Jochen Krautz Kompetenzen machen unmündig Streitschriften zur BildungHeft 1

Jochen Krautz Kompetenzen machen unmündig Streitschriften zur Bildung
Heft 1

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Hrsg. Fachgruppe Grundschulen
GEW Berlin
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Zur Schriftenreihe
Mit den Streitschriften zur Bildung möchten wir eine Reihe kritischer
Texte vorstellen, die jenseits von Parteipolitik und kurzfristigen
bildungspolitischen Moden entstanden sind. Die Beiträge der Reihe
behandeln Konzepte und Schlagwörter wie z.B. „Kompetenzorientierung“
in ihren strukturellen politischen und ideologischen Zusammenhängen
und ermöglichen damit den Blick über den Tellerrand der tagesaktuellen
Diskussion hinaus. Auf diese Weise sind sie geeignet, den Horizont der
bildungspolitischen Debatte zu erweitern – und sie wieder stärker auf die
erlebten Realitäten in den Bildungsinstitutionen zurückzuorientieren.
Impressum
Herausgeber:
Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft
Landesverband Berlin/Fachgruppe Grundschulen
Ahornstraße 5
10787 Berlin
www.gew.berlin.de
Verantwortlich: Sibylle Recke, Stephan Wahner
Online-Version
Juni 2015 (2. Aufl.)
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Vorwort
von Sibylle Recke, Fachgruppe Grundschulen, GEW Berlin
Überall werden Stimmen der Unzufriedenheit laut – in den Bildungsinstitutionen
bundesweit ebenso wie in Berlin. Das Gefühl, dass in den
letzten Jahren etwas ganz gründlich schief läuft, teilen viele miteinander.
Am augenfälligsten ist zunächst der Eindruck, dass sich zwischen politischen
Absichtserklärungen und dem Berufsalltag von Lehrerinnen und
Erzieherinnen ein breiter Graben auftut. Das Feld wird beherrscht von
Reformen und Absichten, die häufig mit heißer Nadel gestrickt und dann
zum Teil wieder zurückgenommen werden. Die professionelle Neugierde
und der Tatendrang werden so überstrapaziert und sinnlos verbraucht. In
Kombination mit der Arbeitsüberlastung führen diese Verhältnisse vielfach
zu einer Bewegungslosigkeit, die keine individuelle Trägheit ist,
sondern eine Reaktion auf ein Zuviel. So wird in Berlin auch im schulischen
Bereich das Flughafensyndrom erzeugt, gekennzeichnet durch vielfach
gescheiterte und vertagte auf- und zugeschüttete in diesem Falle pädagogische
Großbaustellen.
Bildung in der Demokratie heißt kritikfähig und mündig zu sein oder zu
werden. Das genau bedeutet, die Dinge auf ihre Bedeutung, auf ihren Sinn
und Kontext zu befragen und damit die Kunst der Unterscheidung zu
beherrschen.
In den letzten Jahren findet auf allen Ebenen der Gesellschaft eine beliebige
Ansammlung von Innovationen statt, die auch vor den staatlichen
Bildungseinrichtungen nicht halt macht. Auch in Berlin wurden großartige
Neuerungen angekündigt, ohne im Vorfeld Vorsorge für die dazu notwendigen
personellen Ressourcen zu treffen. Die Gestaltung des staatlichen
Gemeinwesens scheint de facto blockiert zu sein. Das durch die Bertelsmannstiftung
formulierte Motto „Regieren durch Reformieren“ scheint
sich vielfach durchgesetzt zu haben. Pädagogische Stellungnahmen und
Expertisen werden medienwirksam von Bertelsmann produziert. Das
pädagogische Feld wird damit tendenziell der demokratischen Kontrolle
durch die Bürger entzogen und stattdessen werden neue Heilsverspre4
chen durch Stiftungen, Bildungsgurus und Public-Private-Partnership
ausgerufen. Leider ist zu befürchten, dass es sich lediglich um die Eröffnung
neuer Märkte handelt entsprechend dem neoliberalen Modell, wie
es etwa von McKinsey propagiert wird. Die Schuldenbremse auf der einen
und steuerliche Begünstigung von Kapital auf der anderen Seite lassen
viele Gestaltungsspielräume schrumpfen. Nicht nur im pädagogischen
Bereich besteht die Struktur in den letzten Jahren darin, ein Maximum an
Arbeitskraft aus jedem Arbeitnehmer herauszupressen und unter Einsparung
von Personal neue unerprobte oft arbeitsintensive Innovationen
auszurufen. Die politischen Akteure beschränken sich dabei oft auf
Legislaturperiodenaufheller (zuletzt in Berlin das Bonusprogramm), denn
bisher wird nirgendwo die Struktur so verändert, dass Politik wieder
Gestaltungsspielräume für die Absicherung eines humanen und sozial
verantwortlichen Gemeinwesens eröffnet.
In Bildungsfragen würde dies die Einsicht in die Notwendigkeit einer
sinnvollen, d. h. auch sozial gerechten pädagogischen Praxis mit Kindern,
Jugendlichen und Studenten bedeuten. Leitende Kriterien dafür müssten
die Recherche vor Ort, die Beobachtungen im Alltag und die Berücksichtigung
der Erfahrungen am Ort der pädagogischen Praxis sein, anstatt sich
diese Fragen durch die Bewertungen von konzernähnlich geführten
Unternehmen wie PISA diktieren zu lassen und sich dabei in für Bildung
sinnlosen Rankings zu verirren. Denn auch Pisa wird als ein fester Wirtschaftsposten
mit Millionen von Dollar Umsatz pro Jahr in der OECD
gelistet (siehe dazu: Richard Münch, Globale Eliten, lokale Autoritäten,
Frankfurt/M. 2009). Selbst Befürworter eines solchen Systems, wie etwa
Diane Ravitch, Bildungsberaterin unter George W. Bush, haben die
Schädlichkeit dieser Strukturen inzwischen erkannt.
