 gemeldeten klinischen Standorte nur 51 eine Auslastung an, 381 vermeldeten erste Engpässe und 737 gaben an, freie Kapazitäten zu haben. Am 18. April 2020 waren von 27.911 Intensivbette 58 % belegt, davon lediglich 2.701 von COVID-19-Patientinnen. In Bayern sind 64 % der Intensivbetten belegt, in Hessen sind es 60 %. Zu alledem: https://interaktiv.morgenpost.de/corona-deutschland-intensiv-betten-monitor-krankenhaus-auslastung/ . Nach den Angaben im Intensivregister waren am 18. April 2020 von bundesweit 28.175 Intensivbetten, 11.515 frei. Von den 16.660 belegten Betten entfielen 2.749 auf COVID-19 Patientinnen.
    https://www.intensivregister.de/#/intensivregister
    Am 19. April 2020 verbesserte sich der Überblick über die freien Intensivkapazitäten durch die am 16. April in Kraft getretene Einführung einer gesetzlichen Meldepflicht freier Intensivbetten weiter. Die deutschen Krankenhäuser haben nach Einführung der Meldepflicht bisher mehr als 30.000 Intensivbetten gemeldet. “Stand heute stehen in Deutschland mindestens 30.058 Intensivbetten, 17.393 davon sind belegt und 12.665 frei”, erklärte der Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi), Uwe Janssens. Dieses Ergebnis sei “fantastisch”.
    https://www.n-tv.de/panorama/Kliniken-melden-13-000-freie-Intensivbetten-article21724765.html
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    Mit Stand 23. April 2020 (9:15Uhr) beteiligen sich 1.241 Klinikstandorte am DIVI-Intensivregister. Insgesamt wurden 33.716 Intensivbetten registriert, wovon 19.412 (58%) belegt sind; 14.304 (42%) Betten sind aktuell frei.
    https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/2020-04-23-de.pdf?__blob=publicationFile
    Mit Stand 26. April (9:15Uhr) beteiligen sich 1.245 Klinikstandorte am DIVI-Intensivregister. Insgesamt wurden 32.067 Intensivbetten registriert, wovon 18.884 (59%) belegt sind; 13.183 (41%) Betten sind aktuell frei.
    https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/2020-04-26-de.pdf?__blob=publicationFile
    Nicht ersichtlich ist indes, warum die grundsätzlich zur Verfügung stehende Anzahl an Intensivbetten vom 23. April auf den 26. April 2020 trotz Zunahme der beteiligten Klinikstandorte weniger geworden ist.
    Bevor im Folgenden zu den weitreichenden Folgen der Grundrechtseinschränkungen vorgetragen wird, darf noch auf die Kritik des Weltärztepräsident Montgomery vom 15. April 2020 eingegangen werden.
    „Seine Politik der harten Hand führt offensichtlich nicht zum Erfolg. Bayern steht bei den Infektionszahlen von allen Ländern am schlechtesten da. Es hat auch die höchste Sterbequote und die niedrigste Verdopplungszeit bei den Infektionen – das ist in diesem Fall schlecht. Dass Herr Söder da Ängste entwickelt, kann ich nachvollziehen. Es hilft aber nichts, das Denken
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    auszuschalten. Wir brauchen Vernunft, keine dramatischen Aktionen.
    […]
    Wir wollen die Kurve flach halten – was sehr gut ist. Ich habe auch nichts gegen Handyortungen, wenn das freiwillig geschieht. Aber je länger wir den Menschen Maßnahmen wie Kontakteinschränkungen aufbürden, desto problematischer wird ihre individuelle Situation – vor allem für alte und einsame Menschen, aber selbst in Familien. Da muss man in bestimmtem Umfang Freiheiten zulassen, sonst gerät die Situation aus den Fugen und der Konsens in der Gesellschaft geht verloren.
    […]
    Das wird bis ins nächste Jahr hineingehen. Am Ende werden wir versuchen müssen, alle gegen das Virus immun zu werden. Für 85 Prozent der Bevölkerung ist das problemlos möglich. Die anderen, die Gefährdeten, müssen wir schützen, bis wir sie impfen können. Einen Impfstoff wird es aber wohl erst Anfang bis Mitte 2021 geben – und auch nicht gleich für alle 400 Millionen EU-Bürger.
    https://www.merkur.de/politik/coronavirus-bayern-soeder-aerztepraesident-montgomery-kritik-aktuelle-zahlen-karte-statistik-politik-krise-13646323.html
    aa.
    Soziale Isolation
    Durch die angegriffenen Verordnungen wird das Sozialleben der Klägerund aller Normadressatinnen in seinen Grundfesten erschüttert. Die Schließungen von Kultureinrichtungen, Vergnügungsstätten, Seite 230 von 289 Messen, Märkten, Kinos, Spielplätze, Cafés, Restaurants etc. zusammen mit dem Vereinzelungsgebot führen zu der beabsichtigten sozialen Isolierung jedes Einzelnen. Willich machte zu den zu erwartenden Folgen schon am 24. März 2020 warnende Ausführungen (Hervorhebungen durch die Unterzeichnenden): „Hätte man in den letzten Tage nichts unternommen, wären Engpässe möglich, vor denen Herr Drosten völlig zu Recht gewarnt hat. Aber wenn die Maßnahmen, die letzte Woche in Kraft getreten sind, konsequent weitergeführt werden, dann erwarte ich eine deutliche Verringerung der Neuerkrankungen. Das hat man in Südkorea gesehen, dort übrigens ohne allgemeine Ausgangssperren. In Deutschland scheinen sich die meisten Bürgerinnen und Bürger vernünftig zu verhalten und es gibt aus meiner Sicht keinen Grund, jetzt das ganze Land in die häusliche Quarantäne zu schicken. Als Sozialmediziner muss ich zudem die gesellschaftlichen Perspektiven berücksichtigen. Mit einem kompletten Lockdown gefährdet man direkt oder indirekt die wirtschaftliche Existenz vieler Menschen, schon jetzt sind nachteilige Auswirkungen zu sehen. Die Arbeitslosenzahlen könnten nach oben gehen und prekäre Lebensverhältnisse sowie in Folge auch psychische Erkrankungen zunehmen. Und es ist nachdrücklich belegt, dass Armut der wichtigste gesellschaftliche Risikofaktor für Krankheitshäufigkeit und höhere Sterblichkeit ist. Wenn jetzt einzelne Todesfälle verhindert werden, sich dafür aber in den nächsten Jahren die Gesamtsterblichkeit in der Bevölkerung erhöht, wäre die Verhältnismäßigkeit der Mittel nicht mehr gewahrt.“ Seite 231 von 289 https://www.tagesspiegel.de/politik/epidemiologe-warnt-vor-noch-schaerferen-massnahmen-gibt-keinen-grund-das-ganze-land-in-haeusliche-quarantaene-zu-schicken/25672822.html?utm_source=pocket-newtab Weiter führt er zu Recht an: „Die aktuelle Bedrohung darf nicht zu Reaktionen verleiten, mit denen gravierende zukünftige gesundheitliche Krisen eingeleitet werden.“ In Bezug auf die deutschlandweite Kontaktsperre meldete sich auch Andres Heinz, der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (DGPPN), zu Wort und warnte vor den Folgen der sozialen Isolation. Diese könne psychische Störungen verstärken. Eine längere als die bisher festgelegte zweiwöchige Kontaktsperre könne für Betroffene schwierig werden. Die Gefahr sei groß, dass schwerkranke Patienten den Verzicht auf den persönlichen Kontakt nicht lange aushielten, warnte Heinz. Er und seine Kolleginnen befürchten, dass beispielsweise die Zahl der Suizide steigen könnte.
    https://www.berliner-kurier.de/panorama/psychiater-warnen-vor-ansteigender-suizidrate-bei-laengerer-kontaktsperre-li.79446; https://www.deutschlandfunk.de/covid-19-psychologen-warnen-vor-folgen-der-corona-krise.2850.de.html?drn:news_id=1113830
    In der Pressemitteilung der DGPPN vom 26. März 2020 heißt es u.a.:
    „Menschen mit psychischen Erkrankungen, ältere Patienten, Patienten mit psychischen Vorerkrankungen und neurologische Patienten leiden angesichts der Corona-Pandemie verstärkt unter sozialer Isolation und Ängsten.“
    Seite 232 von 289
    https://www.dgppn.de/presse/pressemitteilungen/pressemitteilungen-2020/corona-versorgung.html
    Betroffen sind hiervon aktuell mehrere Millionen Menschen, wie die DGPPN im selben Schreiben informiert:
    „Pro Quartal werden 2,5 Mio. gesetzlich Versicherte bei Fachärztinnen und -ärzten für Psychiatrie und Psychotherapie bzw. Nervenheilkunde behandelt. 1,5 Mio. gesetzlich Versicherte nehmen Leistungen bei Ärztlichen und Psychologischen Psychotherapeutinnen und -therapeuten in Anspruch. Hinzu kommen die Psychiatrischen Institutsambulanzen (PIA), welche aktuell 2,5 Mio. Behandlungsfälle verzeichnen. Die teilstationäre und stationäre Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen in Abteilungen und Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie umfasst etwa 1 Mio. Behandlungsfälle pro Jahr.“
    Der Psychologe Hannes Zacher stellte am 25. März 2020 dar, welche Auswirkungen die aktuellen Regelungen, die auf die soziale Isolation abzielen, auf die Betroffenen haben können:
    „Wenn Menschen sozial isoliert werden, beobachten Psychologen, dass sich einige einsam oder ausgeschlossen fühlen. Und das kann zu Ängsten, Verstimmungen oder einer grundlegenden Traurigkeit führen. Diese psychischen Veränderungen sind auch nicht gut für unser Immunsystem. Unser Körper kann da negativ drauf reagieren, was uns anfälliger für Krankheitserreger macht. […]
    Das wäre das dritte Persönlichkeitsmerkmal: Neurotizismus. Menschen, bei denen diese Eigenschaft besonders stark ausgeprägt ist, machen sich häufig Sorgen, sind ängstlich oder lassen sich schnell stressen. Für sie ist das gerade eine sehr ungünstige Situation. Die Gefahr ist dabei, dass sich jemand
    Seite 233 von 289
    seinen Ängsten und Sorgen hingibt, statt seine Probleme aktiv zu lösen. […]
    Die Forschung würde sagen, dass das nur bis zu einem gewissen Ausmaß kompensiert werden kann. Denn Dinge wie körperliche Nähe sind Grundbedürfnisse, die wir nicht online oder über den Innenhof des Hauses hinweg stillen können. Da geht schon was verloren, was möglichst schnell wiederhergestellt werden muss. Körperliche Nähe und direkter Augenkontakt können schließlich nur schwer durch Online-Medien kompensiert werden. Dennoch ist es besser, online zu kommunizieren als nichts zu tun.“
    https://www.watson.de/leben/interview/795328970-zu-hause-bleiben-wegen-corona-psychologe-warnt-vor-folgen-der-isolation
    Die soziale Isolation wirkt sich – wie auch Zacher ausführt – auch negativ auf das Immunsystem der Menschen aus. Die Isolation setzt das Immunsystem unter Stress und führt zu anhaltender Anspannung. Lässt der Stress nach, ist der Körper anfälliger für Erkrankungen.
    https://www.br.de/nachrichten/wissen/corona-pandemie-was-isolation-mit-dem-immunsystem-macht,RuQXJdW
    Vor dem Hintergrund, dass im Laufe der Zeit ein Großteil der Bevölkerung „durchseucht“ wird (sog. Herdenimmunität),
    https://www.deutschlandfunk.de/covid-19-was-hilft-im-kampf-gegen-das-coronavirus.1939.de.html?drn:news_id=1115205; https://www.focus.de/gesundheit/news/ansgar-lohse-muessen-mehr-ansteckungen-zulassen-infektiologe-will-herdenimmunitaet-schaffen_id_11826174.html
    Seite 234 von 289
    ist evident, dass es kontraproduktiv ist Maßnahmen zu ergreifen, die das Immunsystem der Menschen angreifbarer machen.
    Vorliegend wurden die angegriffenen Maßnahmen der Verordnung bereits für vier Wochen angeordnet, inzwischen neigt sich die fünfte Woche dem Ende zu. Ganz überwiegend sind wie oben gezeigt Nichtstörer betroffen, denen die Folgen sozialer Isolation und wirtschaftlicher Existenzangst auf Grundlage spekulativer Hochrechnungen mangels korrekter Datengrundlage aufgebürdet werden.
    Der Weltärztepräsident Frank Ulrich Montgomery äußerte sich bereits am 18. März 2020 zu einem etwaigen Lockdown und beschrieb dabei ein weiteres Kernproblem, welches ebenfalls gegen die Annahme der Verhältnismäßigkeit streitet – nämlich dem Umstand, dass auch in wenigen Wochen kein Impfstoff zur Verfügung stehen wird (Hervorhebungen durch die Unterzeichnenden):
    „Ich bin kein Freund des Lockdown. Wer so etwas verhängt, muss auch sagen, wann und wie er es wieder aufhebt. Da wir ja davon ausgehen müssen, dass uns das Virus noch lange begleiten wird, frage ich mich, wann wir zur Normalität zurückkehren? Man kann doch nicht Schulen und Kitas bis Jahresende geschlossen halten. Denn so lange wird es mindestens dauern, bis wir über einen Impfstoff verfügen. Italien hat einen Lockdown verhängt und hat einen gegenteiligen Effekt erzielt. Die waren ganz schnell an ihren Kapazitätsgrenzen, haben aber die Virusausbreitung innerhalb des Lockdowns überhaupt nicht verlangsamt. Ein Lockdown ist eine politische Verzweiflungsmaßnahme, weil man mit Zwangsmaßnahmen meint, weiter zu kommen, als man mit der Erzeugung von Vernunft käme.“
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    https://www.general-anzeiger-bonn.de/news/politik/deutschland/interview-mit-weltaerztepraesident-montgomery-ueber-corona-pandemie-ist-chaos_aid-49609561
    Mit Verkündung der Verordnung wurde – weil man ersichtlich keine hat – keine Exit-Strategie mitgeteilt. Dabei war absehbar, dass die Problematik mangels eines Impfstoffs noch monatelang bestehen würde.
