Warum Herrndorfs Roman „Tschick“ nicht Mark Twain das Wasser reichen kann
Der Roman paßt in eine Zeit, in der Jugend auf eine entfesselte, globalisierte und digital
überwachte Zukunft vorbereitet werden soll, in der sie ihren Lebensunterhalt frei von Heimat
und persönlichen Bindungen unter allen Bedingungen, verstreut über viele Länder, bereit ist zu
fristen. Für „Freiheit“ und „Abenteuer“ im Niemandsland?
Auf die Frage, warum er mit „Tschick“ einen Jugendroman geschrieben hat, antwortete
Wolfgang Herrndorf in einem Gespräch mit der FAZ:[2]
„Ich habe um 2004 herum die Bücher meiner Kindheit und Jugend wieder gelesen, „Herr der
Fliegen“, „Huckleberry Finn“, „Arthur Gordon Pym“, „Pik reist nach Amerika“ und so. Um
herauszufinden, ob die wirklich so gut waren, wie ich sie in Erinnerung hatte, aber auch, um zu
sehen, was ich mit zwölf eigentlich für ein Mensch war. Und dabei habe ich festgestellt, dass
alle Lieblingsbücher drei Gemeinsamkeiten hatten: schnelle Eliminierung der erwachsenen
Bezugspersonen, große Reise, großes Wasser. Ich habe überlegt, wie man diese drei Dinge in
einem halbwegs realistischen Jugendroman unterbringen könnte. Mit dem Floß die Elbe runter
schien mir lächerlich; in der Bundesrepublik des einundzwanzigsten Jahrhunderts als Ausreißer
auf einem Schiff anheuern: Quark. Nur mit dem Auto fiel mir was ein. Zwei Jungs klauen ein
Auto. Da fehlte zwar das Wasser, aber den Plot hatte ich in wenigen Minuten im Kopf
zusammen.“ – Im Gespräch: Wolfgang Herrndorf, FAZ vom 31. Januar 20111
Oberflächlich betrachtet geht es um „die schnelle Eliminierung der erwachsenen
Bezugspersonen“ und eine „große Reise“. Der fragwürdige „Freiheitsbegriff“ Herrndorfs bedarf
hierbei einer kritischen Betrachtung. Es werden zwei junge Menschen – Maik und Tschick – in
einer Gymnasialklasse gezeigt, die entwurzelt und bindungslos erscheinen. In ihrer Biographie
scheinen sie das schädliche Gift einer pessimistischen Lebensperspektive erlebt zu haben. Der
eine aus gutbürgerlichem Elternhaus in einer Berliner Ghettosiedlung, Mutter Alkoholikerin,
Vater vergnügt sich mit einer anderen Frau, der andere Rußlanddeutscher, der mit seinem
Bruder nach Deutschland gekommen ist. Maik wird in seiner Klasse als Außenseiter und als
sehr guter Sportler und Zeichner beschrieben. Tschick, der Rußlanddeutsche, kommt manchmal
auch betrunken zum Unterricht, wirkt cool und glänzt punktuell durch gute Deutschleistungen.
Wie er das Gymnasium erreichen konnte, bleibt unklar. Einmal geht Maik aus sich heraus,
beschreibt in einem Deutschaufsatz den Alkoholismus seiner Mutter, was jedoch vom Lehrer
nicht gewürdigt wird, im Gegenteil. Sommerferien stehen an. Die Mutter verbringt wieder
einmal ihre Zeit in einer Entzugsklinik, der Vater vergnügt sich derweil mit seiner Assistentin.
Die bevorstehenden Sommerferien, die Maik dadurch alleine verbringen wird, werden vom
Lebensgefühl her mit „Langeweile“ und „Lust auf Abenteuer“ charakterisiert. Tschick kommt
mit einem geklauten Lada Niva zu Maik und will mit ihm zum Großvater in die „Walachei“
reisen. Es soll eine Reise werden, wie „normale Leute“. Karten haben sie nicht und unterwegs
muß Benzin besorgt werden. Dafür suchen sie einen Schlauch auf einer Müllkippe, um Benzin
aus anderen Autos zu stehlen. Bei der Bewältigung hilft ihnen Isa, äußerlich völlig verwahrlost
und aus einer psychiatrischen Einrichtung entwichen, die sie eine Strecke lang begleitet. Die
Reise geht rücksichtlos durch Feld und Wiese. Tschick baut einen Unfall, der Wagen
überschlägt sich, der Junge wird durch den Feuerlöscher einer Hilfeleistenden verletzt, muß ins
Krankenhaus, erhält einen Gipsverband und Maik muß nun nach seiner Anleitung weiterfahren,
nachdem Tschick aus dem Krankenhaus geflüchtet ist: Dort wo Hilfe, Unterstützung, vielleicht
auch ein Ausweg aus verfahrener Situation aufschimmern könnte – was ist an dieser ziellosen
Handlung weitere „Freude am Erleben“, was ist daran „heldenhaft“ o.ä. ?
Am Ende landen die Jungen bei der Polizei, es kommt zu einer Gerichtverhandlung. Maik wird
zu gemeinnütziger Arbeit, Tschick zu einer Heimunterbringung verurteilt. Zusammengefaßt
besteht die „Freiheit“ und „Freude am Erleben“ der Jungen in kriminellen Handlungen wie dem
1 http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/autoren/im-gespraech-wolfgang-herrndorf-wann-hat-es-tschickgemacht-
herr-herrndorf-1576165.html