Ich halte es für eine Bildungsgewerkschaft für wichtig, sich für eine
humane und demokratische Gesellschaft einzusetzen und für ein pädagogisches
Handeln, das (sozialen) Sinn erzeugt. Wir brauchen wieder mehr
Denk-Spiel-Räume für Diskussion. Diese sind ohne Zeit und Nachdenken
nicht zu kreieren. Für Lehrerinnen und Erzieherinnen ist die Arbeitssituation
dadurch gekennzeichnet, dass sich immer mehr Tätigkeiten
einschleichen, die der ursprünglichen pädagogischen Praxis fern sind.
Diese Sinn entleerenden Handlungen ebnen notwendige Unterschiede
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ein. So mag man den in Berlin durchgängig geschriebenen neuen
Rahmenplanentwürfen von Klasse 1 – 10 einen gewissen Charme
abgewinnen, wenn dies aber bedeutet, dass es (auch aus Zeitmangel)
kaum mehr Diskussionen z.B. über die notwendigen entwicklungspsychologischen
Unterschiede zwischen Schulanfängern und Jugendlichen gibt,
dann erscheint dies zweifelhaft.
Strukturell erlebe ich eine Vergleichgültigung von Inhalten, eine Zerlegung
von komplexen Prozessen in Einzeltätigkeiten von Lernzusammenhängen,
die dabei in ihrer Beschreibung dem Zerfall von Sinn preisgegeben
werden. Der gegenwärtig inflationär verwendete Begriff „Kompetenz“
und seine Orientierung an ihm kann dafür sicher keine Lösung darstellen.
Dass wir den vorliegenden Text jetzt veröffentlichen, hat auch mit der
aktuell geplanten Berliner Rahmenplanumstellung auf „Kompetenzorientierung“
zu tun. Dies stellt keine Berliner Besonderheit dar.
Wir freuen uns, wenn dieser Text Nachdenken und Auseinandersetzung
anregt und wünschen viel Vergnügen beim Lesen.
Wir danken Herrn Krautz, dass wir diesen Text veröffentlichen dürfen.
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Jochen Krautz
Kompetenzen machen unmündig.
Eine zusammenfassende Kritik zuhanden der demokratischen
Öffentlichkeit
quidquid id est timeo Danaos et dona ferentes
Vergil, Aeneis, II,49
Der Beitrag fasst die wesentlichen Argumente zur Kritik der
„Kompetenzorientierung“ von Unterricht zusammen. Das
Kompetenzkonzept wurde durch die OECD (Organisation für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) mittels ihrer PISAStudien
als neues Leitziel von Schule durchgesetzt. Dies geschah ohne
demokratische Legitimation und am Souverän, den Bürgern, vorbei. Dabei
kann das Kompetenzkonzept als wissenschaftlich ungeklärt gelten, es
senkt empirisch nachweisbar das Bildungsniveau, widerspricht den
Leitzielen eines demokratischen Bildungswesens, zersetzt didaktisches
und pädagogisches Denken und Handeln und behindert Kinder und
Jugendlichen in ihrer Entwicklung zu mündigen Staatsbürgern.
Dennoch wird das Konzept weiterhin bildungspolitisch durchgesetzt.
Lehrpläne werden dementsprechend umgeschrieben, Schulbücher danach
umgestaltet, Lehrer daraufhin ausgebildet. Millionen von Steuergeldern
fließen zudem in entsprechende Forschung.
Daher muss die in der Wissenschaft und von vielen Lehrern geleistete
Kritik am Kompetenzkonzept der Öffentlichkeit bekannt werden. Denn
das anscheinend rein innerpädagogische Problem ist tatsächlich ein
gesellschaftspolitisches, das alle angeht: Eltern, Vertreter von Kultur und
Wirtschaft sowie alle anderen Bürger müssen diskutieren, ob sie die
Entwicklung einer ungebildeten und unmündigen Jugend hinnehmen
wollen. Denn deren Bildungsanspruch wird missachtet, Demokratie,
Kultur und Wirtschaft werden gefährdet.
Die nachfolgenden Thesen sind in möglichst allgemeinverständlich
formuliert. Ihnen liegen umfangreiche wissenschaftliche Analysen
zugrunde, die auch über publizistische Texte gut zugänglich sind auf der
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Webseite der „Gesellschaft für Bildung und Wissen“ (www.bildungwissen.
eu). Fremdzitate werden hier nicht einzeln nachgewiesen, sondern
sind den Literaturhinweisen am Schluss zu entnehmen.
Kompetenz ist ein Containerbegriff.
Der Begriff „Kompetenz“ ist im Alltagsverständnis positiv besetzt: Wer
kompetent ist, kann etwas. Er verfügt über entsprechende Kenntnisse,
Fähigkeiten und Fertigkeiten. Jeder wünscht sich einen kompetenten Arzt
oder Heizungsinstallateur. Das hat auch das Marketing verstanden,
weshalb der Kühlschrankhersteller neuerdings mit „Kühlkompetenz“
wirbt, der Herrenausstatter „Hosenkompetenz“ besitzt und einer Anti-
Aging-Creme „Kernkompetenz“ zugeschrieben wird – Beispiele aus dem
realen Leben. Insofern ist zunächst schwer nachvollziehbar, warum es
problematisch sein soll, dass Schüler „Kompetenzen“ erwerben.
Tatsächlich rechnete die Einführung des Kompetenzkonzepts in den
Schulen genau mit dieser Unschärfe: Jeder verbindet etwas aus seiner
Sicht Positives damit, sei es fachliches Können, seien es soziale
Fähigkeiten, sei es kritisches Denken. So wurde der Begriff für
unterschiedliche weltanschauliche Orientierungen und pädagogische
Überzeugungen anschlussfähig, seien diese eher humanistisch, kritischemanzipatorisch
oder reformpädagogisch begründet. Der
Kompetenzbegriff kann wie ein „Container“ mit Interpretationen aller Art
gefüllt werden. So wirkt er wie eine Beschwörungsformel, die
Zustimmung erzeugen soll, obwohl niemand genau weiß, was
„Kompetenz“ eigentlich genau meint.