    Die von Montgomery als „politische Verzweiflungsmaßnahme“ bezeichnete Anordnung der sozialen Distanzierung auf allen Ebenen ist Ausdruck einer Ohnmacht. Mit dieser Anordnung wurde auf eine Maßnahme zurückgegriffen, die 1918 zur Zeit als die spanische Grippe aufkam, angewendet wurde. Auch zu jener Zeit wurden zum Beispiel in St. Louis (USA) Schulen und Kirchen geschlossen und öffentliche Ansammlungen von mehr als 20 Personen untersagt.
    https://www.tagesschau.de/inland/pandemien-historisch-corona-101.html
    100 Jahre später gibt es allerdings – wie oben dargelegt – deutlich mehr und weniger invasive Eindämmungsmethoden, die denselben Effekt versprechen.
    Selbst wenn man annähme, dass die ergriffenen Maßnahmen tatsächlich zu einer Verlangsamung der Verbreitung des Virus führen, bedeutet das nicht, dass dieser Effekt nicht auch mit anderen, milderen Mitteln erreicht worden wäre. Es wäre vielmehr angezeigt gewesen, diese ohnehin seit über 100 Jahren nachweislich effektive Strategie durch moderne, weniger grundrechtsintensive Maßnahmen abzumildern.
    bb.

stayathome – erhöhte Erkrankungsgefahr durch Bewegungsmangel

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Die Medizinprofessoren Rüdiger Reer und Herbert Löllgen warnen am 27. März 2020 zudem davor, dass das vom Staat verordnete „zuhause bleiben“ gesundheitliche Gefahren birgt:
„Dem Mediziner zufolge muss vermieden werden, dass sich die Ausgangsbeschränkungen noch weiter verschärfen, etwa wie in Italien. „Denn dann könnte es dazu kommen, dass viele nicht an Covid-19 sterben, aber vielleicht an einem Herzinfarkt, der durch die Folgen von Bewegungsmangel erst manifest wird. Es darf nicht passieren, dass man Menschen vor einem Risiko schützen will und sie zugleich einem anderen aussetzt.“
Reer beobachtet, dass das Arbeiten zu Hause den ohnehin bedenklichen Trend zum Bewegungsmangel noch verschärft. Im Durchschnitt gingen die Menschen nur noch 500 Meter am Tag zu Fuß, jetzt seien die Strecken noch kürzer. Hinzu kämen die psychischen Belastungen, die aufgrund fehlender sportlicher Aktivitäten zunähmen. Die bewegungsbedingte Ausschüttung von endogenen Glückshormonen wirke dem entgegen. „Da greifen die Menschen dann leider zu Ersatzdrogen wie Alkohol, Tabak oder übermäßigem Essen.“ Problematisch sei auch das Ausbleiben des Vereins-, Mannschafts- und Schulsports, da Kinder diesen in ihrer Entwicklung brauchten, auch für die psychosoziale Entwicklung.“
https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/mehr-wirtschaft/corona-krise-homeoffice-wird-zu-todesfaellen-fuehren-16698308.html?utm_source=pocket-newtab
Auch Streek wies zuletzt auf die Gesundheitsgefahren des „Zuhausesitzens“ hin (Hervorhebungen durch die Unterzeichnenden):
„ZEIT ONLINE: Sie haben sich aber noch aus anderen Gründen gegen eine strikte Ausgangssperre ausgesprochen. Warum?
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Ein Grund ist, dass wir gerade alles tun, was schlecht für unser Immunsystem ist. Wir hängen zu Hause rum und gehen nicht raus in die Sonne. Nur zu viert im Park auf einer Decke zu sitzen, ist schon verboten. Aber auch da schauen wir nicht auf die Fakten. Sars-CoV-2 ist eine Tröpfcheninfektion und keine, die über die Luft übertragen wird. Wären es Masern und wir hätten alle keinen Immunschutz, dann würde auch ich dazu raten, öffentliche Verkehrsmittel zu meiden. Auch bei Pocken würde ich mich anders verhalten.“
https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2020-04/hendrik-streeck-covid-19-heinsberg-symptome-infektionsschutz-massnahmen-studie/komplettansicht
Die vom Gesundheitsministerium geführte Kampagne „#WirBleibenZuhause“ hat zum Ziel, die Menschen dazu zu bringen, möglichst wenig das Haus zu verlassen.
https://www.zusammengegencorona.de/wirbleibenzuhause/
Dabei nimmt es – ebenso wie der Verordnungsgeber, der die Politik mitträgt – die gesundheitliche Gefährdung durch den auf der Hand liegenden zu erwartenden Bewegungsmangel billigend in Kauf. Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass es nicht verboten ist, zur Bewegung an der frischen Luft das Haus zu verlassen. Der gezielt verursachte soziale Rechtfertigungsdruck, ist ersichtlich dazu geeignet, Menschen davon abzuhalten, das Haus öfter als unbedingt nötig zu verlassen.
cc.
Wirtschaftlicher Zusammenbruch
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Bereits frühzeitig war absehbar, dass es mit jedem Tag mehr, in welchen die strengen Maßnahmen gelten, zu einem gravierenderen volkswirtschaftlichen Einbruch kommt.
https://www.handelsblatt.com/politik/konjunktur/nachrichten/folgen-der-pandemie-bringt-das-coronavirus-die-naechste-euro-krise/25675910.html?ticket=ST-1043628-jndrjt02BzEB9IkbtUCv-ap6; https://www.spiegel.de/wirtschaft/folgen-der-coronakrise-volkswirte-sagen-massiven-einbruch-der-wirtschaftsleistung-voraus-a-cab56073-bc50-40b6-9bfb-43132b7b9373; https://www.spiegel.de/wirtschaft/bdi-chef-kempf-ueber-die-corona-folgen-das-risiko-einer-rezession-steigt-von-tag-zu-tag-a-caea7ffe-d1e2-4b19-9aa9-3c6c0b836715
Clemens Fuest, der Leiter des Wirtschaftsforschungsinstitut Ifo teilte bereits am 29. März 2020 mit, sie hätten berechnet, dass 729 Milliarden Euro nötig seien, um den Schaden, der der deutschen Wirtschaft entsteht, abzufedern, die Bundesregierung geht sogar von 21 Milliarden mehr aus. Weiter führte er aus. Er rechnet damit, dass ein Monat im shut down, bei der die Hälfte der Wirtschaft zum Erliegen gebracht ist, vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts kostet.
https://www.welt.de/vermischtes/article206887039/Anne-Will-Altmaiers-schlimmstes-Corona-Szenario-Ifo-Chef-nennt-Datum.html
Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) erwartet angesichts der Corona-Krise ebenfalls heftige Folgen für die deutsche und internationale Wirtschaft und geht von einer „kräftigen Rezession“ in den USA, Europa und Japan aus. Insgesamt rechnet der BDI mit einem Rückgang des Welthandels um drei bis fünf Prozent und einem Einbruch der globalen Wirtschaftsleistung um bis zu drei Prozent. Dabei handelt es sich nicht um einen kaum spürbaren Rückgang, sondern um
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ein in den vergangenen 50 Jahre singuläres Ereignisses in der Realität der Weltwirtschaft. Der Hauptgeschäftsführer des BDI, Joachim Lang äußerte schon am 05. April 2020:
„Für Deutschland muss im laufenden Jahr mit einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts von drei bis sechs Prozent gerechnet werden“
Zu alledem: https://www.welt.de/wirtschaft/article207027023/Corona-Krise-BDI-rechnet-mit-starker-globaler-Rezession.html
Armut ist zudem ein Risikofaktor für Krankheitshäufigkeit und höherer Sterblichkeit, betonte auch Willich.
https://www.tagesspiegel.de/politik/epidemiologe-warnt-vor-noch-schaerferen-massnahmen-gibt-keinen-grund-das-ganze-land-in-haeusliche-quarantaene-zu-schicken/25672822.html?utm_source=pocket-newtab
Auch Ansgar Lohse warnte früh vor den Folgen der restriktiven Maßnahmen, wie sie hier beanstandet werden:
„Ich bin mit vielen Kollegen aus ganz verschiedenen Fachrichtungen im Diskurs, die ähnlich denken”, erklärte er. “Wir sind uns einig, dass wir nicht nur auf Corona schauen dürfen. Auf Dauer richten wir sonst zu große Schäden an.”
Viele Menschen würden leiden und sterben, weil andere Krankenhausbetten reduziert würden, weil soziale und ärztliche Dienste nicht mehr funktionierten. Außerdem, “weil Menschen vereinsamt und andere zusammengepfercht leben müssen, weil Karrieren und Existenten gefährdet werden.“
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https://www.bz-berlin.de/deutschland/klinikdirektor-wir-muessen-mehr-ansteckungen-zulassen
Dem Deutschen Hotel- und Gaststättenverband (Dehoga) zufolge stehen wegen der Coronakrise rund 70.000 Hotel- und Gatronomie-Betriebe vor der Insolvenz. Den gut 223.000 Betrieben der Branche gingen bis Ende April rund zehn Milliarden Euro Umsatz verloren. “Ohne zusätzliche staatliche Unterstützung steht jeder dritte Betrieb vor der Insolvenz” sagte Dehoga-Hauptgeschäftsführerin Ingrid Hartges dem Blatt.
https://www.merkur.de/politik/coronavirus-deutschland-angela-merkel-massnahmen-entscheidung-kontaktsperre-kontaktverbot-lockerung-geschaefte-news-aktuell-zr-13651083.html
Die Deutsche Bundesbank stellte in ihrem Monatsbericht April 2020 eine „schwere Rezession“ fest (Hervorhebungen durch die Unterzeichnenden):
„Die Coronavirus Pandemie und die zu ihrer Eindämmung getroffenen Maßnahmen stürzten die deutsche Wirtschaft in eine schwere Rezession. Insbesondere in einigen konsumnahen Dienstleistungsbranchen führten sie dazu, dass die Wirtschaftstätigkeit ab Mitte März weitgehend eingestellt wurde. Auch in anderen Bereichen der Wirtschaft, wie beispielsweise in der Kfz Industrie, kam es in der zweiten Märzhälfte zu erheblichen Produktionsrückgängen. Demzufolge dürfte die gesamtwirtschaftliche Leistung bereits im ersten Vierteljahr 2020 breit angelegt und kräftig zurückgegangen sein. Zudem muss davon ausgegangen werden, dass sich die wirtschaftlichen Einschränkungen im Frühjahrsquartal noch erheblich stärker niederschlagen werden. Wie stark der Rückgang der gesamt-wirtschaftlichen Aktivität letztlich ausfällt, ist gegenwärtig kaum verlässlich absehbar. Die Schwere der Rezession hängt
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maßgeblich davon ab, wann und in welchem Ausmaß die zur Bekämpfung der Pandemie eingeführten Einschränkungen weiter gelockert und durch Instrumente ersetzt werden können, welche die Wirtschaft weniger belasten.
Erste vorsichtige Lockerungen der Eindämmungsmaßnahmen sind gegenwärtig zwar bereits angekündigt. Es werden aber voraussichtlich noch substanzielle Restriktionen bestehen bleiben müssen, bis eine medizinische Lösung (z. B. Impfung) verfügbar ist. Eine rasche und starke wirtschaftliche Erholung erscheint aus diesem Grund aus gegenwärtiger Perspektive eher unwahrscheinlich. Eine Rolle spielt dabei auch, wie schnell die Verbraucher und Unternehmen nach den Lockerungen ihr Verhalten normalisieren. Dies gilt nicht nur für Deutschland selbst, sondern auch für die Länder, mit denen Deutschland wirtschaftlich eng verflochten ist.
[…]
Für erhebliche Unsicherheit bei der Einschätzung der Konjunkturentwicklung sorgt die beispiellose Geschwindigkeit, mit der die Pandemie und die zu ihrer Eindämmung ergriffenen Maßnahmen die deutsche Wirtschaft lahmlegten. Ein Großteil der sogenannten „harten“, das heißt nicht auf Umfragen beruhenden, Konjunkturindikatoren liegt bislang lediglich für die Monate Januar und Februar vor. Sie spiegeln die wirtschaftlichen Kosten der Pandemie und ihrer Bekämpfung daher noch nicht wider.
Im März trafen die zur Eindämmung der Epidemie erforderlichen Einschränkungen die Wirtschaft jedoch mit großer Wucht. Angeordnete Geschäftsschließungen und weitere Sicherheitsmaßnahmen zur Reduktion der Ansteckungsgefahr führten in den direkt betroffenen Branchen zu einem weitgehenden Ausfall der Umsätze und der Aktivität. Dazu
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dürften insbesondere die Gastronomie, Reisedienstleister, andere freizeit und kulturbezogene Dienstleistungen, der Textileinzelhandel, aber auch die Personenbeförderung per Flugzeug, Schiff, Bahn und Bus gehören. Allein die in der zweiten Märzhälfte in diesen Bereichen entfallenen Konsumausgaben verringerten nach überschlägigen Rechnungen das Bruttoinlandsprodukt im ersten Vierteljahr wohl um etwas mehr als 1%. Zusätzlich zeichnen sich auch in der gesamten Breite der deutschen Wirtschaft massive Rückgänge der Aktivität ab. Der gegen Ende des jeweils laufenden Monats vorliegende Geschäftsklimaindex für Deutschland brach im März laut ifo Institut dramatisch ein.2) Ausschlaggebend dafür war ein innerhalb eines Monats bislang nicht beobachteter Absturz der Geschäftserwartungen. Aber auch die Geschäftslage wurde ganz erheblich ungünstiger eingeschätzt. Die kurzfristigen Pro-duktionserwartungen in der Industrie wurden gleichfalls sehr stark zurückgestuft. Ferner trübte sich der umfragebasierte und für April prognostizierte GfK Konsumklimaindex ganz erheblich ein. Die ersten bereits für den Monat März verfügbaren „harten“ Konjunkturindikatoren bestätigen dieses Bild.
[…]
Die Ölpreise brachen im März vor dem Hintergrund von Reisebeschränkungen und negativer Aussichten für die globale Konjunktur infolge der Pandemie sowie Förderausweitungen regelrecht ein.
https://www.bundesbank.de/resource/blob/831048/7d2cdae4870bbdff2cd10b1e4a324f09/mL/2020-04-monatsbericht-data.pdf, dort S. 5 und 9.
