»Dies könnte der Anfang des Vierten Reichs sein«
Holocaustüberlebende Vera Sharav sieht deutliche Paralellen zum aktuellen Faschismus
Zur Zeit des Nationalsozialismus wurden die Massenermordungen unter euphemistischen
Bezeichnungen wie Aktion Gnadentod vollzogen. Diese Aktion wurde auch als Vernichtung
lebensunwerten Lebens und NS-Krankenmorde bekannt. Namensgebend für das in der
Nachkriegszeit mittlerweile gebräuchliche Kürzel Aktion T4 war die in einer damaligen Villa in der
Tiergartenstraße 4 in Berlin-Mitte untergebrachte Bürozentrale für die Leitung der Ermordung
behinderter Menschen im gesamten Deutschen Reich.[3] In den erhaltenen zeitgenössischen Quellen
findet sich die Bezeichnung Aktion T4 nicht. Dort wurde der Begriff Aktion – oder auch mit einem
vorangestellten Kürzel für Euthanasie (Eu-Aktion bzw. nur E-Aktion) – verwendet. Im antiken
Griechenland stand das altgriechische Wort εὐθανασία euthanasía (von εὖ eu „gut, richtig, leicht,
schön“ und θάνατος thanatos „Tod“) für den „guten Tod“ ohne vorhergehende lange Krankheit.
Hintergründe und historische Einordnung
Die im Nationalsozialismus praktizierte sogenannte Euthanasie geht auf schon um die
Jahrhundertwende entwickelte eugenische Ideen, wie sie neben anderen durch den Psychologen
Adolf Jost popularisiert wurden, zurück. Diese Vorstellungen wurden durch die 1920 publizierte
Schrift Freigabe zur Vernichtung lebensunwerten Lebens von Binding und Hoche konkretisiert und
fanden damit Eingang in die akademische Diskussion. Im Sinne einer „Rassenhygiene“ und einer
Höherzüchtung der „arischen Rasse“ korrespondierten diese eugenischen Ideen nicht nur mit den
Zielen der nationalsozialistischen Ideologie, sondern das festgelegte Endziel einer „Vernichtung
lebensunwerten Lebens“ wurde stark materialistisch begründet. Es handelte sich hierbei um einen
Euphemismus für die geplante und systematische Ermordung von „Erb- und Geisteskranken,
Behinderten und sozial oder rassisch Unerwünschten“; die Entscheidungen wurden hierbei nach
Aktenlage von als Gutachter eingesetzten Ärzten gefällt.
Die „Aktion T4“ war Teil einer stufenweisen Verwirklichung von Kernzielen der
nationalsozialistischen Ideologie, der „Aufartung“ oder „Aufnordung“ des deutschen Volkes.
Hierzu gehörten verschiedene Maßnahmen – von harmlosen wie Ehestandsdarlehen,
Kinderbeihilfen, Steuererleichterungen bis hin zur Zuweisung von Siedlerstellen und Erbhöfen zur
Förderung von rassisch erwünschtem zahlreichem Nachwuchs. Jede „Beeinträchtigung des
deutschen Volkskörpers“ sollte durch die gesetzlich geregelte „Verhinderung“ der Fortpflanzung
von Menschen mit einer echten oder angeblichen Erbkrankheit sowie von sozial und rassisch
unerwünschten Menschen verhindert werden. Mittel war dazu schließlich das „Ausmerzen“ in Form
der Vernichtung von „lebensunwertem Leben“. „Heilen oder Vernichten“ waren somit die
komplementären Teile der nationalsozialistischen Ideologie. Federführend bei der Gesetzgebung zu
diesem Ziel war der Reichsminister des Innern Wilhelm Frick.
Eingeleitet wurde die Entwicklung mit dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken
Nachwuchses“ vom 14. Juli 1933 (RGBl. 1933 I, 529), das eine erzwungene Sterilisation
von Menschen mit vermeintlich erblichen Krankheiten vorsah. Insgesamt bis zu 400.000
Männer und Frauen wurden zwangssterilisiert, wobei über 6.000 Menschen zu Tode
kamen.[4]
Durch das „Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“
vom 26. Juni 1935 (RGBl. 1935 I, 773) wurde der Schwangerschaftsabbruch bei
diagnostizierter Erbkrankheit legalisiert. Hinzu kamen neben der schon bestehenden
medizinischen Indikation 1938 die rassische Indikation und 1943 die ethische Indikation.
Heirat und außerehelicher Verkehr mit „fremdrassigen“ Menschen wurde durch das „Gesetz
zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ vom 15. September 1935 (RGBl.