Das Kompetenzkonzept ist wissenschaftlich ungeklärt. Es dient dazu,
Bildung messbar zu machen.
In dieser Verwirrung beziehen sich Lehrpläne und wissenschaftliche
Arbeiten in der Regel auf die am meisten verbreitete Kompetenzdefinition
des Kognitionspsychologen Franz Weinert. Der definierte Kompetenz als
„die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven
Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die
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damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen
Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen
Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können.“
Demnach sind Kompetenzen also zweckgerichtete (funktionale)
Fähigkeiten des Denkens (Kognition), um Probleme zu lösen, sowie die
dazu notwendige Motivation, der Wille und die sozialen Einstellungen.
Was auf den ersten Blick plausibel klingt, erweist sich auf den zweiten als
hochproblematisch: Schulisches Lernen bezieht sich nur zu einem Teil auf
„kognitive Fähigkeiten“. Es besteht keineswegs nur aus „Problemlösen“
und zielt nicht allein auf „Anwendung“. Eine Vielzahl schulischer
Lernvorgänge in Fächern wie Deutsch, Musik, Kunst, Sport, Geschichte
u.a. lässt sich damit nicht erfassen. Und es sind gerade diese Anteile des
Unterrichts, die nach Sinn und Bedeutung der Sache für den Lernenden
fragen, die wir als „bildend“ bezeichnen.
Weinert wusste, dass diese verkürzte Definition wissenschaftlich nicht
konsensfähig ist. Dies hat er auch ausdrücklich in einem Gutachten für die
OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung)
von 1999 eingeräumt. (Vgl. Krautz 2013b) Doch die OECD suchte einen
Maßstab für ihre geplanten PISA-Tests. Obwohl also das
Kompetenzkonzept wissenschaftlich ungeklärt war und bis heute ist,
wurde es von der OECD herangezogen, um die gewünschte Maßeinheit
für ihre PISA-Tests zu liefern. Eine psychologische Messeinheit also, die
ohne Fachinhalte und kulturelle Überlieferung auskommt, um global
einheitliche, verwertbare Fertigkeiten zu messen, von denen die OECD
behauptet, sie würden der globalisierten Wirtschaft dienen. (Vgl.
Ladenthin 2015) Seitdem werden unsere Lehrpläne gemäß diesem
Kompetenzkonzept umgeschrieben; seitdem werden Lehrer entsprechend
ausgebildet und Schulbücher neu verfasst; seitdem unterrichten Schulen
auf Grundlage dieses wissenschaftlich ungeklärten, letztlich ideologischen
Konstrukts.
Bemerkenswert ist, dass die OECD Weinerts Gutachten von 1999 zunächst
nicht veröffentlichte: „Bitte nicht zitieren!“ steht auf dem Deckblatt. Sie
wird wissen warum: Es wäre von Beginn an offensichtlich gewesen, dass
es sich hier um eine Chimäre handelt – ein fabelhaftes Mischwesen aus
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Psychologie und Testtechnik, aber nicht um ein pädagogisch taugliches
Konzept, das auf Bildung – also auf Sachverstand, Urteilsfähigkeit und
Mündigkeit in sozialer Verantwortung – zielt.
Kompetenzkataloge kann man nicht unterrichten.
In der Folge erfinden nun Lehrpläne endlose Kataloge von Kompetenzen,
Sub- und Teilkompetenzen, weil jetzt alle in der Schule angesprochenen
Fähigkeiten einzeln aufgesplittet und aufgelistet werden müssen. Dies
nicht nur in Deutschland, sondern auch in der Schweiz, wie ein Auszug aus
dem dortigen „Lehrplan 21“ zu den Grundlagen im Fach Deutsch zeigt.
Dort werden unter „Sprechen“ folgende „Grundfertigkeiten“ benannt:
„Die Schüler und Schülerinnen können ihre Sprechmotorik, Artikulation,
Stimmführung angemessen nutzen. Sie können ihren produktiven
Wortschatz und Satzmuster aktivieren, um angemessen flüssig zu
sprechen.“ Dazu werden dann zahllose Teilkompetenzen aufgelistet:
„Die Schülerinnen und Schüler …

  • können die meisten Laute des Deutschen sprechmotorisch isoliert und
    im Wort bilden (…)
  • können das Zusammenspiel von Verbalem, Paraverbalem und
    Nonverbalem gestalten. (…)
  • können ihr Sprechtempo und ihre Stimmführung gezielt variieren.“ Usw.
    Auf diese Weise folgen für jedes Fach hunderte von
    Kompetenzformulierungen.
    Zunächst: Ironischerweise beschreibt nichts davon eine Kompetenz im
    Weinertschen Sinne, bei der es ja um innere Fähigkeitsdispositionen geht.
    Hier sind ausschließlich Performanzen beschrieben, also sichtbares und
    damit prüfbares Handeln. Aber genau darum geht es: Man hat nun einen
    diagnostischen Katalog, mit dem man Kinder testen kann.
    Dann: Die Formulierungen zergliedern einen natürlichen Zusammenhang
    (Sprechen) in Einzeltätigkeiten, die so isoliert nicht unterrichtbar sind.
    Man kann nicht „sprachmotorische Lautbildung“ unterrichten. Man kann
    Deutsch unterrichten und im Zusammenhang mit dem Kulturgut Sprache
    und Literatur bilden sich auch die hier angesprochenen Fähigkeiten.
    Darauf achten Lehrer im Zusammenhang des Unterrichts.
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    Und: Der Sinn all dieser Fähigkeiten geht verloren, denn er liegt nicht in
    „Sprachmotorik“ an sich, sondern z.B. darin, ein Gedicht sinnangemessen
    betont vorzutragen, dies als ästhetische Form zu erfahren und als eigenen
    Weltzugang deutend zu verstehen. Und dieser Sinn ist auch durch die
    Addition all jener Teilkompetenzen nicht mehr herstellbar: Sie bleiben
    rein funktional und damit sinn-los. (Vgl. Ladenthin 2015)
    So wimmeln schulische Lehrpläne heute von „Kompetenzen“, die letztlich
    willkürlich gesetzt sind, weil ihnen ein Aufbau fehlt, der sich an der Logik
    der Sache, also dem Fach und der entsprechenden Fachwissenschaft
    orientiert. Derart kann aber bei den Schülern keine geordnete und
    geklärte Vorstellung von den Sachgebieten entstehen. Fachliches Wissen
    und Können wird gerade verhindert.