Die wirtschaftliche Lage ist somit schon nach dieser vermeintlich kurzen Zeit desaströs.
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dd.
Steigende Suizidalität
Erwiesenermaßen steigt die Suizidrate in Zeiten wirtschaftlicher Rezession.
Vgl. z.B. https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2015-02/suizid-griechenland-wirtschaftskrise-sparpolitik
Die WHO identifiziert ferner u.a. folgende Risikofaktoren für eine erhöhte Vulnerabilität einer Person für suizidale Handlungen: Gefühl der Isolation, Gewalt und konfliktreiche Beziehungen, finanzielle Verluste.
https://www.who.int/mental_health/suicide-prevention/exe_summary_german.pdf?ua=1
Eine steigende Anzahl an Suiziden wurde am 2. April 2020 von Expertinnen befürchtet. https://www.swp.de/panorama/folgen-durch-corona-coronaviurs-experten-befuerchten-mehr-suizide-und-depressionen-durch-coronakrise-45140339.html ee. Häusliche Gewalt So unzureichend die Datenlage zur COVID-19 Erkrankung ist, so valide sind die ersten Erhebungen zu den Auswirkungen der Krisensituation auf die Anzahl der Fälle häuslicher Gewalt. Es kommt vermehrt zu Missbrauchsgeschehen gegen Kinder und Frauen: „Experten warnen seit Längerem vor einem Anstieg häuslicher Gewalt in der Corona-Krise. Jetzt scheinen erste Zahlen und Seite 244 von 289 Erhebungen die Befürchtungen zu bestätigen. Laut der Generalsekretärin des Europarats in Straßburg, Marija Pejcinovic Buric, zeigen Berichte aus den EU-Mitgliedsstaaten, dass Kinder und Frauen derzeit in ihrem Zuhause einem höheren Missbrauchsrisiko ausgesetzt sind als vor dem Ausbruch der Pandemie. Allerdings gelinge es den Opfern offenbar seltener, telefonisch Hilfe zu holen: Dies belegten etwa Zahlen aus Frankreich. Bei dortigen Notrufstellen gingen weniger Anrufe ein als sonst. Pejcinovic Buric erklärt sich das damit, dass Frauen und Kinder von ihren Peinigern davon abgehalten würden, telefonisch um Hilfe zu rufen. Denn gleichzeitig steige die Zahl der Sofortnachrichten im Internet – und zwar nicht nur in Frankreich, sondern europaweit. In Dänemark etwa habe die Zahl der Frauen zugenommen, die Zuflucht in einem Frauenhaus suchten. Der Europarat mit Sitz in Straßburg hat unter anderem die Aufgabe, über die Einhaltung der Menschenrechte in den EU-Staaten sowie in der Schweiz, Russland, der Türkei, der Ukraine und Aserbaidschan zu wachen. Dabei arbeiten Stellen des Rates gerade jetzt auch eng mit den Behörden der einzelnen Staaten zusammen. Deutschland kümmert sich der Weiße Ring um das Thema häusliche Gewalt. Der Bundesvorsitzende der Opferschutzorganisation, Jörg Ziercke, ist alarmiert: “Wir müssen mit dem Schlimmsten rechnen.” Der ehemalige Chef des Bundeskriminalamts weiß: “Die Corona-Krise zwingt die Menschen, in der Familie zu bleiben. Hinzu kommen Stressfaktoren wie finanzielle Sorgen und Zukunftsunsicherheit.” Opferhelfern sei das Problem von Festtagen wie Weihnachten bekannt, wenn Menschen längere Zeit gemeinsam zu Hause Seite 245 von 289 seien: Immer dann gingen die Fallzahlen in die Höhe. “Die Kontaktsperre wegen Corona dauert aber sehr viel länger als Weihnachten, und die Stressfaktoren sind auch größer”, so Ziercke. Gerade auch für Kinder könnten die Ausgangsbeschränkungen gefährlich werden, warnt die Leiterin des Lehrstuhls Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität des Saarlandes, Tanja Michael. “Die Täter haben jetzt viel mehr Zugriff auf die Kinder, und die Kinder haben weniger Möglichkeiten, nach außen Signale zu senden, dass etwas nicht stimmt.” Und: Die Täter seien vermutlich in der derzeitigen Situation “noch schlechter gelaunt als normalerweise”, so Michael. Erste Untersuchungen habe man in der chinesischen Millionenmetropole Wuhan durchgeführt – dem Ort, an dem Corona das erste Mal auftrat. Dort hätten Frauenhäuser in der Quarantänezeit dreimal so viele Opfer häuslicher Gewalt registriert. Außerdem habe die Polizei doppelt so viele Notrufe von Frauen bekommen wie sonst, berichtet Michael. Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, befürchtet wegen der Corona-Krise auch eine Zunahme sexueller Gewalt gegen Kinder. “Jeder, der sich im Kinderschutz engagiert und für das Kindeswohl kämpft, der ist im Moment in größter Sorge”, sagte Rörig im rbb. “Die Täter und Täterinnen können jetzt noch unbemerkter vom sozialen Umfeld ihre perfide Gewalt ausüben”, so der Missbrauchsbeauftragte. Daher sei es jetzt besonders tragisch, dass die Jugendämter nur auf Sparflamme oder im Notbetrieb arbeiten könnten. […] Seite 246 von 289 Doch oftmals sei genau dies das Problem: der Wegfall der sozialen Kontrolle, erklärt die Vize-Chefin der Berliner Gewaltschutzambulanz, Saskia Etzold: “Der Bereich, in dem sonst häusliche Gewalt gegen Kinder auffällt, also in Schulen, Kitas oder bei Tagesmüttern, ist ja gerade weggefallen.” Bei eingeschränkter Öffentlichkeit würden Verletzungen jetzt weniger bemerkt. “Wir müssen wohl davon ausgehen, dass innerfamiliäre Gewalt in den nächsten Wochen deutlich ansteigt”, so Etzold. In der Berliner Charité, zu der die Ambulanz gehört, haben Opfer – sowohl Kinder, als auch Erwachsene – die Möglichkeit, ihre Verletzungen von Rechtsmedizinern vertraulich und kostenlos dokumentieren zu lassen.“ https://www.tagesschau.de/ausland/corona-europarat-haeusliche-gewalt-pejcinovic-buric-101.html Am 06. April 2020 warnte auch der UN-Generalsekretär Guterres vor einer „schrecklichen Zunahme“ häuslicher Gewalt während der Corona-Pandemie. https://brf.be/international/1371127/; https://www.focus.de/finanzen/boerse/wirtschaftsticker/konjunktur-un-generalsekretaer-warnt-vor-gewalt-gegen-frauen-in-corona-krise_id_11853344.html Die schon früh artikulierten Befürchtungen haben sich zwischenzeitlich in Zahlen niedergeschlagen. Es ist nach Auskunft der Familienministerin Giffey vom 4. April 2020 zu einem dramatischen Anstieg von Anzeigen wegen häuslicher Gewalt gekommen. Sie verwies auch darauf, dass in Berlin ein Anstieg der Gewalt um 10 % zu verzeichnen gewesen sei. Seite 247 von 289 https://www.rbb24.de/panorama/thema/2020/coronavirus/beitraege_neu/2020/04/zunahme-haeusliche-gewalt-stadt-land-gefaelle-giffey.html Am 8. April 2020 informierte hierrüber auch der Tagesspiegel. Hier wurde berichtet, dass sich die Zahl der Notrufe teils verdoppelt hätte, ferner brachten sie es plastisch auf den Punkt: „Scharf verurteilte Generalsekretär António Guterres gestern in New York den, wie er sagte, „schrecklichen“ Anstieg der Angriffe auf Ehefrauen, Partnerinnen und weibliches Personal in Haushalten. Viele Staaten verzeichnen das, abzulesen an der steigenden, teils verdoppelten Zahl der Notrufe. „Und „schrecklich“ ist das treffende Wort, denn der Schrecken zieht ein als Mitbewohner in solche Wohnungen und Häuser. Da bersten physisch Stärkere – Männer, Erwachsene – vor Frustration, Verdruss und Ärger und lassen das Gestaute an physisch Schwächeren aus, an Frauen, Mädchen und Jungen.“ https://www.tagesspiegel.de/politik/notrufe-in-der-corona-krise-teils-verdoppelt-haeusliche-gewalt-nimmt-stark-zu-was-nun-passieren-muss/25720404.html Am 22. April 2020 teilte Giffey dann mit, dass man eine Steigerung von 17,5 Prozent beim Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ im Vergleich zu den beiden Wochen zuvor verzeichnet habe. https://www.merkur.de/welt/coronavirus-deutschland-nrw-berlin-kurve-massnahmen-tote-zahlen-spahn-entwicklung-news-aktuell-lockerungen-rki-merkel-zr-13656391.html ff. Eingeschränkte medizinische Versorgung Seite 248 von 289 Die aktuellen Regelungen bedeuten auch eine deutliche Einschränkung der medizinischen Versorgung aller Nicht-COVID-19-Patienten. Viele Arztpraxen sind geschlossen, Operationen und diagnostische Eingriffe werden verschoben, Psychotherapien und krankengymnastische Betreuung finden kaum noch statt, Versorgungsstrukturen für Obdachlose und sozial Schwache sind großenteils stillgelegt. Aufgrund der Maßgabe, räumliche Nähe und Aufenthalt in gemeinsamen Räumen zu verhindern, findet vielfach medizinische Versorgung nur eingeschränkt statt. Hinzu kommt, dass Operationen und diagnostische Eingriffe vertagt werden, um ausreichende Versorgungskapazität für die Behandlung von COVID-19- Patienten zu haben. Der hieraus resultierende medizinische Schaden ist schwer zu quantifizieren, wird aber wahrscheinlich mit zunehmender Dauer exponentiell wachsen und zu erheblich steigender Morbidität und Mortalität führen. Auch hier gibt es Risikopopulationen, die unter Nicht-Betreuung besonders leiden: chronisch Kranke und arme Patienten zuvorderst. https://www.ifo.de/DocDL/Coronavirus-Pandemie-Strategie-Fuest-Lohse-etal-2020-04.pdf, S. 4. Bundesweit berichten Kliniken davon, dass die Zahlen medizinischer Notfälle deutlich zurückgingen- und bringen es in einen direkten Zusammenhang mit der Angst von Patientinnen vor Ansteckung. So beobachten die Hamburger Askleipos Kliniken laut einem Bericht des Nachrichtenmagazins Spiegel einen starken Rückgang in den zentralen Notaufnahmen. In einer Klinik sei die Zahl der Herzpatienten mindestens um die Hälfte zurückgegangen, in einer anderen noch viel stärker.
https://www.hessenschau.de/panorama/corona-angst-herzinfarkt-patienten-trauen-sich-nicht-zum-arzt,weniger-notfaelle-corona-krise-100.html
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Patientinnen mit gefährlichen Symptomen zum Beispiel bei einem Schlaganfall oder einem Herzinfarkt kommen nicht mehr oder verspätet, was zu einem fatalen oder zumindest deutlich schweren Verlauf führt. https://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/corona-weniger-notfallpatienten-mit-schlaganfall-und-herzinfarkt-waehrend-pandemie-a-44e44d21-7250-4b39-b26f-df42b5c2403c Ein Sprecher der Kassenärztlichen-Vereinigung (KV) Hessen beziffert den Patientenrückgang am 18. April 2020 „um rund 50 Prozent – auch über die Osterfeiertage“. Auch die meisten anderen ÄBD-Praxen in Hessen verzeichnen seit Ausbruch der Coronavirus-Epidemie einen erheblichen Rückgang der Patientenkontakte. Der KV-Obmann Facharzt Dr. med. Detlef Oldenburg bedauert, „dass die Verunsicherung in der Bevölkerung groß ist und auch auf eine teilweise unzureichende Berichterstattung in verschiedenen Medien zurückzuführen“ sei. Dies könne dazu führen, dass Erkrankungen zu spät diagnostiziert und behandelt würden. Der drastische Patientenrückgang in den ambulanten Arztpraxen hat bereits jetzt deutliche wirtschaftliche Auswirkungen. Der HNO-Facharzt berichtet, dass für Praxismitarbeiterinnen zunehmend Kurzarbeit beantragt worden sei und die finanzielle Situation einzelner Arztpraxen bei einem Andauern der Situation sich dramatisch zuspitzen werde: „Das Risiko ist hoch, dass Arztpraxen nach der Epidemie nicht mehr zur Verfügung stehen und den Ärztemangel verschärfen.“
https://www.hanauer.de/hanau/angst-coronavirus-gehen-viele-patienten-main-kinzig-kreis-nicht-mehr-arzt-13657902.html
gg.
Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche
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Insbesondere sind auch ärmere Kinder und Jugendliche von der Schließung von Einrichtungen, in denen sie Unterstützung, Fürsorge und Essen bekommen, betroffen:
„Es sind vor allem geringverdienende Eltern ohne finanzielle Rücklagen, die derzeit unter Druck geraten. Und der wächst täglich. Über zweihundert Tafeln haben wegen der Ausbreitung des Coronavirus ihren Betrieb vorübergehend eingestellt, andere haben einen Notbetrieb eingerichtet. Für eine halbe Million Kinder und Jugendliche, die als Kunden bei den Tafeln gemeldet sind, bleibt das nicht folgenlos.“
[…]
Finanzielle Sorgen sind ohnehin ein großer Stressfaktor für einkommensschwache Familien. Doch nun bangen viele Eltern in prekären Arbeitsverhältnissen um ihren Job – und müssen gleichzeitig das Zusammenleben auf engstem Raum organisieren. Damit steigt der Stresspegel für die ganze Familie. „Unsere große Sorge ist, dass sich mit der Dauer der Isolation die häusliche Gewalt in den Familien erhöht“, sagt Melike Yar, „und die Kinder damit sowohl zu Beobachtern als auch zu Opfern häuslicher Gewalt werden.“
Save the Children appelliert an den Staat, die sozialen Hilfen und Beratungssysteme aufrechtzuerhalten. „Es darf nicht sein, dass mit der Verringerung der Ansteckungszahlen die Zahl der Kinderschutzfälle steigt.“
https://taz.de/Soziale-Folgen-von-Corona/!5673793/
Eingeschränkt werden Kinder und Jugendliche auch in Bezug auf ihr Rechts auf Bildung. Die Schulpflicht ist auch ein „Schulrecht“. Schulen
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stehen unter der Aufsicht des Staates, sodass es zu seinem Pflichtenprogramm gehört, Bildung zu gewährleisten.
