Filmanalyse „Poesie der Liebe“ – Weiter auf der Rampe hin zu einer Renaissance der Euthanasie
„Manche unnötigen Szenen, darunter der Schluss-Twist, werden aufgewogen durch Witze, deren
Boshaftigkeit und Klarsicht einem den Glauben an die französische Komödie zurückgeben. Da wird
etwa, haarscharf am Rand der Tragödie, gezeigt, mit welcher Skrupellosigkeit Autoren für eine gute
Geschichte ihre Umgebung bloßstellen; wie sehr Literaten auch Hochstapler sind, die das Leid
anderer ausbeuten. In diesen burlesk angerichteten Momenten beweist die Komödie einen Tiefgang,
der manch bemühtes Drama in den Schatten stellt.“1 (Hervorhebung von mir) Soweit die
Bejubelung eines Skandals durch den Evangelischen Pressedienst.
Der Titel erweist sich als irreführend. „Frankreich 2016: Der berühmte Schriftsteller Victor
Adelman (Nicolas Bedos) ist tot. Ein Journalist (Antoine Gouy) möchte eine Biografie verfassen.
Witwe Sarah (Doria Tillier) erzählt während der Trauerfeier von dem gemeinsamen
Lebensabschnitt, der Anfang der 1970er begann. Sarah, die scharfsinnige Literaturdoktorandin,
stürzt sich wie ein Geier auf Victors Manuskript und korrigiert unaufgefordert darin herum“
(filmstarts). In positiven Rezensionen heißt es etwa: „Was wie eine biedere Arthouse-Romanze
beginnt wird zu einer der frischesten und unterhaltsamsten Liebesgeschichten der letzten Zeit. „Die
Poesie der Liebe“ schafft es dabei, immer wieder zu überraschen und Gegensätze in sich zu
vereinen, als wäre es das Normalste auf der Welt. Die Geschichte um einen Schriftsteller und die
Frau, die mehr als 40 Jahre an seiner Seite war, ist gleichzeitig hässlich und schön, urkomisch und
traurig, eine unverschämte Farce, der man alles abnimmt, sogar den Glauben an die große Liebe.“ 2
Tatsächlich entpuppt sich der „Held“ sehr schnell als ein egomanischer, beziehungsloser
Schriftsteller, der sich noch nicht einmal den Vornamen der Frau merken kann, die ihm
gegenübersitzt. Er läd sie nach wenigen Worten zum Sex ein, worauf sie eingeht. Er ist ungeschickt
und rücksichtslos, ohne Fühlungnahme. Es ist eine Zeit der unverbindlichen Sexbegegnungen der
70er Jahre. Wer zwei mal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment? Der Sex nimmt
im Film Raum ein, wird ausführlich thematisiert und präsentiert. Ian Dury sang einst : „Sex and
drugs and Rock and Roll, is all my brain and body needs“. Was für ein Elend.
„Es beginnt schon damit, dass Sarah sich 1971 in einer Bar unsterblich in den angehenden
Schriftsteller Victor verliebt und wirklich alles tut, um ihn zu erobern. Sie belagert ihn per Telefon,
macht sich an seinen besten Freund ran und wird die Geliebte seines Bruders. Und sie kriegt ihn,
indem sie beim Weihnachtsdinner bei seinen großbourgeoisen Eltern dem Gemecker seines
erzreaktionären Vaters schlagfertig Paroli bietet. ‚Die hat Eier!‘, lobt der alte Chauvi. Ab da liegt
der Mitterrand-Fan Victor Sarah zu Füßen.“3 Die Mutter Victors wird im Laufe des Filmes als
Alkoholikerin gezeigt, der Vater ist auch der Schwiegertochter gegenüber menschenverachtend.
Sie heiraten, er wird erfolgreich und verdient mit seinen Büchern viel Geld. Später offenbart sich,
daß sie die eigentlich efolgreiche Schriftstellerin hinter ihm ist, ihm die ersten dreißig Seiten der
jeweiligen Romane schreibt. Sie dämmert im goldenen Käfig eines schicken Hauses vor sich hin,
nimmt sich schwarze Angestellte, was er kritisiert; schließlich hält er sich für links und wählt den
„linken“ Präsidenten Mitterand. („Wir sind doch hier nicht auf einer Plantage“). Damit nimmt er ihr
das letzte Restchen Beziehung, denn er ist oft wochenlang unterwegs.