    Kompetenzorientierung vernachlässigt die Inhalte und senkt das
    Bildungsniveau.
    Gemäß dem Kompetenz-Dogma sollen nicht mehr Inhalte, sondern
    „Fähigkeiten“ unterrichtet werden: Die Schüler sollen nicht nur „totes
    Wissen“ anhäufen, sondern etwas können, heißt es. Auch das klingt
    selbstverständlich, schließlich war das schon lange Ziel von Schule. Was
    also ist nun neu?
    Tatsächlich verkehrt sich das Unterrichtsprinzip vollständig: Traditionell
    plant man Unterricht gemäß dem logischen Aufbau der Fachinhalte. Diese
    werden auf den Entwicklungsstand der Schüler bezogen, so dass sie
    altersgemäß zugänglich werden. So erwerben die Schüler fachliche und
    überfachliche Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten. Jetzt soll
    Unterricht die Kompetenzen der Schüler „ansteuern“. Unterricht wird
    nicht mehr auf der Grundlage von Inhalten, sondern von erwünschten
    Fähigkeiten bzw. Verhalten geplant. Das hat gravierende Folgen:
    Die Inhalte werden zweitrangig. Sie haben keinen Wert an sich, sondern
    dienen nur als Mittel zur Zielerreichung. Denn mit welchem Inhalt man
    eine Fähigkeit erreicht, ist grundsätzlich gleichgültig: Für das Trainieren
    von „Lesekompetenz“ ist es unwesentlich, ob dazu ein Goethe-Gedicht
    oder die Bedienungsanleitung für ein Smartphone dient. Funktional für
    „Lesekompetenz“ ist beides. Bildender Unterricht ist aber davon
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    ausgegangen, dass man Lesen lernt, um bildende Gehalte der Literatur
    erschließen zu können.
    Kompetenzvertreter behaupten nun, das sei so nicht gemeint, keineswegs
    sollten die Inhalte vernachlässigt werden. Faktisch lässt sich aber gerade
    dies bei neuen Lehrmaterialien und der Ausbildung junger Lehrer
    beobachten: Man plant das Training von Fertigkeiten und geht von den
    dazu passenden Methoden, nicht vom Inhalt aus. Die Frage nach dessen
    Sinn und Bedeutung ist letztlich nebensächlich und beliebig. Kompetent
    ist nun, wer mit Wissen „umzugehen“, Informationen „abzurufen“ und zu
    „organisieren“ versteht. Doch ist das „Googeln“ von Informationen über
    eine Sache eben nicht mit deren Verstehen und der Frage nach ihrer
    Bedeutung für mich und für uns gleichzusetzen. Google bildet nicht
    Verständnis und Urteilskraft. (Vgl. Liessmann 2014)
    So ersetzt „Informationsmanagement“ und „Methodenkompetenz“
    fachliches Wissen und Können, womit das Bildungsniveau nachweislich
    sinkt: Der Biologiedidaktiker Hans Peter Klein hat in mehreren Versuchen
    gezeigt, dass z.B. kompetenzorientierte Aufgaben des Zentralabiturs im
    Fach Biologie in NRW problemlos von unvorbereiteten Schülern der Klasse
    9 zu bewältigen sind. Das Geheimnis: Alle Lösungen sind im Aufgabentext
    enthalten, man benötigt nur „Lesekompetenz“, um sie zu finden und
    abzuschreiben. Fachwissen braucht es dazu nicht.
    Kompetenzen vernachlässigen die Moralität und steuern das Wollen.
    Mit den Inhalten vernachlässigt die Kompetenzorientierung zudem die
    Bildung von kritischem Urteilsvermögen und Moralität: Ohne Inhalte
    kommen keine Prozesse der Urteils- und Wertebildung in Gang. Mehr
    noch: Da Kompetenzen nur funktional sind, sind sie ethisch neutral. Sie
    enthalten keine Wertorientierung mehr. Kompetenzen sind für alles
    einsetzbar: Mit Rechenkompetenz kann man Sprengstoffanteile einer
    Bombe berechnen; Sozialkompetenz ist auch nützlich zum Führen einer
    Verbrecherbande. Ob das als gut oder schlecht einzuschätzen ist, dazu
    gibt kompetenzorientierter Unterricht keinen Maßstab. Erziehender
    Unterricht geht dagegen davon aus, dass mit den Sachfragen auch diese
    Wertfragen geklärt werden: Eine Fabel liest man im Deutschunterricht der
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    Klasse 5 nicht nur der „Lesekompetenz“ wegen, sondern weil daran
    altersgemäß moralische Grundfragen besprochen werden können.
    Grammatik, Rechtschreibung oder Techniken der Nacherzählung übt man
    auch; aber eben ausgehend vom Inhalt.
    So ergibt sich eine weitere, etwas versteckte, aber gravierende Folge: Da
    die Schüler nicht mehr durch den Inhalt zum Lernen angeregt werden
    können, müssen sie nun verstärkt von außen „motiviert“ werden, etwas
    zu tun. Während eine auf Bildung zielende Didaktik immer versucht, das
    Interesse der Schüler an der Sache zu wecken, werden sie nun mit Tricks
    der Motivationspsychologie angehalten, ihre Aufgaben zu erledigen, die
    an sich nur wenig Reiz haben. Dabei soll aber der Eindruck entstehen, dass
    sie dies selbstmotiviert tun. Sie sollen nun wollen, was sie wollen sollen,
    ohne dass noch einsichtig wäre, warum und wozu. Der Schüler soll
    „motiviert sein, das zu tun, was andere wollen“, wie Volker Ladenthin
    treffend zusammenfasst: „So betrachtet (…) ist die Kompetenztheorie die
    bisher ausgeprägteste Form einer Theorie der Fremdsteuerung.“
    (Ladenthin 2011, 3)
    Am Beispiel: Der Entwurf für den Bildungsplan der Sekundarstufe I im
    Fach Deutsch in Baden-Württemberg nennt als zur „kommunikativen
    Kompetenz“ gehörende „Einstellung“, die Schüler seien „bereit, ihre
    Argumentations- und Gesprächskompetenz zu verbessern.“ Hier ist also
    eine volitionale (Willens-)Einstellung genannt, wie sie Weinert vorsieht.