Schulen spielen aber auch eine soziale Rolle. Sie vermitteln Bildungs- und Aufstiegschancen. Gerade für Kinder und Jugendliche aus sozial schwächere Familien werden durch diese Maßnahmen schwer getroffen, da sie – anders als Kinder aus akademischen oder wirtschaftlich gut situierten Familien – keine oder nur wenig Unterstützung von ihrer Familie erwarten können. Damit ist zu befürchten, dass diese Kinder und Jugendlichen durch die Maßnahmen (noch weiter) „abgehängt“ werden.
Besonders solche Kinder und Jugendliche mit einem besonderen Förderungsbedarf sind betroffen. Vor dem Hintergrund, dass junge Menschen nur sehr selten schwere Verläufe durchleiden kommt dem Aspekt, dass eine Beschulung zuhause die Bildungsgerechtigkeit senkt und Eltern behindert, ihrer beruflichen Tätigkeit nachzugehen, besondere Bedeutung zu.
https://www.ifo.de/DocDL/Coronavirus-Pandemie-Strategie-Fuest-Lohse-etal-2020-04.pdf, dort S. 14.
Was der shutdown für Kinder bedeutet, die normalerweise in die Kindertagesstätte gehen war am 17. April 2020 im SPIEGEL zu lesen:
„In Berlin, wo Aiga Senftleben mit ihrer Familie wohnt, soll der Regelbetrieb der Kindertagesstätte erst wieder am 1. August beginnen – also in mehr als drei Monaten. “Das ist doch Wahnsinn”, sagt Senftleben, Mitgründerin eines Fintech-Start-ups. Sie fühle sich von der Politik “veräppelt”, so drückt sie es aus. “Überall werden kreative Lösungen gefunden, wie man die Lage für alle Beteiligten gut gestalten kann: Für Schulen, für Buchläden und Baumärkte – aber die Kitas lässt man einfach zu, ohne Kompromiss.” Senftleben spricht aus, was viele Eltern in
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diesen Tagen denken. Sie fühlen sich alleingelassen mit dem Spagat zwischen Kinderbetreuung und Arbeit – und mit dem Gefühl, ihren Kindern etwas vorzuenthalten, das viele so sehr vermissen: den Kontakt zu Gleichaltrigen.“
Das geht an der Lebenswirklichkeit junger Familien vorbei”, sagt Ulrike Große-Röthig, Rechtsanwältin und Bundeselternsprecherin der Kinder in Kindertageseinrichtungen und Kindertagespflege. “Und es stürzt auch Arbeitgeber in ein Dilemma, die nicht bis in den Spätsommer oder frühen Herbst hinein auf ihre Mitarbeiter verzichten können.“
https://www.spiegel.de/panorama/corona-krise-schulen-oeffnen-kitas-bleiben-geschlossen-das-ist-doch-wahnsinn-a-fd286de2-c38b-41c6-91de-ef3611ff471b
Kritisch äußerten sich auch 43 führende Bildungswissenschaftlerinnen zu der Empfehlung der Leopoldina-Forscherinnen, den Betrieb von Kindertagesstätten nur sehr eingeschränkt wiederaufzunehmen: „Von einer monatelangen Schließung der Kindertageseinrichtungen wären Kinder im Alter zwischen einem und vier Jahren und ihre Familien in vielerlei Hinsicht betroffen. Aus entwicklungspsychologischer Perspektive sind vorallem der Wegfall des Kontakts zu anderen Kindern und die dadurch fehlenden Möglichkeiten zum sozialen Lernen zu bedenken; aus lernpsychologischer Perspektive das Fehlen von pädagogischen Anregungen. Hieraus erwachsen vor allem für Kinder Nachteile, deren Familien keine entsprechenden Angebote machen können und für die frühe Förderung besonders wichtig ist. Viele Kinder mit geringen Deutschkenntnissen werden über mehrere Monate kaum Kontakt zu deutschsprachigen Kindern und Erwachsenen haben. Zudem können fehlende Strukturen im Alltag und die kaum Seite 253 von 289 vorhandenen Ausweichmöglichkeiten das Konfliktpotential in der Familie erhöhen. Dies bringt für Familien ein hohes Belastungspotential mit sich und ist nicht nur in gravierenden Fällen, in denen diese Situation zu Gewalt führt, sondern für alle Familien ein ernstzunehmendes Problem. Wie in der Stellungnahme angesprochen, tragen die Hauptlast für den Wegfall der institutionellen Betreuung häufig Frauen. Aus soziologischer und ökonomischer Perspektive werden Frauen durch diesen verlängerten Wegfall der institutionellen Betreuung entweder von Erwerbsarbeit abgehalten oder können sich nicht mit gleicher Kraft und Konzentration ihrer Arbeit widmen, da gerade bei jungen Kindern der Betreuungsaufwand sehr groß ist. Die erhöhte psychische Belastung und die negativen Konsequenzen für die Arbeitssituation treffen Alleinerziehende, die existentiell auf institutionelle Unterstützung angewiesen sind und in der aktuellen Situation auch nicht auf andere Betreuungspersonen, insbesondere die Großeltern, zurückgreifen können, in besonders hohem Maße.“ https://sync.academiccloud.de/index.php/s/MBO8UMvnCSwNOZe Kompensiert werden können die Folgen der Schließungen der Kindertagesstätten auch nicht durch anderweitige soziale Kontakte aufgrund das geltenden Kontaktverbots. hh. Obdachlose, Geflüchtete, Gefangene Für die vorgenannten Personengruppen stellen die verhängten Maßnahmen eine noch gesteigerte Härte dar. Sie sind auf ein funktionierendes öffentliches Leben angewiesen und werden jetzt durch die Schließung von Einrichtungen und die Beschränkung medizinischer Hilfsangebote stark betroffen. Seite 254 von 289 https://www.tagesschau.de/inland/coronavirus-obdachlose-109.html; https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/Stellungnahmen/Stellungnahme_Coronakrise_Menschenrechte_muessen_das_politische_Handeln_leiten.pdf Für obdachlose Menschen verschärft sich ihre Notlage durch die Schließung von Hilfseinrichtungen ohne dass adäquate Alternativen zur Verfügung stünden. Es trifft damit diejenigen, die ohnehin zu den sozial Schwächsten gehören. Gleiches gilt für Personen mit hohem Betreuungsbedarf, zum Beispiel für behinderte und chronisch kranke Menschen. Sie alle gehören nicht nur zur medizinischen, sondern auch zur psychosozialen Risikogruppe im Kontext von COVID-19. https://www.ifo.de/DocDL/Coronavirus-Pandemie-Strategie-Fuest-Lohse-etal-2020-04.pdf, dort S. 7. Auch Geflüchtete, die jetzt nicht mehr aufgenommen werden, weil sich die Staaten abschotten, sind in Gefahr und bedürfen dringend Hilfe. https://www.spiegel.de/politik/ausland/corona-unter-gefluechteten-die-naechste-katastrophe-ist-nicht-weit-a-e44f1e44-ada5-4616-89b2-4ef34cfef555; https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/hilfe-weltweit/humanitaere-hilfe/gesundheit/corona-virus/ ii. Versorgung mit Lebensmitteln Absehbar war bereits früh, dass Lieferketten zusammenbrechen und dass auch die Versorgung von Obst und Gemüse keineswegs für längere Zeit gewährleistet ist. Vor dem Hintergrund, dass aktuell bei der Einholung der Ernte Engpässe bestehen, überlegen Landwirtinnen, ob
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sie überhaupt neue Saat aussäen. Sollte das Problem nicht behoben werden, könnte auch das Gemüse in Deutschland knapp werden.
https://www.ndr.de/nachrichten/hamburg/Corona-Landwirte-suchen-dringend-Erntehelfer,erntehelfer182.html; https://www.merkur.de/wirtschaft/corona-lebensmittelengpaesse-deutschland-supermaerkte-aldi-rewe-lidl-hamsterkaeufe-kloeckner-ostern-zr-13615501.html; https://www.ikz-online.de/wirtschaft/coronavirus-experten-warnen-vor-engpass-bei-obst-und-gemuese-id228817233.html
Die Corona-Krise behindert in wichtigen Anbauländern Ernten und Transporte. Kaffeerösterinnen warnen deshalb vor mangelnder Versorgung. Teehändlerinnen stellen sich auf schlechtere Qualität ein. Reis ist so teuer wie seit rund sieben Jahren nicht mehr.
https://www.lebensmittelzeitung.net/industrie/Hersteller-sorgen-sich-um-Engpaesse-Corona-verteuert-und-verknappt-Rohstoffe-145853
jj.
Freiwilligkeit vor Anordnung
Im Übrigen sind die Maßnahmen auch deshalb nicht angemessen, weil bereits vor Erlass der Verordnung deutlich wurde, dass eine überwältigende Mehrheit ohnehin mit den Regeln einverstanden ist und sich viele Menschen auch freiwillig zurückgezogen haben und das Abstandgebot einhielten – wie auch mehrere Umfragen deutlich gemacht haben. Auch deshalb hätte es einer so weitgehenden Anordnung nicht bedurft.
kk.
Die Behandlung von COVID-19 Patientinnen – ethische Prinzipien in Gefahr? Seite 256 von 289 Der Palliativmediziner Thöns hält die Ausrichtung der Politik auf die Intensivbehandlung von COVID-19-Erkrankten für einseitig und sieht darin eine Verletzung ethischer Prinzipien: „Na ja, die Politik hat jetzt eine sehr einseitige Ausrichtung auf die Intensivbehandlung, auf das Kaufen neuer Beatmungsgeräte, auf Ausloben von Intensivbetten. Und wir müssen ja bedenken, dass es sich bei den schwer erkrankten COVID-19-Betroffenen, so nennt man ja die Erkrankung, meistens um hochaltrige, vielfach erkrankte Menschen handelt, 40 Prozent von denen kommen schwerstpflegebedürftig aus Pflegeheimen, und in Italien sind von 2.003 Todesfällen nur drei Patienten ohne schwere Vorerkrankungen gewesen. Also es ist eine Gruppe, die üblicherweise und bislang immer mehr Palliativmedizin bekommen hat als Intensivmedizin, und jetzt wird so eine neue Erkrankung diagnostiziert und da macht man aus diesen ganzen Patienten Intensivpatienten. Ich sehe, das sind sehr falsche Prioritäten und es werden ja auch alle ethischen Prinzipien verletzt, die wir so kennen. Also wir sollen als Ärzte ja mehr nutzen als schaden. Da fragt man sich natürlich bei einer Erkrankung, wenn die schlimm verläuft, also zum Atemversagen führt, dann können wir tatsächlich nach einer chinesischen Studie nur drei Prozent der Betroffenen retten, 97 Prozent versterben trotz Maximaltherapie – so eine Intensivtherapie ist leidvoll, da stimmt ja schon das Verhältnis zwischen Nutzen und Schaden kaum. Na ja, der Nutzen ist so, dass man nur ganz minimal wenige Patienten rettet, von denen kommen nur wenige dann auch zurück in ihr altes Leben, eine große Zahl von denen, die man rettet, nach zwei bis drei Wochen Beatmung, verbleiben schwerstbehindert. Und das sind Zustände, die lehnen die meisten älteren Menschen für sich ab. Also Eingriffe, die mit dem Seite 257 von 289 hohen Risiko einer bleibenden Schwerbehinderung einhergehen, die lehnen ältere Menschen eigentlich ab. Deshalb erreicht man eigentlich Therapieziele für diese Patienten nicht, das heißt, die Indikation ist schon fraglich.“ https://www.deutschlandfunk.de/palliativmediziner-zu-covid-19-behandlungen-sehr-falsche.694.de.html?dram:article_id=474488 Man mag zu diesen Ausführungen stehen, wie man möchte. Jedenfalls zeigen auch diese, dass vor allem die sehr alte Bevölkerungsschicht von dem Virus gefährdet wird und es allenfalls diese zu schützen gilt, statt ein ganzes Land zu lähmen. Es darf an dieser Stelle daran erinnert werden, dass der Altersmedian bei den als COVID-19-Verstorbenen gezählten auch am 22. April 2020 noch bei 82 Jahren lag. https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/2020-04-23-de.pdf?