1935 I, 1146; dies lief ferner unter dem Wort Rassenschande) verboten.
In einem weiteren Schritt wurde mit dem „Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des
deutschen Volkes – Ehegesundheitsgesetz“ vom 18. Oktober 1935 (RGBl. 1935 I, 1246) die
Eheschließung von Menschen mit einer Erbkrankheit oder geistigen Behinderung mit
gesunden und nichtbehinderten Menschen verboten.
Am 27. September 1939 kam es in Wejherowo (Neustadt bei Gdingen) in Westpreußen zum
ersten Massaker an Psychiatriepatienten im deutsch besetzten Polen, dem weitere
Krankenmorde in vielen polnischen Anstalten folgten. Noch im Herbst wurden aus
Pommern deutsche Kranke durch die dortigen Anstaltsleiter selektiert und zur Erschießung
ins deutsch besetzte Westpreußen gebracht.[5]
In einer der Kasematten des Forts VII in der besetzten polnischen Stadt Poznań (Posen)
wurden in der zweiten Oktoberhälfte oder evt. noch vor dem 9. Oktober des Jahres 1939[6] in
einer „Probevergasung“ mehrere Psychiatriepatienten durch Kohlenstoffmonoxid ermordet.
Der NS-Führer Himmler (SS) ließ sich dort die Wirkungsweise dieser Vergasungsmethode
am 12. oder 13. Dezember 1939 vorführen.[7] Wenig später verwendeten die unten
genannten Tötungsanstalten der Aktion T4 dieses Gas ebenfalls.
Mit der Kinder-Euthanasie im Jahre 1939 wurde die Tötung von mindestens 5.000
erbkranken und kognitiv oder körperlich beeinträchtigten Säuglingen und Kindern
eingeleitet.
Kurz darauf folgte die Erwachsenen-Euthanasie, in der etwa 70.000 Bewohner von Heilund
Pflegeanstalten sowie Heimen für Menschen mit Behinderung umgebracht wurden.
Dazu gehörten auch zahlreiche ehemalige Heeressoldaten des Ersten Weltkrieges, die
aufgrund der dabei erlittenen schweren psychosozialen Störungen in Heilanstalten lebten
und bei deren Auflösung zur Ermordung in T4-Anstalten deportiert worden sind.[8]
Nach Einstellung der „Aktion T4“ im August 1941 durch die Berliner Zentrale, die von Anfang an
von der Protektion Heinrich Himmlers und Reinhard Heydrichs abhängig war,[9] wurde die
Erwachsenen-„Euthanasie“ dezentral relativ unauffällig weitergeführt:
Die Tötung „kranker“ und „nicht mehr arbeitsfähiger“ KZ-Häftlinge bis Ende des Krieges in
drei der ehemaligen Tötungsanstalten der „Aktion T4“ (Bernburg, Sonnenstein, Hartheim)
wurde nach dem hierfür verwandten Aktenzeichen als „Aktion 14f13“ bezeichnet. Im
Rahmen dieser Aktion, die auch „Sonderbehandlung 14f13“ genannt wurde, wurden etwa
20.000 Häftlinge ermordet.
Mit der „Aktion Brandt“ (nach Karl Brandt, Begleitarzt Hitlers, ab 28. Juli 1942
Bevollmächtigter für das Sanitäts- und Gesundheitswesen sowie ab 5. September 1943
Leiter des gesamten medizinischen Vorrats- und Versorgungswesens des „dritten Reichs“)
wurden ab 1943 Heil- und Pflegeanstalten für den infolge des zunehmenden Luftkriegs
steigenden Bedarf von Ausweichkrankenhäusern in Beschlag genommen. Die Patienten
wurden in besonderen Anstalten konzentriert, die in der Mitte des Reichs oder im Osten
lagen. Durch gezielte Tötungen mit überdosierten Medikamenten oder Verhungernlassen
durch Unterernährung wurde deren Zahl immer weiter drastisch reduziert. Diese Phase nach
dem „offiziellen“ Ende der „Euthanasie“ im August 1941 wurde in den ersten Jahrzehnten
nach Kriegsende als „wilde Euthanasie“ bezeichnet und bedeutete die Ermordung von
weiteren etwa 30.000 Menschen.
Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens, geschrieben von Alfred Hoche und Karl
Binding, und Grundriss der menschlichen Erblichkeitslehre und Rassenhygiene, in späteren
Auflagen Menschliche Erblichkeitslehre und Rassenhygiene, verfasst von Eugen Fischer, Erwin
Baur und Fritz Lenz, diente den Nationalsozialisten als Begründung für das T4-Programm.[10]