    Doch wie erreicht man diesen Willen? Indem man den Schülern sagt: „Sei
    bereit, deine Argumentationskompetenz zu verbessern“? Das wäre
    schlicht autoritär, weil nicht einsehbar. Wenn man aber im Unterricht
    eine Argumentationssituation schafft, die für die Schüler so relevant ist,
    dass sie gerne ihre Argumente ausarbeiten, diese austauschen und sich
    darin korrigieren, dann erwächst der eigene Wille aus der gemeinsamen
    Sache. Er muss nicht gesteuert werden.
    Kompetenzorientierung ist Grundlage des sog. „selbstgesteuerten
    Lernens“.
    Kompetenzorientierung ist nicht logisch gekoppelt an Konzepte der
    „Selbststeuerung“ des Lernens, wird aber meist praktisch damit
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    verbunden: Der Klassenunterricht wird aufgelöst; Schüler sollen in
    „Lernlandschaften“ an Einzelarbeitsplätzen Arbeitsblätter ausfüllen und
    ihren eigenen „Kompetenzfortschritt“ in Kompetenzraster eintragen.
    Lehrer unterrichten nicht mehr, sondern dienen als „Lernbegleiter“ und
    „Coaches“. (Vgl. Burchardt 2013) Oft sollen nun auch Computer den
    Lehrer ersetzen.
    Dem liegt ein technisches Menschenbild zugrunde, das den Menschen als
    eine Art Maschine versteht, die sich selbst steuert: Aufgabe auf dem
    Arbeitsblatt als „Input“ – die Maschine (also der Schüler) arbeitet – die
    Lösung („Output“) kontrolliert er selbst und soll so sein Arbeiten
    „nachregulieren“. Kompetenzen liefern das Instrument, um das
    „selbstgesteuerte“ Fertigkeitstraining messbar zu machen. „Kompetent“
    ist, wer sich durch die von außen gesetzten Vorgaben steuern lässt und
    seine „Lernjobs“ erledigt.
    Doch ist solche „Selbststeuerung“ nicht jene geistige Selbständigkeit, auf
    die Bildung zielt. Dazu bedürften die Schüler eines Lehrers und einer
    Klassengemeinschaft, mit denen sie gemeinsam denken und diskutieren
    lernen könnten. Ohne zwischenmenschliche Beziehung ist die Entwicklung
    von Vernunft und Moral nicht möglich. (Vgl. Krautz/Schieren 2013)
    Kompetenzen zielen auf Anpassung.
    Es wird deutlich: Kompetenzorientierung zielt nicht auf Selbständigkeit,
    sondern auf unhinterfragte Anpassung an Vorgaben.
    So versteht auch die für die PISA-Tests verantwortliche OECD unter
    „Schlüsselkompetenzen“ die Fähigkeit, “sich an eine durch Wandel,
    Komplexität und wechselseitige Abhängigkeit gekennzeichnete Welt
    anzupassen.“ Sie fragt: „Welche anpassungsfähigen Eigenschaften
    werden benötigt, um mit dem technologischen Wandel Schritt zu halten?“
    (Vgl. Krautz 2009) „Kompetenz“ wird hier aus einem verengten, nur
    scheinbar ökonomischen Blick auf den Menschen verstanden: Er soll sich
    geschmeidig und auch etwas „kreativ“ einpassen in ein System
    permanenter Umstrukturierung. Es soll funktionieren, aber nicht über das
    Ganze nachdenken oder es gar hinterfragen.
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    Was sich auf der praktischen Ebene des Unterrichts zeigte, sind also nicht
    „ungewollte Nebenwirkungen“ eines „gut gemeinten“ Konzepts, sondern
    ist dezidierte Absicht: Nicht Mündigkeit, sondern Anpassung und
    Steuerbarkeit ist das Ziel der Kompetenzorientierung.
    Damit unterläuft sie den Anspruch der Aufklärung: Der Mensch solle
    Ausgang nehmen aus seiner „selbstverschuldeten Unmündigkeit“, heißt
    es bei Immanuel Kant. Ziel der Schule ist demnach, dass der junge Mensch
    lernen kann und soll, selbständig und kritisch zu denken und zu urteilen
    sowie human und verantwortlich zum Wohle des Gemeinwesens zu
    handeln. Dies spricht die OECD dem Menschen ab. Er soll sich nicht seiner
    Vernunft bedienen, sondern sich anpassen.
    Die Durchsetzung des Kompetenzkonzepts zeigt Merkmale von
    Propaganda.
    Das Kompetenzkonzept ist insofern antiaufklärerisch und inhuman. Es
    widerspricht allen Traditionen von Bildung, sowohl der christlichen wie
    humanistischen und aufklärerischen. Und dennoch wurde es von der
    OECD in den letzten 15 Jahren über die PISA-Studien in den Schulen des
    deutschsprachigen Raums um- und durchgesetzt. Dies war nur mit Mitteln
    der Propaganda möglich. Denn es mussten tief verwurzelte kulturelle
    Überzeugungen großer Teile der Bevölkerung verändert werden.
    Kernelement von Propaganda ist, nicht offen für etwas Werbung zu
    machen – dann würde jeder die Absichten des Akteurs erkennen.