Die „Filmkritik“ verherrlicht die Beziehungslosigkeit. „Als schlauer Coach erträgt sie seine
weiblichen Groupies, seine Krisen und sein Selbstmitleid und genießt das durch seine Bestseller
ermöglichte Wohlleben.” Welches Bild der Aufgaben von Ehe und Kindererziehung werden hier
vermittelt? Die entsolidarisierende, nur um sich selbst kreisende, narzisstisch- hedonistisch sich
auslebende Bohème auf niedrigen Niveau wird in solchen Kritiken – nicht nur des epd –
verherrlicht.
Dazu der Kinder- und Jugendpsychiater Dr. Michael Winterhoff: „Wenn wir nicht wollen, dass wir
immer mehr Egoisten, Narzissten sowie beziehungsunfähige und lustorientierte Egoisten in unserer
Gesellschaft haben, müssen wir sehr schnell aufwachen und Gegensteuer geben.“ (S. 201) „Die
emotionale und soziale Kompetenz von Menschen ist der Kitt unserer Gesellschaft. Wenn sie
1 https://www.epd-film.de/filmkritiken/die-poesie-der-liebe
2 https://www.film-rezensionen.de/2018/11/die-poesie-der-liebe/
3 A.a.O. epd-Film
verloren geht, bricht die Gesellschaft auseinander.“ (S. 208)4 Der Film zeigt eindrücklich, auf welch
gefährlichem, gesellschaftspolitischen Pfad wir uns bewegen.
Was beide noch verbindet ist der Sex. Nach Geburt des Sohnes merken sie, daß dieser in sich
gekehrt und emotional abgestellt wirkt, was sie aber nicht beunruhigt. Erst als die Lehrerin die
Eltern bestellt, um ihnen zu eröffnen, daß ihr Sohn sich merkwürdig – geradezu sadistisch – verhält,
sind sie ganz überascht, daß er Tiere plagt. Der Vater lehnt ihn ab und sagt ihm zudem, daß er ihn
für einen Idioten hält. Der Junge wirkt aufgrund der vernachlässigenden Erziehung tatsächlich
debil.
Es wird dem Zuschauer als anscheinend „normal“ dargestellt, daß „ich-bezogene “ Eltern eben auch
solche Kinder haben können. Hingegen hatte der österreichisch-amerikanische Psychoanalytiker
und Wegbereiter von Säuglingsforschung und Entwicklungsforschung René Spitz speziell mit
seinen empirischen Untersuchungen als Indikatoren, vor allem gestörter Mutterbeziehungen von
Säuglingen bei inkohärenten Stimuli, folgende herausgearbeitet: Aktive und passive Ablehnung des
Kindes, Überfürsorglichkeit, abwechselnde Feindseligkeit und Verwöhnung, mit Freundlichkeit
verdeckte Ablehnung. Solche Bedrohungen der Beziehung (Objektkonstanz) führen gemäß Spitz je
nach Art der gestörten Objektbeziehung zu verschiedenen psychischen und psychosomatischen
Störungen beim Kind wie z. B. Säuglingsekzemen, anaklitischer Depression, psychotoxischer
Störung oder gar Hospitalismus.5
„Die kindliche Psyche entwickelt sich am erwachsenen Gegenüber. Diesen Satz sollte sich jeder,
der mit Kindern umgeht, immer und immer wieder in Erinnerung rufen. Wenn wir die Erkenntnis
ernst nehmen, dass Erwachsene als Bezugspersonen für Kinder und als Orientierungspersonen für
deren psychische Entwicklung von entscheidender Bedeutung sind, dann muss uns auch klar sein,
dass jede unserer Handlungen gegenüber Kindern eine Bedeutung für ihre Zukunft hat.“ (S. 60)6
Die Beziehung der Protagonisten beruhte einstmals rein auf sexueller Anziehung und diese verblaßt
mit der Zeit. Der gezeigte Schriftsteller möchte gerne ein „lustige“ Frau und um ihm zu imponieren,
nimmt sie Kokain. Es wird bei Festen jedoch immer peinlicher. Sie wird wieder schwanger und bei
der Geburt der Tochter erst realisiert er, daß sie Drogen genommen hat, was jedoch in Bezug auf
das mögliche Schädigungen des Ungeborenen und auch der – werdenden – Mutter verharmlost
wurde/wird, es sei ja nichts passiert. Kokain wird so dargestellt, daß man es – auch nach längerem
Gebrauch – einfach wieder absetzen kann. Da die Tochter jedoch ohne Mißbildungen geboren
wurde, habe es auch nichts geschadet.