__blob=publicationFile Kritisch zum Umgang mit dem Leiden und Sterben der Erkrankten sowie zum Umgang der Medien mit Bildern aus Intensivstationen äußerte sich auch ein Intensivmediziner, der Assistenzarzt in einer Abteilung für Pneumologie und Infektiologie eines Krankenhauses in einer Großstadt ist (Unterstreichungen durch die Unterzeichnenden): der Freitag: Herr Schneider, Sie stören sich an den Fernsehbildern über Corona. Was ist falsch daran, über die Situation auf den Intensivstationen zu berichten? Maxim Schneider: Nein, es ist richtig, aus der Intensivstation zu berichten. Das passierte vor Corona ja auch – aber mit ganz anderen Bildern! Wenn Patienten gezeigt wurden, dann meist Seite 258 von 289 mit verpixelten Gesichtern. Es wurden auch Apparate gezeigt, aber nicht im Einsatz. Und vor allem wurde diese Berichterstattung begleitet von ausführlichen Interviews mit Ärztinnen und dem Pflegepersonal. Sie haben eingeordnet: Was passiert da gerade? Warum ist dieser Mensch so verkabelt? Jetzt sehen wir Bilder von chaotischen Szenen, und der einzige Kommentar ist: Katastrophe. Aber wenn dort nun mal das Chaos herrscht …? Auch in normalen Zeiten gibt es auf der Intensivstation stressige Situationen, kann man ähnliche Bilder konstruieren. Sie werden, aus Gründen, aber nicht im Fernsehen gezeigt. Intensivstationen sind nie leer. Da kämpfen Ärzte und Pflegerinnen um das Leben von Menschen. Immer. […] Halten Sie die Ängste vor Corona für überzogen? Ich denke, dass vorsichtiger umgegangen werden muss mit dem Thema. Auch in den Medien. Gefilmt wurden in Italien Patienten, denen es offensichtlich sehr schlecht geht. Wer hat diese Menschen eigentlich um ihr Einverständnis gebeten? Auch die Zuschauer müsste man schützen. Die meisten sehen auf diesen Bildern zum ersten Mal im Leben einen Menschen, der nackt im Bett liegt, aus dem Schläuche kommen. Solche Dinge passieren aber auf der Intensivstation. Der Einsatz von Beatmungsgeräten ist dort Normalität. Wer das nicht weiß, empfindet solch eine Berichterstattung vielleicht sogar als traumatisierend. Das kann man nicht einfach in den Nachrichten zeigen, ohne dass wir als Gesellschaft über Intensivmedizin sprechen. Sprechen wir also über Intensivmedizin. Was sollte man darüber wissen, als Laie? Seite 259 von 289 Eine intensivmedizinische Behandlung ist nichts, was man sich für jemanden wünscht. Es ist eine Situation, in der eine Patientin sich kaum mehr bewegen kann, voller Kabel. Ohne Sedierung ist diese Form der Behandlung nur schwer erträglich. Alles wird abgeleitet, Urin, Kot … Es ist eine sehr invasive Maßnahme, die oft nicht nur einen Tag dauert, sondern mehrere Tage, manchmal Wochen. Wenn diese Behandlung ein Leben rettet, wünsche ich sie einem Menschen doch eher als den Tod? Klar. Es gibt gute Gründe, eine intensivmedizinische Behandlung anzuwenden, sie rettet Leben, sie ermöglicht, sich noch einmal zu verabschieden von den Angehörigen. Aber wir, das Personal, bekommen längerfristig mit, wer auf die Intensivstation verlegt wird. Vielen, so mein Eindruck, wird man mit dieser Form der Therapie wahrscheinlich nicht helfen. Sondern nur den Sterbeprozess verlängern? Diese Erfahrung hat zumindest jede Ärztin, jeder Pfleger schon mal gemacht. Und nicht nur einmal. Ist verständlich, was ich meine? Ich fürchte ja. Was längst überfällig ist, ist eine Diskussion über die Frage: Was stellen wir uns eigentlich vor am Lebensende? Ich rede jetzt nicht über jemanden, der im vollen Leben steht und plötzlich schwer krank wird. Ich rede von Menschen, die sehr viel älter sind, vielleicht schon multipel vorerkrankt. Ich nehme hier durchaus ein Bedürfnis wahr, in Ruhe gehen zu können, aber es fehlt häufig an Wissen über die Möglichkeiten, die es gibt. Was es heißt, auf der Intensivstation zu sein. Im Krankenhaus fehlen die Zeit und das Personal, darüber zu sprechen. Das hat Auswirkungen auf die Art, wie Menschen behandelt werden – und wie sie sterben. Seite 260 von 289 Wie sieht so ein Gespräch aus, wenn Sie es führen? Wenn ich sage, wir machen jetzt Maximalmedizin, wir machen alles, dann dauert das drei Sekunden, da widerspricht keiner, das geht sehr schnell. Sich aber ganz in Ruhe hinzusetzen und zu sagen: „Na, wie fühlten Sie sich in den letzten Monaten, wie geht es Ihnen mit den vergangenen vier, fünf Krankenhausaufenthalten? Wenn es Ihnen schlechter geht, dann tun wir hier auf der Normalstation alles dafür, dass Sie keine Schmerzen haben, Ihre Familie kann Sie hier besuchen, aber was sollen wir tun, sollte es noch schlechter werden? Wie weit sollen wir gehen? Können Sie sich etwa vorstellen, an Maschinen angeschlossen zu werden?“ … Aber weiterleben will doch jeder! Natürlich! Man will, dass es einem wieder gut geht! Aber man muss auch fragen: Wollen Sie wochenlang an Maschinen hängen? Sediert? Oder lieber zu Hause sein, im Kreis der Familie? Solch ein Gespräch dauert viel länger, das ist schwierig, das erfordert Ruhe, Empathie und Zeit. Dafür brauchen wir mehr Personal. Und eine gesellschaftliche Debatte. Mit diesen Fragen müssten sich Menschen beschäftigen, bevor der Therapiezug losfährt. Wenn der Notfall eintritt, versucht man, jedes Leben zu retten, das muss auch so sein. Für solche Fälle gibt es doch Patientenverfügungen, in denen man festhält, welche Maßnahmen man haben möchte, welche nicht. Das geht in die richtige Richtung, ja. Aber häufig sind solche Verfügungen in ihrer Formulierung nicht deutlich genug, um für das behandelnde Personal rechtliche Sicherheit zu gewährleisten. Zudem haben viele Leute Angst, dass ihnen eine Behandlung vorenthalten werden könnte. Darum geht es aber nicht. Es geht darum, herauszufinden, was die beste Entscheidung für sie ist. Seite 261 von 289 Das ist eine Frage, die man sich auch in Zeiten von Corona zu wenig stellt. Was ist das für ein Sterben, allein auf der Intensivstation? Wie gehen Sie als Arzt damit um, wenn Ihre Patienten sterben? Jeder, der einen Gesundheitsberuf ausübt, weiß, wie sich das anfühlt, wenn ein Angehöriger schwer krank ist. Man kann die Situation nicht mehr professionell einschätzen. Die Distanz ist wichtig, um gut zu funktionieren als Arzt. Das ist ein Lernprozess, den ich durchmachen musste, wie alle meine Kolleginnen und Kollegen. Wir setzen uns mit dem Tod auseinander. Die Gesellschaft tut das leider kaum. Krankheit und Tod sind praktisch nicht existent im Alltag der Menschen. Jetzt wirkt es, als würde beides erst durch ein fremdes Virus über uns herfallen. Und das stimmt nicht. Ist es nicht normal, dass man Angst hat vor dem Virus? Menschen sterben. Immer. Auch junge Menschen. An Verkehrsunfällen, Infektionen, an Krebs, an schweren Autoimmunerkrankungen. Aber die aktuellen Todeszahlen werden sonst nie im Fernsehen gezeigt. Sondern es wird gar nicht darüber gesprochen. Wie über die Grippewelle vor zwei Jahren? Damals gab es wochenlang nicht genug Betten auf der Intensivstation, doch über Todesstatistiken sprach die Öffentlichkeit nicht. Jetzt sind die Menschen plötzlich damit konfrontiert, begleitet von Bildern aus der Intensivmedizin und von LKWs voller Leichen. Diese Bilder treffen auf eine Gesellschaft, die nie über den Tod redet. Die gerade noch mit der Frage beschäftigt war, was für ein Auto ich mir als nächstes kaufe. Wohin ich als Nächstes in den Urlaub fliege. […] Seite 262 von 289 Seit einigen Wochen ist zudem zu beobachten, dass die Rettungsstellen leer sind. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die ganzen Leute, die sonst hierherkommen, aktuell nicht krank geworden sind. Die Fokussierung auf eine Erkrankung, die extrem viele Kräfte bindet, muss zu einem Qualitätsverlust an anderer Stelle führen, das ist eine einfache Rechnung. https://www.freitag.de/autoren/elsa-koester/menschen-sterben-immer ll. Fehlende Nachvollziehbarkeit der konkreten Maßnahmen (1) Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz Die hier angegriffenen Regelungen sind überwiegend pauschal, undifferenziert und wenig punktgenau ausgefallen. Eine Differenzierung nach Sektoren, Personen und Regionen findet nicht statt. Eine Differenzierung ist aber von Verfassung wegen unter Beachtung des Art. 3 Abs. 1 GG geboten. Differenziert man bei Kontaktverbot, bei der Schließung öffentlicher Einrichtungen oder Geschäften, bei Versammlungs- und Gottesdienstverboten nach Personengruppen und Regionen, dann liegt darin kein Verstoß gegen das allgemeine Gleichheitsgebot, sondern trägt diesem gerade Rechnung. Denn im Kern fordert das Gleichheitsgebot des Grundgesetzes: „Wesentlich Gleiches ist gleich, wesentlich Ungleiches ist ungleich zu behandeln.“ Mithin ist eine an sachlichen Kriterien wie Wirtschaftssektoren, Personengruppen oder Regionen orientierte unterschiedliche Differenzierung geboten. Der Verordnungsgeber hat eine solche Betrachtung unterlassen vorzunehmen. Es ließen sich – jetzt noch mehr als zuvor – zahlreiche Beispiele für nicht nachvollziehbare – und damit auch nicht zu rechtfertigende – Gleich- Seite 263 von 289 und Ungleichbehandlungen anführen. Es wird sich im Folgenden darauf beschränkt, exemplarisch auf ein paar wenige hinzuweisen: Es ist auch nicht ersichtlich, warum alle nicht vom Verordnungsgeber ausgewählten Geschäfte, Einrichtungen und Gastronomiebetrieben nicht öffnen dürfen, obwohl der Großteil ersichtlich in der Lage wäre, Hygieneauflagen zu erfüllen und einen Mindestabstand durchzusetzen. Auf mehr als das kommt es nicht an, wie auch Montgomery am 23. April 2020 nochmals betonte. https://www.n-tv.de/panorama/Arztepraesident-Montgomery-Maskenpflicht-ist-falsch-article21733833.html Anstelle der Schließung wäre diese Maßnahme das mildere Mittel. Insbesondere mag auch die als willkürlich anmutende 800 qm Grenze wie oben dargelegt nicht einzuleuchten. Die Begründung der Bundeskanzlerin und Söders am 15. April 2020 überzeugt nicht. Dort gab die Bundeskanzlerin an: „Wir müssen aber schauen, dass wir nicht den gesamten Publikumsverkehr in den Städten wieder möglich machen; denn dann entstehen auch wieder Infektionsketten. Man muss das vielmehr dosiert machen. Darüber gab es durchaus eine breite Diskussion, und im Wege eines Kompromisses hat man sich jetzt auf diese Zahl geeinigt. Die ist aber nicht wesentlich dadurch zustande gekommen, dass man sagt: Mit 1000 Quadratmetern kann einer kein Schutzkonzept erstellen. Sie ist vielmehr mit der Frage verbunden: Wie viele Läden sind das dann, und was bedeutet das auch mit Blick auf den öffentlichen Personennahverkehr und alles, was darum herum liegt?“ Seite 264 von 289 Söder ergänzte: „Zu den 800 Quadratmetern: Die Bundeskanzlerin hat völlig recht, da gab es in der Tat etwas unterschiedliche Überlegungen. Die einen haben gemeint: Es ist völlig egal, wir legen da keine Größenordnung fest und machen quasi alles auf, versuchen aber, ein Schutzkonzept zu hinterlegen. Das Problem ist eben einfach, dass es damit zu wahnsinnigen Ansammlungen bei den Großen – den ganz großen Möbelhäusern, den ganz großen Unternehmungen – kommt. Diese würden sicherlich alles tun, um zu versuchen, das zu organisieren, aber das würde dann dazu führen, dass wir in den Innenstädten wieder eine so massive Ballung hätten, dass sich der ganze positive Effekt der letzten Wochen in wenigen Tagen aufheben ließe. Das wollten wir nicht riskieren.“ Zu alledem: https://www.bundeskanzlerin.de/bkin-de/aktuelles/pressekonferenz-von-bundeskanzlerin-merkel-bundesminister-scholz-ministerpraesident-soeder-und-dem-ersten-buergermeister-tschentscher-im-anschluss-an-das-gespraech-mit-den-regierungschefinnen-und-regierungschefs-der-laender-1744310 Wer deutsche Innenstädte – insbesondere die kleineren Städte – kennt weiß, dass es zahlreiche kleine Geschäfte gibt, die entweder eine kleinere Verkaufsfläche als 800 qm haben oder zumindest diese verkleinern könnten. Außerdem befinden sich die von Söder angesprochenen „ganz großen Möbelhäuser“ üblicherweise gerade nicht in Innenstädten. Vor dem Hintergrund, dass nach wie vor das Abstandsgebot gilt – und sich die Menschen unstreitig ganz überwiegend daranhalten – erschließt sich die hinter der 800 qm liegende Logik nicht. Hier wird letztlich Gleiches ohne rechtfertigenden Grund ungleich behandelt. Seite 265 von 289 Und warum das für Buchhandlungen und Fahrradhandlungen, die ebenfalls häufig groß sind, nicht gelten soll, ist auch nicht verständlich. Nicht ersichtlich ist auch warum Bau- und Gartenbaumärkte privilegiert sind. Für die Grundversorgung der Bevölkerung dürften sie ersichtlich keine Rolle spielen. Der Handelsverband Deutschland hat dafür zu Recht kein Verständnis und erinnert daran, dass im Nicht-Lebensmittel-Einzelhandel in den zurückliegenden vier Wochen ein Schaden von 30 Milliarden Euro entstanden sei – und kann sich über die Öffnung eines Teils der Geschäfte nicht freuen. Die 800-Quadratmeter-Grenze kann der Verband nicht nachvollziehen. “Die jetzt beschlossenen Vorgaben führen zu Wettbewerbsverzerrungen und Rechtsunsicherheiten”, sagt Hauptgeschäftsführer Stefan Genth. Es gebe kein Sachargument dafür, kleinere Läden zu öffnen und größere nicht – Abstands- und Hygieneregeln könnten überall eingehalten werden. https://www.tagesschau.de/inland/corona-massnahmen-117.html Zu Recht weist ferner Dieter Holzer, Chef des Textilunternehmens Marc O’Polo, darauf hin, dass sich doch gerade auf größeren Flächen die Abstandsregelung gut einhalten ließen. https://www.faz.net/2.1690/einzelhandel-in-corona-zeiten-verflixter-streit-um-800-quadratmeter-16728088.html?premium Eines liegt auf der Hand, mit diesen Maßnahmen wird eine „massive Ballung“ jedenfalls nicht entgegenwirkt. Stattdessen wird es allenfalls zu einer höheren Ballung kommen, da sich die Menschen auf weniger Geschäfte verteilen. (2) Epidemiologisch nicht nachvollziehbare Regelen Seite 266 von 289 (1.1.) Verbot von Versammlungen Die Kammer wird unter anderem auch die bedeutsame Frage zu beantworten haben, ob es gerechtfertigt sein kann, Versammlungen im Sinne des Art. 8 GG, völlig unabhängig von ihrer