    Propaganda inszeniert vielmehr Scheinwirklichkeiten, auf die die Medien
    und dann die Bevölkerung und die Politik erst reagieren, so etwa Walter
    Lippmann, einer der Begründer des Propaganda-Konzepts schon 1921:
    „Man fügt eine Scheinwelt zwischen den Menschen und seine Umwelt
    ein. Sein Verhalten ist eine Reaktion auf diese Scheinwelt. Aber weil es
    Verhalten ist, operieren die Konsequenzen […] nicht in der Scheinwelt […],
    sondern in der tatsächlichen Umwelt […].“
    Die Scheinwirklichkeit der OECD ist der PISA-Test. Er gibt vor, „Bildung“ zu
    messen und „objektive Daten“ über den Leistungsstand der Schüler zu
    liefern. Tatsächlich misst er eben Kompetenzen, die den Lehrplänen nicht
    entsprechen und führt ein Menschenbild mit sich, das dem des
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    Grundgesetzes und der Länderverfassungen widerspricht. Gleichwohl
    wurden die Ergebnisse medial skandalisiert und ein „PISA-Schock“
    ausgerufen. Nun fragte niemand mehr, was dort eigentlich gemessen
    wird, sondern alle reagierten zustimmend oder ablehnend nur noch auf
    die PISA-Ergebnisse. In der Schockstarre griffen Politiker dann nur zu
    gerne auf die seitens der OECD angebotenen Kompetenzkonzepte zurück,
    um bei den nächsten Tests in jedem Fall besser abzuschneiden. Und ganze
    Heerscharen von Wissenschaftlern begannen mit Feuereifer, dem neuen
    Paradigma hinterherzulaufen – nicht zuletzt, weil es dafür nun Unmengen
    an Forschungsgeldern gab.
    Die OECD setzte ihr Konzept so per „Schock-Strategie“ und „diskursiver
    Streuung“ durch: Man steuerte das Verhalten souveräner Staaten und
    ihrer Bürger über indirekte, propagandistische Beeinflussung. Die PISATester
    selbst behaupteten dabei, sie würden ja „nur messen“. Doch liegt
    die normative Macht dieser Messung in der verdeckten Durchsetzung
    eines alle kulturellen Überzeugungen negierenden Bildungsverständnisses
    an den Bürgern vorbei.
    Diese Strategie beschreibt die OECD selbst ganz offen: In Peer-Reviews
    wie PISA sieht sie den „effizienteste(n) Weg, Einfluss auf das Verhalten
    souveräner Staaten auszuüben“, obwohl ihr dieser Einfluss nicht zusteht.
    Dieses manipulative Vorgehen der OECD ist seitens der
    Politikwissenschaft auch empirisch in seiner durchschlagenden Wirkung
    nachgewiesen. (Vgl. hierzu ausführlich Krautz 2013a, b und Graupe/Krautz
    2014)
    Die OECD verfolgt eine Strategie kultureller Entwurzelung.
    PISA und die Kompetenzorientierung folgen dem Paradigma neoliberaler
    Wirtschaftstheorie, das von Vertretern des Think-Tanks „Chicago School
    of Economics“ Anfang der 1960er Jahre bei der OECD eingeführt wurde.
    Bildung sei demnach „wirtschaftliche Investition“ in den Menschen;
    Schulen stünden neben „Stahlwerken“ und „Kunstdüngerfabriken“, die
    einen Ertrag produzieren sollen, nämlich angepasst funktionierende
    Menschen, sogenanntes „Humankapital“. Lehrer seien somit
    „Produktionsfaktor“, Schüler das „Rohmaterial“: „Das bedeutet nicht
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    weniger, als dass Millionen Menschen von einer Lebensweise losgerissen
    werden sollen, die seit Jahrhunderten und Jahrtausenden das
    Lebensmilieu ausmachte. Alles, was bisher an Schule und in der Erziehung
    in diesen Ländern geleistet wurde, verfolgte soziale und religiöse Ziele, die
    vorwiegend (…) Resignation und spirituelle Tröstung gewährten; Dinge,
    die jedem wirtschaftlichen Fortschrittsdenken glatt zuwiderlaufen. Diese
    jahrhundertealten Einstellungen zu verändern, ist vielleicht die schwerste,
    aber auch die vordringlichste Aufgabe der Erziehung“, so die OECD 1961
    wörtlich. Erst dann würden Menschen bereit, sich dem „Fortschritt“ zu
    öffnen, den die OECD definiert. Schon 1961 wurde daher als Ziel die
    „Befähigung zu immer neuer Anpassung“ beschrieben. (Vgl.
    Graupe/Krautz 2014)
    Diese Ziele hat die OECD bis heute nicht revidiert. Auch PISA basiert auf
    denselben theoretischen Grundannahmen („Humankapital-Theorie“).
    Insofern kann deren Arbeit als eine Form indirekter Steuerung von Politik
    und individuellem Verhalten durch kulturelle Entwurzelung und das
    verdeckte Etablieren neuer Leitbilder eingeschätzt werden: Wer die
    eigenen Traditionen nicht mehr kennt, wer nicht über Urteilskraft und
    demokratisches Bewusstsein verfügt, ist leichter verfügbar für die
    globalen ökonomischen und politischen Steuerungsprozesse und deren
    Ideologie
    Gesellschaftliche Folgen: Untergraben von Demokratie, Kultur und
    Wirtschaft.
    Entsprechend gravierend sind die Folgen des ökonomistischen
    Kompetenzkonzepts: Es untergräbt die Grundlagen der Demokratie, weil
    diese von mündigen Bürgern lebt, die im Dialog die Sachfragen
    verhandeln und klären können und sich dabei am gemeinsamen Wohl
    orientieren. Es untergräbt die europäische kulturelle Tradition, die in der
    Idee der Menschenwürde und der Menschenrechte gründet und die
    Selbstbestimmung des Einzelnen mit Gerechtigkeit und sozialer
    Verantwortung verbindet. Der Wiener Erziehungswissenschaftler Marian
    Heitger warnte daher, vor dem „Tod der Bildung“, wenn diese „nichts
    mehr mit Selbstbestimmung zu tun [hat], nichts mit Urteilskraft, schon gar
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    nichts mehr mit der Fähigkeit, verantwortlich zu werten und zu handeln.
