Nils Melzer: «Assange ist ein Mensch, er hat das Recht, sich zu verteidigen und
menschlich behandelt zu werden»
In einem Interview mit dem Schweizer Magazin Republik hat der UN-Sonderbeauftragte für
Folter Nils Melzer wie folgt Stellung genommen: «Der Fall berührt mein Mandat in dreifacher
Hinsicht. Erstens: Der Mann hat Beweise für systematische Folter veröffentlicht. Statt der
Folterer wird nun aber er verfolgt. Zweitens wird er selber so misshandelt, dass er heute selbst
Symptome von psychologischer Folter aufzeigt. Und drittens soll er ausgeliefert werden an
einen Staat, der Menschen wie ihn unter Haftbedingungen hält, die von Amnesty
International als Folter bezeichnet werden. […] Zudem ist der Fall von emblematischer
Bedeutung, er ist für jeden Bürger in einem demokratischen Staat von Bedeutung. […] Er
[Julian Assange] wird kein rechtsstaatliches Verfahren bekommen. Auch deswegen darf er nicht
ausgeliefert werden. Assange wird vor ein Geschworenen gericht in Alexandria, Virginia,
kommen. Vor den berüchtigten ‹Espionage Court›, wo die USA alle National-Security-Fälle
führt.
Der Ort ist kein Zufall, denn die Geschworenen müssen jeweils proportional zur lokalen
Bevölkerung ausgewählt werden, und in Alexandria arbeiten 85 Prozent der Einwohner bei der
National-SecurityCommunity, also bei der CIA, der NSA, dem Verteidigungs departement und
dem Aussenministerium. Wenn Sie vor so einer Jury wegen Verletzung der nationalen
Sicherheit angeklagt werden, dann ist das Urteil schon von Anfang an klar. Das Verfahren wird
immer von derselben Einzel richterin geführt, hinter geschlossenen Türen und auf Grund
geheimer Beweis mittel. Niemand wurde dort in einem solchen Fall jemals freigesprochen. […]
Ich sage nicht, Julian Assange sei ein Engel. Oder ein Held. Aber das muss er auch nicht sein.
Denn wir sprechen von Menschenrechten und nicht von Engels- oder Heldenrechten. Assange
ist ein Mensch, er hat das Recht, sich zu verteidigen und menschlich behandelt zu werden. Was
auch immer man Assange vorwirft, er hat ein Recht auf ein faires Verfahren. Das hat man ihm
konsequent verwehrt, und zwar sowohl in Schweden wie auch in den USA, in England und in
Ecuador. […]
Es ist offensichtlich, dass es sich hier um einen politischen Verfolgungs prozess handelt. […]
Wenn investigativer Journalismus einmal als Spionage eingestuft wird und überall auf der Welt
verfolgt werden kann, folgen Zensur und Tyrannei. Vor unseren Augen kreiert sich ein
mörderisches System. Kriegs verbrechen und Folter werden nicht verfolgt. YouTube-Videos
zirkulieren, auf denen amerikanische Soldaten damit prahlen, gefangene irakische Frauen mit
routine mässiger Vergewaltigung in den Selbstmord getrieben zu haben. Niemand untersucht
das. Gleichzeitig wird einer mit 175 Jahren Gefängnis bedroht, der solche Dinge aufdeckt. Er
wird ein Jahrzehnt lang überzogen mit Anschuldigungen, die nicht nachgewiesen werden, die
ihn kaputtmachen. Und niemand haftet dafür. Niemand übernimmt die Verantwortung. Es ist
eine Erosion des Sozial vertrags.
Wir übergeben den Staaten die Macht, delegieren diese an die Regierungen – aber dafür müssen
sie uns Rede und Antwort stehen, wie sie diese Macht ausüben. Wenn wir das nicht verlangen,
werden wir unsere Rechte über kurz oder lang verlieren. Menschen sind nicht von Natur aus
demokratisch. Macht korrumpiert, wenn sie nicht überwacht wird. Korruption ist das Resultat,
wenn wir nicht insistieren, dass die Macht überwacht wird.»
Quelle: Republik vom 31.1.2020
https://www.zeit-fragen.ch/fileadmin/user_upload/zeitfragen/
eins/Dokumentationen/ZF_2020_1102_03_web.pdf