konkreten Ausgestaltung, für weitere zwei Wochen pauschal unter Bezugnahme auf eine abstrakte Gefahr, die nach allgemeinen wissenschaftlichen Erkenntnissen durch Abstandsregeln und Hygiene auf ein allgemeines Lebensrisiko reduziert werden kann, zu verbieten. Mit der zu beantwortenden Frage geht nicht weniger einher als die danach, wieviel Freiraum die als einzige Kontrollinstanz vorhandene Judikative der Exekutive einzuräumen bereit ist. Selbstverständlich schafft diese Entscheidung auch Präzedenzfälle, denn wenn es angezeigt ist, zur Eindämmung einer Pandemie – ohne nachvollziehbare wissenschaftliche Evidenz – die Freiheitsgrundrechte quasi vollständig für eine gewisse Zeit außer Kraft zu setzen, so könnte es auch angezeigt sein, zur Vermeidung sozialer Unruhen Versammlungen für eine gewisse Zeit zu verbieten. Und warum sollte man in Anbetracht der aktuellen Unsicherheit eigentlich nicht auch im Wege der Rechtsverordnung und eines entsprechenden Bußgeldkatalogs verhindern, dass Menschen Fehlinformationen über das Corona-Virus verbreiten und hierfür die Verbreitung solcher „fake-news“ zumindest für eine gewisse Zeit als Ordnungswidrigkeit oder gar Straftat verfolgen? Die Antwort auf diese Frage kann nur lauten: Weil es der Anfang vom Ende des Rechtsstaates wäre. Wenn dem Verordnungsgeber gestattet wird, sich unter dem Deckmantel der „Unsicherheit“ jeder konkreten Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Erkenntnissen und der Rechtfertigung der Verhältnismäßigkeit seiner Maßnahmen für den konkreten Einzelfall zu entziehen, so steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Seite 267 von 289 er diesen Mantel auch künftig in diesem und in anderem Zusammenhang nutzen wird. Noch vor sechs Wochen hätte schließlich auch niemand für möglich gehalten, dass man im Freistaat Bayern mit 150,00 EUR Regelgeldbuße belegt wird, wenn man allein auf einer Parkbank – was epidemiologisch und virologisch völlig unbedenklich ist, was inzwischen auch das bayerische Innenministerium eingesehen hat – länger verweilt; und dies ohne vertiefte öffentliche Diskussion von den Menschen akzeptiert wird. Mit dem Versammlungsverbot wird der dem Kläger die Möglichkeit der kollektiven Meinungsäußerung genommen. Und das zu einem Zeitpunkt, in welchem die schwerwiegendsten Grundrechtseingriffe in der bundesdeutschen Geschichte vorgenommen werden. Nach einer Umfrage am 23. März 2020 befürworteten 95 % (!) der Befragten das Kontaktverbot, lediglich 3 % lehnten die Maßnahme ab. https://www.tagesschau.de/inland/deutschlandtrend-extra-blitzumfrage-103.html Zwar nimmt die Akzeptanz der Maßnahmen gemäß einer aktuellen Mannheimer Studie etwas ab, gleichwohl ist der Zuspruch immer noch sehr hoch, sodass sich diejenigen, die mit den Maßnahmen nicht einverstanden sind, in einer deutlichen Minderheitsposition befinden. https://www.deutschlandfunk.de/gesellschaftliche-auswirkungen-der-coronakrise-zustimmung.676.de.html?dram:article_id=475102; https://www.merkur.de/welt/coronavirus-deutschland-massnahmen-politik-umfrage-infratest-dimap-akzeptanz-buerger-lockdown-zr-13715685.html ; https://www.swr.de/wissen/studie-coronavirus-rueckhalt-fuer-harte-einschraenkungen-laesst-nach-100.html Seite 268 von 289 Das vorbehaltslos gewährte und für einen Rechtstaat konstitutive Versammlungsrecht ist vor allem auch ein Schutz der Minderheit. Die Minderheit, die mit den ergriffenen Maßnahmen nicht einverstanden ist, hat keine Möglichkeit dieser Ansicht effektiv – sprich: hör- und sichtbar – Ausdruck zu verleihen. Gerade in dieser Zeit, in der von vielen Grundrechten fast nichts mehr übrig ist, wiegt der Eingriff in die Versammlungsfreiheit so schwer, dass er nicht mehr verhältnismäßig ist. Zumal mittels des Aufgebens von Auflagen, etwa der Einhaltung des Mindestabstands und nötigenfalls eine zahlenmäßige Beschränkung, eine Infektion ausgeschlossen werden kann. Ordnerinnen und die Polizeibeamtinnen haben darauf zu achten, dass die Auflagen erfüllt werden und können die Versammlung bei Nichteinhaltung auflösen. Noch zu keiner anderen Zeit wurde auf diesem qualitativen und quantitativen Niveau in die Grundrechte der Bürgerinnen der Bundesrepublik Deutschland eingegriffen. Es war deshalb noch nie so dringend erforderlich, ihnen auch die Möglichkeit zu geben, sich öffentlich, gemeinsam mit anderen gegen die einschneidenden Maßnahmen zu positionieren. Umso mehr in einer Zeit in der keine demokratische Opposition mehr erkennbar ist.
In zahlreichen Städten in Deutschland fahren Feuerwehrwagen durch die Straßen und fordern die Menschen auf, zuhause zu bleiben und weisen auf Bestrafungen bei Zuwiderhandlungen gegen die Verordnungen hin. Es kam auch bereits zu willkürlichen Handlungen durch Polizei und Ordnungsämtern. Es herrscht ein Klima der Überwachung und Denunzierung.
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-03/ausgangssperren-coronavirus-verweilverbote-kontaktverbot-pandemie-ueberwachung; https://www.spiegel.de/politik/deutschland/corona-krise-
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und-buergerrechte-rendezvous-mit-dem-polizeistaat-a-68611322-f4d4-453f-aba5-5ec5a49ae329 ; https://www.welt.de/vermischtes/video207207799/Ostern-mit-Corona-Verstaerkte-Kontrollen-und-Blockwart-Mentalitaet.html
Dem Kläger wird hier ein wesentliches, ein den Rechtsstaat konstituierendes, Recht genommen. Er hat keine Möglichkeit, auf die weitreichenden Folgen, die die angeordneten Maßnahmen für ihn und seine Mitbürgerinnen haben, effektiv im Wege einer kollektiven Meinungsäußerung, aufmerksam zu machen. Jedenfalls nicht, ohne sich der Gefahr einer Strafverfolgung auszusetzen. Nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts darf Art. 8 Abs. 1 GG nur zum Schutz gleichwertiger anderer Rechtsgüter unter strikter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit eingeschränkt werden. Vgl. BVerfG, Beschl. v. 14.5.1985, 1 BvR 233/81, juris, Rn. 69; vgl. zudem BVerfG, Urt. v. 22.2.2011, 1 BvR 699/06, juris, Rn. 85. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kommt der Versammlungsfreiheit – und nicht nur dem Schutz des Lebens und der Gesundheit der Bevölkerung im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG – ein hoher Rang zu. Verstanden als Freiheit zur kollektiven Meinungskundgabe, kommt ihr letztlich konstituierende Bedeutung für eine freiheitliche demokratische Staatsform zu. BVerfG, Urt. v. 22.2.2011, 1 BvR 699/06, juris, Rn. 63; ausführlich BVerfG, Beschl. v. 14.5.1985, 1 BvR 233/81, juris, Rn. 63 ff.; zuletzt auch BVerfG, Beschl. v. 9.4.2020, 1 BvQ 29/20, Rn. 7. Das gilt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts umso mehr, als dass im parlamentarischen System des Grundgesetzes, kaum Seite 270 von 289 plebiszitäre Elemente enthalten sind, weshalb das Versammlungsrecht im Ergebnis die demokratische Grundordnung damit um „ein Stück ursprünglich-ungebändigter unmittelbarer Demokratie“ bereichert. So bereits BVerfG, Beschl. v. 14.5.1985, 1 BvR 233/81, juris, Rn. 66. In ihrer idealtypischen Ausformung sind Demonstrationen die gemeinsame körperliche Sichtbarmachung von Überzeugungen, bei der die Teilnehmerinnen in der Gemeinschaft mit anderen eine Vergewisserung dieser Überzeugungen erfahren und andererseits nach außen – schon durch die bloße Anwesenheit, die Art des Auftretens und die Wahl des Ortes – im eigentlichen Sinne des Wortes Stellung nehmen und ihren Standpunkt bezeugen.
Zuletzt: BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 17. April 2020

  • 1 BvQ 37/20 -, Rn. 18.
    Besondere Bedeutung erhält dieses direkt-demokratische Strukturelement der freiheitlich-demokratischen Rechtsordnung offensichtlich bei Krisen und Gefahrenlagen, deren Bewältigung und Bekämpfung mit weitgehenden Beschränkungen grundrechtlicher Freiheiten einhergehen.
    Vorliegend wird nicht verkannt, dass es sich bei dem Schutz von Leben und Gesundheit insbesondere im Hinblick auf die Aufrechterhaltung der Gesundheitsfürsorge Sinne um wichtige verfassungsrechtliche Belange handelt, für die den Staat zudem eine aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgende grundrechtliche Schutzpflicht trifft.
    Vgl. zuletzt BVerfG, Beschluss vom 9. April 2020 – 1 BvQ 29/20 –, Rn. 8; siehe auch BVerfG, Urteil vom 30. Juli 2008 – 1 BvR 3262/07 –, juris, Rn. 119.
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    Vor dem Hintergrund der besonderen Bedeutung der Versammlungsfreiheit ist das hier im Verordnungswege eingeführte Versammlungsverbot mit Ausnahmevorbehalt als unverhältnismäßig anzusehen.
    So ist in Art. 8 Abs. 1 GG gerade der Grundsatz statuiert, dass die Durchführung von Versammlungen grundsätzlich ohne Anmeldung oder Erlaubnis gewährleistet ist.
    Versammlungen dürfen nach ständiger Rechtsprechung und ganz herrschender Meinung daher nicht unter einen generellen Erlaubnisvorbehalt gestellt werden.
    Hierzu BVerfG, Urteil vom 22. Februar 2011 – 1 BvR 699/06 –, juris, Rn.89; Jarass, in: ders./Pieroth, GG, 15. Aufl. 2018, Art.8 Rn. 25; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, 3. Aufl. 2013, Art. 8 Rn. 83; Depenheuer, in: Maunz/Dürig, GG, Stand: 10/2019, Art. 8 Rn. 167; Hoffmann-Riem, in: Denninger u.a., AK-GG, Bd. 1, Stand: 08/2002, Art. 8 Rn. 58; Kniesel/Poscher, in:Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 6. Aufl. 2018, Abschn. K Rn. 142.
    Hier wird vorliegend das verfassungsrechtlich vorgegebene Regel-Ausnahme-Verhältnis von (Erlaubnis-)Freiheit und Beschränkung dieser Freiheit im Ergebnis umgekehrt.
    An dieser Einschätzung ändert auch die grundsätzlich bestehende Möglichkeit nichts, dass eine Ausnahmegenehmigung beantragt werden kann. Hiernach kommt eine Ausnahme nur dann in Betracht, sofern dies im Einzelfall aus infektionsschutzrechtlicher Sicht vertretbar ist. Der Verordnungsgeber darf jedoch nicht tiefer in Grundrechte eingreifen als unbedingt erforderlich.
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    Eine Untersagung von Versammlungen kommt ferner nach der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung nur in Betracht, wenn eine unmittelbare, aus erkennbaren Umständen herleitbare Gefahr für mit der Versammlungsfreiheit gleichwertige, elementare Rechtsgüter vorliegt. Für das Vorliegen der „unmittelbaren“ Gefährdung bedarf es einer konkreten Gefahrenprognose.
    BVerfG, Urteil vom 22. Februar 2011 – 1 BvR 699/06 -, juris, Rn. 90.
    Es müssen tatsächliche Anhaltspunkte bestehen, die bei verständiger Würdigung eine hinreichende Wahrscheinlichkeit des Gefahreneintritts ergeben. Bloße Verdachtsmomente und Vermutungen reichen für sich allein nicht aus.
    Vgl. hierzu m.w.N. BVerfG, Beschluss vom 4. September 2009 – 1 BvR 2147/09 –, juris, Rn. 9; vgl. bereits BVerfG, Beschluss vom 14. Mai 1985 – 1 BvR 233/81 –, juris, Rn. 80.
    Wie oben dargelegt, ist keine unmittelbare Gefahr ersichtlich. Ein bloßes Risiko genügt bereits nicht. Aber selbst, wenn man ein bloßes Risiko genügen lassen würde, kann diesem jedenfalls mit der Auferlegung von Hygienemaßnahmen ausreichend begegnet werden.
    Der Verordnungsgeber geht von einer Pandemielage und einem entsprechend hohen Risiko der Übertragung des Virus von Mensch zu Mensch aus, die nach derzeitiger Erkenntnislage durch Tröpfcheninfektion erfolgt. Es ist daher schlüssig, dass die Reduzierung menschlicher Kontakte das Mittel der Wahl ist, um die Wahrscheinlichkeit der Übertragung des Erregers zu reduzieren. Gleichwohl hat sich der Verordnungsgeber nicht dafür entschieden, die Kontaktreduktion zu maximieren und Kontakte „auf Null“ zu setzen. Zwar hat er weitgehenden Betretungsverboten erlassen. Gleichzeitig hat er aber eine Vielzahl an Ausnahmen – insbesondere die Öffnung einer
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    Vielzahl an Geschäften – zugelassen, sodass jedenfalls nicht die Rede davon sein kann, dass er den öffentlichen Raum entvölkert hat. Er nimmt sogar in Kauf, dass der Mindestabstand von 1,5 m nicht immer eingehalten werden kann – etwa bei der nach wie vor zulässigen Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs. Das bedeutet er nimmt ein erhöhtes Infektionsrisiko sogar in geschlossenen Räumen in Kauf. Es ist daher nicht verfassungsmäßig, generell Versammlungen unter freiem Himmel präventiv zu verbieten.