    Sie wird zum Gegenteil dessen, was ihre Dignität ausmacht. Sie
    instrumentalisiert den Menschen, statt ihn in seiner Selbständigkeit zu
    fördern, ihm zu helfen, eine unabhängige Persönlichkeit zu werden.“
    Zugleich untergräbt die ökonomisierte „Bildung“ die Wirtschaft selbst, für
    die die OECD angeblich spricht. Tatsächlich entsprechen dem Bild der
    OECD allenfalls globalisierte Konzerne angloamerikanischer Prägung, die
    anpassungsbereite Mitarbeiter mit standardisierten Fertigkeiten
    bevorzugen, die sie weltweit beliebig hin- und herschieben können.
    Global standardisierte Kompetenzen braucht nur, wer weltweit nach
    einheitlichen Standards produzieren will. (Vgl. Ladenthin 2015)
    Mittelstand und Handwerk bemerken dagegen längst, dass die
    „kompetenzorientierten“ Schulabsolventen immer weniger können und
    wissen. Sie beklagen sich zurecht über den mangelnden Bildungstand der
    Jugendlichen und versuchen das im Betrieb zu kompensieren. Leider
    setzen die Wirtschaftsverbände aber oft noch auf die wirtschaftsnah
    klingenden, aber falschen Konzepte der OECD, weil in deren
    Bildungsabteilungen meist Bildungsökonomen sitzen, die an die
    „Humankaptaltheorie“ glauben. Tatsächlich zersetzen aber die eigenen
    Konzepte damit die Grundlagen der Volkswirtschaft.
    Folge in Schule und Elternhaus: Verwirrung und Verlust von Pädagogik
    und Didaktik.
    In der schulischen Praxis und im Leben der beteiligten Schüler und Eltern
    zeigt sich das beschriebene Problem v.a. als zunehmende Verwirrung und
    Destabilisierung: Die in Didaktiken und Lehrplänen kursierenden
    Kompetenzkataloge sind weder verständlich noch kann man danach
    unterrichten. Wenn ein Schüler mit einer „kompetenzorientierte Diagnose
    von Leistungsdefiziten“ nach Hause kommt, derzufolge er trainieren soll,
    mit Zahlen zu „operieren“ oder im Rahmen von „Modellen“ zu
    „mathematisieren“, kann damit niemand etwas anfangen. Warum soll es
    veraltet sein, ihm schlicht aufzutragen, das Addieren und Subtrahieren
    von Brüchen oder Textaufgaben zu üben?
    18
    Während erfahrene Kollegen oftmals weiter wie bisher unterrichten,
    lernen dies junge Lehrer kaum mehr. Statt fachlicher Zielklarheit und
    didaktischer Struktur ist eine zunehmende Orientierung an Methoden zu
    beobachten: „Heute machen wir mal Gruppenarbeit und morgen
    Stationenlernen, denn da trainieren wir Lese- und Sozialkompetenz“. So
    geht der innere Zusammenhang der Unterrichtsgegenstände verloren.
    Auch Schulbücher unterlaufen zunehmend jede Systematik. Statt eines
    schrittweisen logischen Aufbaus wird ein wechselndes Potpourri von
    Themen ausgebreitet, damit die Schüler beständig vor Probleme gestellt
    werden, die sie „selbstgesteuert“ lösen sollen. Man verwirrt die Schüler
    und verhindert geradezu gezielt den Aufbau eines strukturierten
    Verständnisses.
    Die Folgen spüren Eltern täglich: Ihre überforderten, frustrierten oder
    auch gelangweilten Kinder kommen aus der Schule und wissen nicht, was
    sie gelernt haben oder wie sie die Hausaufgaben lösen sollen. Also
    arbeiten die Eltern mit ihnen am Nachmittag nach, verstehen aber die
    Schulbücher oft selbst kaum noch.
    So wirkt die Kompetenzorientierung in der schulischen Praxis v.a. als
    Nivellierung fachlicher Ansprüche und Zersetzung didaktischen Denkens.
    Die Folgen sind gleichwohl die ausgeführten, auch wenn dies eigentlich
    kein Lehrer beabsichtigt.
    Timeo Danaos: Kompetenz als Trojaner.
    Beginnt man einen Aufsatz mit einem lateinischen Zitat, meint mancher,
    dies solle „Bildung“ zur Schau zu stellen. Das ist jedoch ein
    bildungsbürgerliches Missverständnis. Das Motiv aus der lateinischen
    Literatur dient hier zur Erhellung eines Vorganges der Gegenwart:
    „Was immer das auch ist – ich fürchte die Griechen, auch wenn sie
    Geschenke bringen!“ rief der trojanische Priester Laokoon seinen
    Mitbürgern zu, um sie vor dem hölzernen Pferd zu warnen, das die
    Griechen vor Troja zurückgelassen hatten. Es war mit Kriegern gefüllt, die
    die Stadt zerstörten, nachdem die Trojaner – die Warnung missachtend –
    das „Geschenk“ doch in ihre Mauern gezogen hatten. Ähnlich
    19
    funktionieren heute Computerviren, die man daher „Trojaner“ nennt: Sie
    schleichen sich unerkannt ins Betriebssystem ein und zerstören es von
    innen heraus. „Kompetenz“ ist ein solcher Trojaner: ein von politischen
    „Hackern“ eingeschleustes Schadprogramm, dass unbemerkt das Denken
    über Bildung infiziert und das pädagogische Handeln verändert. Mit dem
    Anschein und der Behauptung, Kompetenzorientierung sei dasselbe wie
    Bildung, nur „moderner“ und besser zu messen, sickert sie ins
    Bildungswesen ein und zersetzt pädagogisches Denken und Handeln im
    Innern.