Der Beziehungsinhalt der Eltern – Sex – nutzt sich mit der Zeit ab und sie zieht sich immer mehr
zurück. Zum Geburtstag schenkt er ihr einen Callboy, dem er beim Sex mit ihr zuschauen will, um
sie zu demütigen. Als sie eingeht, bricht er das Ganze ab. Die Tochter benimmt sich mit den Jahren
so wie eine Geliebte ihrem Vater gegenüber. Später stellt sich heraus, daß er eine sexuelle
Beziehung zur Tochter hatte. Sarah akzeptiert auch die Beziehungen des Mannes zu Studentinnen
an der Uni, die er auch nach Hause einlädt. Eines Tages schmeißt sie eine Studentin hinaus, sucht
sich einen Liebhaber, heiratet ihn. Nach Jahren kommt Victor Adelmann sie besuchen und sie
brennt mit ihm durch, was als „tiefe“ Liebe verkauft wird. Es wird immer deutlicher, daß sie ihm
zum Erfolg verholfen hat, es wirkt wie eine merkwürdige Symbiose. „Als schlauer Coach erträgt sie
seine weiblichen Groupies, seine Krisen und sein Selbstmitleid und genießt das durch seine
Bestseller ermöglichte Wohlleben..“7
Victor wird zunehmend dement und sie leidet, verübelt es ihm, weil er sich an sie partiell immer
weniger erinnert. Das erträgt sie nicht und arrangiert seinen „Selbstmord“: Als sie sich als junge
Leute kennenlernten, spielten sie oft ein Blindekuhspiel. Nun gehen sie noch einmal an einem Ort
ihres Beziehungsanfangs am Meer spazieren. Sie verbindet ihm die Augen, suggeriert, es sei wie
4 Winterhoff, a.a.O.
5 Zum Beispiel: „Störungen des Appetits (Appetitverminderung oder übermäßige Esslust), Essen wird gesammelt und
irgendwo eingelagert, z. B. unterm Bett (bei Kindern, die neben der Vernachlässigung auch Hunger erfahren haben),
motorische Verlangsamung, ungenügende Reaktionsfähigkeit , passive Grundstimmung, Teilnahmslosigkeit bis zur
Apathie, Kontaktstörungen (z. B. Kontaktarmut) und Wahrnehmungstörungen, die dem Autismus stark ähneln können.“
(Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Hospitalismus)
6 Winterhoff, Michael. SOS Kinderseele. Was die emotionale und soziale Entwicklung unserer Kinder gefährdet und
was wir dagegen tun können. München 2013.
7 A.a.O., epd-Film.
immer ein Spiel und läßt ihn auf eine Klippe zulaufen, die er hinabstürzt. Sie hat es nicht mehr
ertragen, daß er sie nur noch phasenweise erkennt, ist sauer, daß er sie auch vergißt und Sex und
Begehrlichkeit keine Rolle mehr spielen.
Die Filmkritik lobt diese Entwicklung bis hin zum brutalen Ende: „Unterhaltsam, kurzweilig und
schafft es in den Momenten, in denen man es am wenigsten erwartet, einen zu Tränen zu rühren,
wie es eben nur eine große Liebe schafft. Selbst wenn sie dabei richtig hässlich wird.“8
Gezeigt wird eine beziehungslose, psychisch gewalttätige Verbindung, wie die Studentenbewegung
viele hervorgebracht hat und deren trostlose Einsamkeit. Da er dem eigenen Ego nicht mehr genügt,
entsorgt man den kranken Partner und bemäntelt es damit, ihm etwas „Gutes“ zu tun, indem man
ihn „erlöst“. Die schiefe Ebene hin zur Euthanasie wird damit betreten und kaltblütiger, kalkulierter
Mord noch als Liebesakt, sensibles „Kammerspiel“ oder gar „Krimi“ behauptet.
8 A.a.O., epd-Film.