    Es ist verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen, Bürgerinnen die Inanspruchnahme eines wichtigen und hochrangigen Freiheitsrechts generell zu verwehren, während bei alltäglichen Verrichtungen, wie Bus und Bahn oder Taxi fahren, der Schutzstandard im Ergebnis zurückbleiben darf und dort ein erhöhtes Infektionsrisiko in Kauf genommen wird. Erschwerend kommt hinzu, dass der Geltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes selbst dann, wenn unmittelbare Gefährdungen von Rechtsgütern zu befürchten wären, dem nicht durch ein generelles Verbot, sondern primär durch Auflagen entgegenzuwirken wäre. Die Untersagung einer Versammlung kommt als ultima ratio nur in Betracht, wenn die Beeinträchtigungen anders nicht verhindert werden können. Vgl. BVerfG, Urteil vom 22. Februar 2011 – 1BvR 699/06 –, juris, Rn. 90. Nach alledem, kann das generell Versammlungsverbot nicht aufrechterhalten bleiben. (1.2.) Gottesdienste Seite 274 von 289 Das pauschale Verbot von Zusammenkünften in Gotteshäuser lässt sich ebenfalls nicht epidemiologisch begründen. Auch hier hätte ersichtlich die Auferlegung von Hygieneregelungen, die vor allem auf das Einhalten des entsprechenden Abstands, etwa durch die Begrenzung der gleichzeitig anwesenden Personen, ausgereicht, um das Infektionsrisiko zu senken, bzw. nahezu auszuschließen. Der Verordnungsgeber hat hier nicht einmal die Möglichkeit vorgesehen, dass Ausnahmegenehmigungen erteilt werden können. (1.3.) Untersagung einer Vielzahl von Betrieben, Einrichtungen und Angeboten sowie einer großen Anzahl von Ladengeschäften und Gastronomiebetrieben Es gilt das bereits Gesagte. Es gibt keinen Grund, Fitnessstudios geschlossen zu halten, da inzwischen eine Evidenz dafür besteht, dass die Erreger nicht im Wege einer Schmierinfektion übertragen werden. Dasselbe gilt für Museen, Schlösser, Musikschulen, Volkshochschulen den meisten Ladengeschäften usw. All jene Einrichtungen könnten mit Hygieneauflagen (Abstandseinhaltung, Höchstbegrenzungen, Lüftungspläne usw.) belegt werden, um das Infektionsrisiko deutlich zu reduzieren. Es wird daher beantragt, den Verordnungsgeber aufzufordern, darzulegen, warum, Museen, Schlösser, größere Ladengeschäfte, Musik- und Volkshochschulen, Nagelstudios und Frisierläden, sowie der gesamte Bewirtungsbetrieb verboten ist. Er möge eine Aufstellung machen, die nachvollziehbar die hier nicht einleuchtende Ungleichbehandlung aller verbotenen Einrichtungen, Betriebe und Veranstaltungen erläutert. Seite 275 von 289 Um es mit Wolfgang Kubickis Worten vom 20. April 2020 zu sagen: „Rechtlich eindeutig ist: Nicht die Öffnung muss gerechtfertigt werden, sondern die Aufrechterhaltung der Schließung.“ https://www.welt.de/politik/deutschland/article207370049/Streit-um-Corona-Lockerungen-Die-Kanzlerin-vergreift-sich-im-Ton.html 7. Schlussbemerkung Noch nie in der bundesdeutschen Geschichte wurden die Freiheitsgrundrechte so gravierend, für so einen langen Zeitraum und für so viele Menschen gleichzeitig beschnitten. Ein Ende ist zudem nicht in Sicht. Diesseits bestehen keine Zweifel daran, dass den zur Entscheidung berufenen Richterinnen bewusst ist, dass vorliegend über die Rechtmäßigkeit der gravierendsten Grundrechtseingriffe in der Bundesrepublik Deutschland zu entscheiden ist. Die gerichtlichen Entscheidungen dieser Tage schreiben Rechtsgeschichte. So oder so.
    Abschließend erlauben sich die Unterzeichnenden und die Klägerinnen nochmals zu konstatieren, dass es für die einschneidenden Maßnahmen bereits keine Rechtsgrundlage gibt. Derart weitreichende Maßnahmen dürfen nicht durch die Exekutive angeordnet werden. Die Exekutive handelt hier ohne ausreichende Ermächtigung. Die Gewaltenteilung und der Rechtsstaat existieren auch in Krisenzeiten. Gerade dann bewährt sich ein Rechtstaat. Der Parlamentsvorbehalt ist konstitutiv für eine funktionierende Demokratie und steht nicht zur Disposition. Weder zu der der Politikerinnen noch der des Volkes.
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    Die Maßnahmen sind zudem offensichtlich unverhältnismäßig. Sie sind auf Prognosen gestützt, die sich ihrerseits auf eine – selbstverschuldete – in vielerlei Aspekten unzureichenden Datenlage stützen und zudem – glücklicherweise – auch nicht Realität geworden sind. Die Maßnahmen haben außerdem – wie gezeigt – Auswirkungen auf nahezu alle Lebensbereiche des Klägers. Das tatsächliche Ausmaß der weitreichenden Folgen der undifferenzierten Maßnahmen kann aktuell nur düster erahnt werden. Aber selbst die dargelegten Umstände genügen, um die Unverhältnismäßigkeit zu belegen. Selbst wenn man das anders sähe, so sind wenigstens die Regeln aufzuheben, die sich nicht epidemiologisch oder virologisch begründen lassen (OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschl. v. 09.04.2020, Az. 2 KM 268/20 OVG und 2 KM 281/20). Das betrifft wenigstens das pauschale Verbot von Versammlungen und Gottesdiensten unter freiem Himmel.
    Es sei auch unter Bezugnahme auf die oben dargestellten gravierenden Folgen für andere Rechtsgüter daran erinnert, dass auch der Schutz des Lebens einer Abwägung zugänglich ist. Das ist er schon immer gewesen. Ständig wird der Lebensschutz gegen andere Rechtsgüter abgewogen. Häufig tritt der Lebensschutz zugunsten anderer Rechtsgüter zurück. Das ist kein Novum, sondern Rechtsalltag.
    Angesichts der emotional geführten Debatten und des Umstands, dass man sich in diesen Tagen dafür rechtfertigen muss, auf die Einhaltung des Gesetzes zu dringen, sei darauf hingewiesen, dass es dem Kläger und den Unterzeichnenden nicht um das „Ausnutzen“ eines kleinen formalen Fehlers geht.
    Es ist nämlich kein kleiner Fehler.
    Es genügt nicht, dass man „später“ alles analysiert und aufarbeitet.
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    Wir beobachten gerade, wie der Rechtsstaat jeden Tag ein wenig mehr erodiert, wie auch der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, jüngst mahnend feststellte.
    https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/corona-ex-verfassungsrichter-papier-sorgt-sich-um-grundrechte-16708118.html
    Wir beobachten indes keinen wirklich korrigierenden Kurs aus der Politik. Im Gegenteil Politiker*innen stellen weitere tiefgreifende Grundrechtseingriffe in Aussicht. Zum Beispiel das Auswerten von Handydaten. Außerdem werden erneut Verschärfungen in Aussicht gestellt falls sich die Bevölkerung nicht so verhält wie gewünscht.
    https://www.merkur.de/politik/coronavirus-deutschland-merkel-lockerung-massnahmen-entscheidung-kontaktverbot-geschaefte-news-zr-13651083.html
    Die Legitimation für all dies kann nur das Gesetz geben. Der Ruf der Bevölkerung nach noch mehr Maßnahmen ersetzt weder die Notwendigkeit einer Eingriffsgrundlage noch setzt es das von Verfassungswegen zu beachtende Übermaßverbot außer Kraft. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger bringt diesen Umstand gut auf den Punkt, wenn sie sagt:
    „Wenn Bürger fordern, die Notstandsgesetze als ultimativen Akt staatlicher Gewaltausübung in der Corona-Krise anzuwenden, zeigt das, wie locker die Fesseln des Staates heute sitzen. Wenn darüber diskutiert wird, ob man die Telefone der Bürger überwachen sollte, um die Einhaltung von Ausgangssperren zu kontrollieren, zeigt das, wie schnell wir bereit sind, unsere Freiheit auf dem Altar der Sicherheit zu opfern. Dass diese Maßnahmen juristisch fragwürdig sind, gerät dabei schnell in Vergessenheit.“
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    https://www.welt.de/debatte/kommentare/article206787271/Corona-Massnahmen-Wir-sind-zu-schnell-bereit-unsere-Freiheit-zu-opfern.html
    Die Exekutive und die Legislative haben den Rechtsstaat im Stich gelassen.
    Vor diesem Hintergrund kommt der Justiz eine besondere Bedeutung zu. Gerade weil der öffentliche Druck so hoch ist, kommt den Gerichten die Aufgabe zu, sich von der Emotionalität der Debatte freizumachen und Sachfragen in den Vordergrund zu stellen.
    Als letztes Korrektiv bleibt damit – wie immer – die Judikative. Zumindest in der bundesdeutschen Geschichte war auf sie verlass.
    Der Verordnungsgeber darf nämlich nicht beschließen, die Freiheit gegen die Sicherheit auszutauschen.
    Das Dargelegte zeigt, dass es keine wissenschaftliche Evidenz für eine Überlastung des Gesundheitssystems gibt. Damit ist das Kernargument und die Kernrechtfertigung des kollektiven Lebens- und Würdeschutzes vollständig entkräftet. Es bleibt also „lediglich“ der individuelle Lebensschutz.
    Zu Recht hat sich Volkmann bereits am 20. März 2020 wie folgt geäußert:
    „Kein Verwaltungs- oder auch Verfassungsgericht würde es in der derzeitigen Situation riskieren, auch nur eine davon zu beanstanden und der Regierung im Kampf gegen die als existenziell empfundene Bedrohung in den Arm zu fallen. Dem entspricht es, dass die Frage der Verfassungsmäßigkeit solcher Maßnahmen in der öffentlichen Diskussion bislang so gut wie keine Rolle spielt, was gerade in einem Land, das sonst alle
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    politischen Fragen gern als Verfassungsfragen behandelt, durchaus bemerkenswert ist. Natürlich mag man insbesondere im Fall einer Ausgangssperre, wie sie auch hierzulande bald drohen könnte (alle Maßnahmen, die wir in den Nachbarländern beobachten können, erreichen uns ja im Ergebnis immer nur mit einiger Verzögerung) fragen können, was diese eigentlich bewirkt und wieso es für irgendjemanden schädlich sein soll, wenn man alleine oder mit der Familie in genügendem Abstand von anderen im Park oder selbst in der Stadt spazieren geht. Auch ist es eine so tief in die persönliche Freiheit einschneidende Maßnahme, dass man sie sich so vor Ausbruch der Krise nur in China oder, sagen wir, Nordkorea vorstellen konnte.
    Aber schon die erleichterte Kontrollierbarkeit und die tatsächlich bewirkte Einschränkung von Kontakt- und damit von Übertragungsmöglichkeiten dürften angesichts des bei der Eignungsprüfung traditionell angelegten großzügigen Maßstabs – am Ende scheitert daran ja nur, was evident ungeeignet ist – im Ergebnis auch sie rechtfertigen. Die entscheidende Frage bleibt allerdings, wie lange diese Rechtfertigung wirkt und wie lange an ihr festgehalten werden kann, wenn alle entsprechenden Maßnahmen nicht oder jedenfalls nicht innerhalb eines begrenzten Zeithorizonts greifen: einen Monat? Zwei oder drei Monate? Ein Jahr oder möglicherweise sogar zwei Jahre, wenn, wie es einige Virologen schon vorhersagen, im Oktober möglicherweise die nächste Welle heranrollt und bis dahin kein Impfstoff gefunden ist?
    Spätestens dann werden die Fragen, die wir jetzt verdrängen, wieder auf uns zukommen, und wir werden eine Antwort darauf finden müssen. Sie werden sich praktisch stellen, weil das weitgehende Herunterfahren von Gesellschaft immer nur für begrenzte Zeit aufrechterhalten werden kann; irgendwann wird der Widerstand so groß, dass es nicht mehr geht. Sie stellen sich
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    aber auch verfassungsrechtlich und hier speziell als Frage nach der weiteren Angemessenheit der entsprechenden Einschränkungen, wenn der mögliche Erfolgseintritt immer weiter in der Zukunft liegt und andererseits die sichtbaren Folgeschäden größer und größer werden. Diese betreffen die Individuen, aber sie betreffen auch die Gesellschaft insgesamt in politischer, in kultureller und – man muss dies so sagen – auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Niemand will aus dem gegenwärtigen Alptraum in einem Trümmerfeld erwachen, in dem ganze Wirtschaftszweige, eine Vielzahl von Unternehmen und massenhaft individuelle berufliche Existenzen vernichtet sind.
  1. Die damit aufgeworfenen Abwägungsfragen führen hinaus aus dem Verfassungsrecht und hinüber in die Ethik oder auch Rechtsphilosophie und können nur von hier aus beantwortet werden; auch die Antworten, die wir in der Sprache des Verfassungsrechts darauf geben, sind letztlich daraus entlehnt oder müssen sich dazu verhalten. In welche Grenzbereiche es führt, wenn die Krankenhäuser an ihre Kapazitätsgrenzen geraten und Ärzte in der konkreten Situation die Entscheidung über Behandlung oder Nichtbehandlung, in der Sache also über Leben und Tod treffen müssen, zeigen uns die einschlägigen Berichte und die Bilder vor Ort; es ist dies eine Situation, die niemand wollen kann. Gleichwohl wird man, wenn sie da ist, Maßstäbe finden und verantworten müssen, nach denen die Entscheidung zu treffen ist. Ebenso wird man auch bei der generellen Abwägung, welche Maßnahmen in welcher Intensität und über welchen Zeitraum aufrechterhalten werden können, irgendwann eine Entscheidung treffen müssen, welche Interessen in sie einzubeziehen sind und welche nicht. Können es auch solche des allgemeinen Wohlstands oder eines gesamtgesellschaftlichen Nutzens sein – und bis zu welchem Grade und von welchem Punkt an? Vom Standpunkt eines normativen Individualismus aus, wie wir ihn grundgesetzlich in
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    der Garantie der Menschenwürde verankert sehen, neigen wir dazu, alle diese Interessen in existenziellen Fragen als irrelevant beiseite zu schieben; immer dort, wo es um den „Höchstwert Leben“ geht, verbietet sich, wie wir sagen, jede Verrechnung.