    Zugleich wird an diesem „timeo Danaos“ noch einmal der Unterschied von
    Bildung und Kompetenz deutlich: Eine „kompetenzorientierte“
    Abiturprüfung in Latein besteht in Österreich heute z.B. ernsthaft darin, in
    lateinischen Texten die Entsprechungen zu deutschen Fremdworten
    wiederzuerkennen und Deutungen per Ankreuztest abzufragen. Sicher ist
    es ein praktischer Effekt, wenn man sie nun ersparen kann, Fremdworte
    zu „googlen“. Doch werden die ganzen Jahre des Unterrichts in der
    Reduktion auf Funktionalität und „Problemlösung“ zugleich im wahrsten
    Sinne sinn-los:
    Denn Bildung zielt darauf, den Sinn der alten Texte verstehen zu lernen
    und ihren Gehalt aktualisieren zu können: Das trojanische Pferd zeigt sich
    dann als ein strategisches Muster verdeckter Kriegsführung, mit dem man
    auch heute politische Vorgänge verstehen kann – von sogenannten
    „False-Flag-Operations“ bis hin zu einer kulturell-ökonomischen
    Kriegsführung, wie sie im Hintergrund des hier diskutierten Problems
    aufscheint. Nur darin hat auch lateinische Literatur heute ihre
    Berechtigung im Schulunterricht: Wenn die Auseinandersetzung damit
    jenes selbstständige und kritische Denken entwickelt, auf das Bildung zielt.
    20
    Literatur zur Vertiefung:
    Burchardt, Matthias: Bildung oder Selbstregulation? In: lehrer NRW
    7/2013, S. 13-16
    (http://www.lehrernrw.de/fileadmin/user_upload/lehrernrw.de/de/docu
    ments/pdf/Zeitschrift_lehrer_nrw/Ausgaben_2013/2013-07-lehrer-nrw-
    72dpi.pdf)
    Graupe, Silja/Krautz, Jochen: Die Macht der Messung. Wie die OECD mit
    PISA ein neues Bildungskonzept durchsetzt. In: Coincidentia. Zeitschrift für
    europäische Geistesgeschichte. Beiheft 4: Der andere Blick: Fragendes
    Denken zum theoretischen Rahmen der empirischen Bildungsforschung.
    Hrsg. v. Schwaetzer, Harald/Hueck, Johanna/Vollet, Matthias. Kueser
    Akademie, Bernkastel Kues 2014, S. 139-146 (http://bildungwissen.
    eu/wpcontent/
    uploads/2014/05/graupe_krautz_macht_der_messung_Coincide
    ntia.pdf)
    Krautz, Jochen: Ware Bildung. Schule und Universität unter dem Diktat
    der Ökonomie.
    Kreuzlingen/München 2007
    Krautz, Jochen: Bildung als Anpassung? Das Kompetenz-Konzept im
    Kontext einer ökonomisierten Bildung. In: Fromm Forum 13/2009, S. 87-
    100 (http://fachbereich-bildungswissenschaft.de/wpcontent/
    uploads/krautz-bildung-als-anpassung.pdf)
    Krautz, Jochen: Bildungsreform und Propaganda. Strategien der
    Durchsetzung eines ökonomistischen Menschenbildes in Bildung und
    Bildungswesen. In: Frost, Ursula/Rieger-Ladich, Markus (Hrsg.):
    Demokratie setzt aus: Gegen die sanfte Liquidation einer politischen
    Lebensform. Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik –
    Sonderheft 2013(a), S. 86-128 (http://phvn.de/images/krautz.pdf)
    Krautz, Jochen: Ökonomismus in der Bildung: Menschenbilder,
    Reformstrategien, Akteure.
    In: Gymnasium in Niedersachsen 1/2013(b), S. 12-21 (http://bildungwissen.
    eu/wp-content/uploads/2013/01/Gymnasium-in-NDS-1-2013.pdf)
    Krautz, Jochen/Schieren, Jost (Hrsg.): Persönlichkeit und Beziehung als
    Grundlage der Pädagogik. Beiträge zur Pädagogik der Person. Weinheim,
    Basel 2013
    21
    Ladenthin, Volker: Kompetenzorientierung als Indiz pädagogischer
    Orientierungslosigkeit. In: Profil, Mitgliederzeitung des Deutschen
    Philologenverbandes, 9/2011, S. 1-6 (http://bildung-wissen.eu/wpcontent/
    uploads/2012/03/ladenthin-kompetenz.pdf)
    Ladenthin, Volker: Vorschlag für einen pädagogischen Kompetenzbegriff.
    Allgemeine Überlegungen anlässlich des „Bildungsplans zur Erprobung für
    die Bildungsgänge der Höheren Berufsfachschule, die zu beruflichen
    Kenntnissen und zur Fachhochschulreife führen (Entwurf 2013)“. In:
    Obermann, Andreas/Meyer-Blank, Michael (Hrsg.): Die Religion des
    Berufsschulreligionsunterrichts: Überlegungen zur Kommunikation
    religiöser Themen mit Jugendlichen heute. Münster 2015, S. 99-127
    Liessmann, Konrad Paul: Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung. Eine
    Streitschrift. Wien 2014
    In gekürzter Fassung zuerst erschienen in: Wernicke, Jens/Bultmann,
    Torsten (Hrsg.): Die wissenschaftliche Konstruktion sozialer Ungleichheit.
    BdWi-Studienheft 10. Marburg 2015
    22
    Prof. Dr. Jochen Krautz,
    Jg. 1966, Professor für Kunstpädagogik an der Bergischen Universität
    Wuppertal; Studium Kunst, Latein, Erziehungswissenschaft für das
    gymnasiale Lehramt; erstes und zweites Staatsexamen; bis 2003
    Gymnasiallehrer; 2003–2008 Akademischer Rat an der Bergischen
    Universität Wuppertal; 2008–2013 Professor für Kunstpädagogik an der
    Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft, Alfter/Bonn;
    Gründungsmitglied des kunstpädagogischen Forschungsverbundes
    IMAGO; Gründungs- und Beiratsmitglied der Gesellschaft für Bildung und
    Wissen. Forschungsschwerpunkte: Systematische Kunstpädagogik und
    relationale Kunstdidaktik; Grundlagen personaler Pädagogik; Analyse
    bildungspolitischer Prozesse.