    In der Tat spricht einiges dafür, an diesem Ausgangspunkt auf einer grundsätzlichen Ebene festzuhalten. Auf der anderen Seite muss man sehen, dass wir derartige Abwägungen in vielen Fällen längst vornehmen, ohne sie uns als solche einzugestehen. So wissen wir im Grunde, dass die Zulassung des Autoverkehrs auf unseren Straßen jedes Jahr den Tod von zwischen 3000 – 4000 Menschen zur Folge hat. Diese Folge ist so kausal wie vorhersehbar, sie trifft oft die Schwächsten wie die Kinder, und wir könnten sie ohne weiteres abwenden, wenn wir Autos verbieten würden. Aber wir tun es nicht, weil ihre Produktion uns wirtschaftlichen Wohlstand garantiert, der Austausch und Transport von Gütern ermöglicht wird, wir individuelle Mobilität schätzen etc., und die Risiken des Straßenverkehrs erscheinen uns dann als, wie die Juristen sagen, „erlaubtes Risiko“ oder „sozial adäquat“.
    Auch bei den bisherigen Epidemien von der Schweinegrippe bis zur normalen Influenza hätten wir durch Einreisesperren, Verbot von Großveranstaltungen oder zuletzt auch Isolierungen der Menschen voneinander die Todesrate von vornherein erheblich senken können. Aber wir haben es nicht getan, weil uns diese Einschränkungen zu schwerwiegend erschienen und alle Erkrankten in den Krankenhäusern behandelt werden konnten. Und ganz generell könnte irgendwann der Punkt kommen, an dem wir uns eingestehen müssen, dass es Krankheiten gibt, die wir nicht besiegen können, ebenso wenig wie wir den Tod besiegen können. Wir können uns, wie jetzt, eine Zeitlang dagegen anstemmen, am Ende aber eben doch immer nur eine Zeitlang.
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    So oder so werden wir irgendwann wieder lernen müssen, die Welt nicht nur durch die Brille der Virologen zu betrachten.“
    https://verfassungsblog.de/der-ausnahmezustand/
    Der Zeitpunkt, an dem wir lernen müssen zu akzeptieren, dass ein allgemeines Lebensrisiko auch in virologischer Hinsicht besteht und nicht absolut und vollständig ausgeschlossen werden kann; jedenfalls nicht unter gleichzeitiger Wahrung der verfassungsrechtlich verbürgten Grundrechtspositionen und Grundwerte wie Demokratie und Rechtsstaat, ist spätestens jetzt gekommen. Jeder Mensch hat das Recht für sich selbst Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Umgekehrt hat der Staat jedoch nicht das Recht den Menschen das um jeden Preis aufzuoktroyieren. Schon gar nicht, wenn es zu derartigen „Kollateralschäden“ – dazu gehören auch Menschenleben! – kommt. Eigenverantwortliche Selbstschädigung ist in einem freiheitlichen Staat das Recht jedes Einzelnen. Dieses Recht stößt erst an seine Grenze, wenn damit das komplette Gesundheitssystem in Gefahr gebracht wird. Das ist hier ersichtlich nicht der Fall. Dies zeigen die neueren Studien und wissenschaftlichen Erkenntnisse mit zunehmender Deutlichkeit. Menschen dürfen Rauchen, Alkohol trinken, Auto fahren, Fallschirmspringen, dick werden, sich überarbeiten, mit dem Fahrrad ohne Helm fahren usw. Menschen dürfen ihr Leben gefährden. Der Staat kann (leider) nicht beschließen, dass nicht mehr gestorben werden darf. Schon gar nicht um diesen Preis.
    III.
    Kostenentscheidung
    Die Kosten des Verfahrens hat der Klagegegner als unterliegender Beteiligter zu tragen (§ 154 Abs. 1 VwGO).
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    B.
    Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
    Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und begründet.
    Der Antrag ist gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO statthaft. Der Kläger begehrt eine Regelungsanordnung.
    Im Hinblick auf die Zulässigkeit und Begründetheit wird nach oben verwiesen, ergänzend wird vorgetragen:
    Nach dieser Bestimmung ist eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung nötig erscheint, um – unter anderem – wesentliche Nachteile abzuwenden. Hierbei bedarf es im Unterschied zur Sicherungsanordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO nicht der vollen Prüfung und Glaubhaftmachung des behaupteten Rechtes, vielmehr kann auch bei offener Erfolgsaussicht des Verfahrens in der Hauptsache eine vorläufige Regelung für die Dauer des Verfahrens ergehen, sofern diese sich unter Abwägung der privaten Interessen mit den öffentlichen Interessen als geboten erweist.
    Läuft die beantragte einstweilige Anordnung – wie vorliegend – auf eine vollständige oder zeitweilige Vorwegnahme der Hauptsache hinaus, so kann wegen des verfassungsrechtlichen Gebotes effektiver Rechtsschutzgewährung eine einstweilige Anordnung ausnahmsweise nur dann ergehen, wenn bei einer Ablehnung des Antrags auf Gewährung von vorläufigen Rechtsschutz und einer Verweisung auf das Hauptsacheverfahren den Rechtsuchenden nicht ausgleichbare Nachteile entstehen, deren Hinnahme ihm nicht zuzumuten ist. Die Anforderungen an den Nachweis des geltend gemachten Anspruchs sind dabei umso höher, je stärker sich das mit der Anordnung Begehrte mit dem Ziel der Hauptsache deckt.
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    Zu alledem: VG Mainz, Beschluss vom 13. Oktober 2017 – 1 L 961/17.MZ –, juris Rn. 25
    Im Interesse effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) kann es geboten sein, die Hauptsache vorwegzunehmen, sofern eine Versagung vorläufigen Rechtsschutzes den Kläger schwer und unzumutbar oder irreparabel belasten würde (BVerfG NJW 2002, 3691; BVerwG NVwZ 2000, 189; OVG Berlin NJW 2018, 2217; VGH München BeckRS 2018, 8608; OVG Münster BeckRS 2016, 55713; OVG Münster BeckRS 2016, 41509; VGH München BeckRS 2011, 54237; OVG Berlin-Brandenburg BeckRS 2011, 45065; OVG Bautzen BeckRS 2010, 50450; OVG Münster BeckRS 2009, 37413; OVG Schleswig BeckRS 2008, 40366; OVG Münster BeckRS 2007, 21718; OVG Saarlouis NVwZ-RR 2005, 550). Je schwerer die mit einer Versagung von Eilrechtsschutz verbundenen Belastungen wiegen und je geringer die Wahrscheinlichkeit ist, dass sie im Falle des Obsiegens in der Hauptsache rückgängig gemacht werden können, umso weniger darf das Interesse an einer vorläufigen Entscheidung zurückgestellt werden (BVerfG 2. Kammer des Erstens Senats NJW 2017, 545). Der vorläufige Rechtsschutz ist also zu gewähren, wenn sonst dem Kläger eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in seinen Rechten droht, die durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann, es sei denn, dass ausnahmsweise überwiegende, besonders gewichtige Gründe entgegenstehen (BVerfG 3. Kammer des Ersten Senats BeckRS 2009, 39313). Der Anordnungsgrund hat in diesen Fällen ein solches Gewicht, dass dem Kläger ein weiteres Zuwarten nicht zugemutet werden kann, weil Rechtsschutz dann nicht mehr gewährt werden könnte. Es müssen also unzumutbare Nachteile zu besorgen sein, die über die mit einem Zeitverlust stets einhergehenden Belastungen hinausgehen, welche die Dringlichkeit der erstrebten einstweiligen Anordnung rechtfertigen (zu Beispielen Kuhla/Hüttenbrink VerwProz/Kuhla J 215; SSB/Schoch Rn. 155).
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    BeckOK VwGO/Kuhla, 52. Ed. 1.7.2019, VwGO § 123 Rn. 156
    In dem Zusammenhang ist ausdrücklich auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu verweisen. Droht bei Versagung des einstweiligen Rechtsschutzes eine erhebliche Grundrechtsverletzung, die durch eine stattgebende Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann, so darf sich das Fachgericht im Eilverfahren grundsätzlich nicht auf eine bloße Folgenabwägung der widerstreitenden Interessen beschränken. Das Gebot effektiven Rechtsschutzes erfordert dann vielmehr regelmäßig eine über die sonst übliche, bloß summarische Prüfung des geltend gemachten Anspruchs hinausgehende, inhaltliche Befassung mit der Sach- und Rechtslage.
    BVerfG, Beschluss vom 14. September 2016 – 1 BvR 1335/13.
    Ferner ist auch der Anordnungsanspruch hier gegeben.
    Darunter ist der zu sichernde bzw. der zu regelnde materielle Anspruch zu verstehen, den der Kläger im Hauptsacheverfahren verfolgt (SSB/Schoch Rn. 69 und 72; NK-VwGO/Puttler Rn. 77). Der Anordnungsanspruch ist grundsätzlich zu bejahen, wenn nach einer Prüfung der dem Gericht glaubhaft gemachten bzw. von diesem ermittelten Tatsachen ein Obsiegen des Klägers in der Hauptsache wahrscheinlich ist. Ist dagegen die (anhängige oder künftige) Hauptsacheklage offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist der Anordnungsanspruch zu verneinen, die einstweilige Anordnung kann nicht ergehen.
    BeckOK VwGO/Kuhla, 52. Ed. 1.7.2019, VwGO § 123 Rn. 73a
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    Die Frage, ob eine vorläufige Regelung „nötig erscheint“, ist auf der Grundlage einer Interessenabwägung vorzunehmen. Abzuwägen ist das Interesse des Klägers an der begehrten Regelung mit dem Interesse des Antragsgegners an der Beibehaltung des bestehenden Zustands (VG Bayreuth BeckRS 2015, 51653; SSB/Schoch Rn. 82). Zu diesem Zweck ist die Situation, die sich bei Erlass der einstweiligen Anordnung ergibt, mit der zu vergleichen, die sich ergibt, wenn der Antrag zurückgewiesen wird.
    Das Gericht prüft also zunächst, welche nachteiligen Folgen der Kläger zu befürchten hat, wenn der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt wird und sich im Hauptsacheverfahren herausstellt, dass der geltend gemachte Anspruch besteht. Die Gewichtung dieser Folgen ist verfassungsrechtlich durch Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG determiniert. Je schwerer die für den Kläger zu erwartenden Belastungen wiegen und je geringer die Wahrscheinlichkeit ist, dass sie im Falle des Obsiegens in der Hauptsache rückgängig gemacht werden können, umso weniger darf das Interesse an einer vorläufigen Regelung oder Sicherung der geltend gemachten Rechtsposition zurückgestellt werden (BVerfG 2. Kammer des Ersten Senats NVwZ-RR 2005, 442 (443)). Einstweiliger Rechtsschutz ist insbesondere zu gewähren, wenn anders dem Kläger eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in seinen Grundrechten droht, die durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann (BVerfG NJW 1989, 827; SG Fulda NZS 2011, 545 (Anordnung auf Bewilligung einer Drogentherapie, um eine Strafaussetzung zur Bewährung gem. § 57 StGB zu ermöglichen). Bei der Gewichtung dieser Folgen kann eine Rolle spielen, ob der Kläger ohne Zeitverzug alles in seiner Möglichkeit Stehende veranlasst hat, um sein Interesse zu realisieren (OVG Münster BeckRS 2009, 34924; OVG Hamburg NVwZ-RR 1998, 314). Wenn allerdings eine aus Sicht des Klägers bereits erfolgte Rechtsverletzung Anlass für den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist, ohne dass eine konkrete Wiederholungsgefahr gegeben ist, fehlt der
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    Anordnungsgrund (OVG Lüneburg BeckRS 2014, 54320; VGH München BeckRS 2013, 52260).
    BeckOK VwGO/Kuhla, 52. Ed. 1.7.2019, VwGO § 123 Rn. 127, 128a
    Des Weiteren ist auch der erforderliche Anordnungsgrund gegeben. Im Einzelfall kann die Bejahung des Anordnungsanspruchs Indizwirkung für das Vorliegen des Anordnungsgrunds haben. Bei einer Fallgestaltung, in der dieser bei Versagung des vorläufigen Rechtsschutzes fortschreitend endgültig vereitelt wird, ist die Bejahung des Anordnungsanspruchs für die Prüfung des Anordnungsgrundes in weitem Umfang vorgreiflich. Dies gilt jedenfalls dann, wenn insoweit auch Grundrechtspositionen von Gewicht in Rede stehen (BVerfG 3. Kammer des Ersten Senats BeckRS 2009, 39313).
    BeckOK VwGO/Kuhla, 52. Ed. 1.7.2019, VwGO § 123 Rn. 131aa
    So verhält es sich hier. Es droht eine erhebliche Grundrechtsverletzung in eine Vielzahl an Grundrechten, die im späteren Hauptsacheverfahren nicht mehr beseitigt werden kann. Zu keiner anderen Zeit wurde derart tief in die Grundrechte aller Menschen in der Bundesrepublik Deutschland eingegriffen, sodass das ein klarer Fall für die Anwendung der vorgenannten Rechtsprechung ist.
    Auch die Eilbedürftigkeit hinsichtlich des Feststellungsbegehrens liegt evident vor. Voraussetzung ist grundsätzlich, dass dem Kläger unter Berücksichtigung seiner Interessen sowie der öffentlichen Interessen und der Interessen Dritter nicht zumutbar ist, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten.
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    etwa HessVGH, Beschluss vom 5. Februar 1993 – 7 TG 2479/92 –, NVwZ-RR 1993, 387 [389]; Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO, 22. Aufl. 2016, § 123, Rn. 26.
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