Ein Reisebericht

Ein Reisebericht

Die andere Seite – ein freundschaftlicher Blick auf Rußland

September 2018

von Ulrike und Werner Schramm

Ein Blick in manche Zeitungen oder Fernseh„berichte“ genügt und die dort jeweils geschürte antirussische Stimmung  – würden wir den Mainstream-Medien überhaupt noch Glauben schenken – hätte uns von einem, vor allem menschlich, überwältigenden Erlebnis abgehalten: Unserer Reise nach Nischni Nowgorod, einer 1,5 Mio.-Stadt etwa 2300 km entfernt von hier. Das russische Alphabet hatten wir noch flink hier mit Hilfe gelernt und unser in Rußland lebender Freund, der mit einer Russin verheiratet ist, wurde unsere Brücke auch zu einer anderen Kultur.

Bei einem Stadtrundgang am nächsten Tag war architektonisch zunächst sowohl die Säulenform verschiedener Gebäude noch aus der Sowjetzeit als auch an verschiedenen figürlichen Verzierungen erkennbaren deutsch beeinflußter Baustil auffällig. Da Holz als billiges Baumaterial im Überfluß vorhanden war, wurden die bis zu 100 Jahre alten Häuser daraus erstellt. Heute muß viel Baufälliges abgerissen werden, manches wird liebevoll restauriert. Hervorzuheben sind die vielen Märkte der Kette SPAR, die heute in manchen Stadtvierteln dominieren. In der Regel sind es Franchise-Unternehmen, bei denen SPAR die Vorgaben macht. Präsident Putin hat nun ein Dekret verabschiedet, daß die Nahversorgung vor allem der älteren Mitbürger dadurch gewährleisten soll, daß wieder die „Tante-Emma-Läden“ speziell gefördert werden. Die Läden müssen hierzu mit wenigen Schritten erreichbar sein, damit die Menschen sich in ihren Vierteln zu Hause fühlen können und daß zu ihrer Versorgung auch das Einkaufen gehört. Dort erhält man neben Frischwaren in einem Geschäft den täglichen Bedarf, um nebenan in einem anderen Geschäft Zeitungen und Haushaltsutensilien erwerben zu können. Ursprünglich war es SPAR gelungen, über die Stadtverwaltung den kleinen Läden gegenüber massive Verkaufseinschränkungen durchzusetzen und so die bewährten, kleinen „Tante-Emma-Läden“ auch in Verbindung mit korrupten Stadtregierungen zu verdrängen. Zigaretten- und Alkoholverkauf waren die Hauptstützen der Umsätze und die Verwaltung hatte deren Verkauf sukzessive beschränkt, so daß eine Reihe Läden schließen mußten.

Auffällig sind allerorten die prächtigen russisch-orthodoxen Kirchen mit ihren vergoldeten Kuppeln. Mehr als zwei Drittel aller Russen bekennen sich zu dieser Glaubensrichtung. Im Unterschied zu Deutschland, wo seit dem Reichskonkordat zwischen Heiligem Stuhl und Nationalsozialisten die Kirchensteuer staatlich eingezogen wird, müssen sich im historisch gewachsenen Vielvölkerstaat Rußland die Kirchen selbst finanzieren. Glauben ist Privatsache, die verschiedenen Glaubenrichtungen leben friedlich zusammen. In Rußland gibt es übrigens keine Sozialhilfe, für Härtefälle hilft die Gemeinde. Es herrscht Aufbaustimmung und niemand muß mehr hungern, aber rechnen.

Während der kommunistischen Zeit zwischen 1917 und 1989 war religiöses Leben unterdrückt. Kirchen wurden umfunktioniert in Lagerhallen oder Schwimmbäder. Die von uns besuchte armenische Kirche fungierte als Bäckerei. Eine Kirche zu entweihen, wie durch die von den USA als „Freiheitskämpfer“  unterstützte Punkgruppe Pussy Riot geschehen, ist eigentlich ungeheuerlich und zeigt die wahre Fratze vom Freiheitsgefasel des Westens. In Rußland ist nach wie vor der größte Teil der Bürger extrem gläubig.

Die Krise der Jelzin-Ära (auch er hatte seinerzeit in Esalen im Bottich der Reinigung geplantscht) hatte Ende der 90er Jahre zum Staatsbankrott geführt. Die verzweifelten Menschen interpretierten diese Entwicklung als Rache Gottes. Hatten sie zu Sowjetzeiten noch Arbeit und ihr Auskommen gehabt, so traf sie der US-gesteuerte Zusammenbruch mit harter Armut. Versorgung ermöglichte in erster Linie die Familie. Was hielt, war der Glauben. So wurde die von Stalin durch Umwandlung in eine Schwimmbad geschändete Christ-Erlöser Kathedrale in Moskau mit ihren heute 10000 Plätzen auf zwei Etagen nach dem Ende der SU erneut aufgebaut, neu geweiht und damit zum Symbol des Glaubens auch für andere Religionen. Man respektiert einander und jeder glaubt an seinen Gott, hat zutiefst sein inneres Glaubensbekenntnis. Menschen, die etwa an einer russisch-orthodoxen Kirche vorbeikommen, machen ein Kreuz. Es kann vorkommen, daß die Fahrgäste einer vorbeifahrenden Straßenbahn ebenfalls sich der Kirche zuwenden und das Kreuz schlagen. Über Religion macht man einfach keine Scherze oder abfällige Bemerkungen, das ist ein absolutes Tabu wie überhaupt jede „Diskussion“ über Sterbehilfe bzw. Euthanasie.

Es war ein sonniger Tag und so schlendern wir die Pokrowka, die breite Fußgängern vorgehaltene Einkaufsstraße der Stadt, hinunter Richtung Kreml, was einfach Burg heißt.

Hier werden im Innenhof Militärfahrzeuge ausgestellt, die in den Rüstungswerken der Stadt Gorki, wie sie damals hieß, von 1931 bis 1991 für die Front produziert worden sind.

otos der Gefallenen im vaterländischen Krieg

In einer Mauernische ist auf der Ziegelsteinwand ein Panzer stilisiert dargestellt, der aus unzähligen kleinen Photos russischer Soldaten des II. Weltkrieges besteht – der bei den Russen übrigens „Großer Vaterländischer Krieg“ heißt. Auffällig ist überall, wie gepflegt und auch stolz junge Leute einzeln oder in Gruppen uns entgegenkommen. Wir machten Bilder, vermutlich könnte es ansonsten uns keiner glauben.

Keiner kam uns in zerrissenen Hosen oder T-Shirts entgegen. In Deutschland fragen wir uns oft, aus welchem Bombentrichter die jungen Leute kommen. Unsere russischen Freunde vermuten gemeinsam mit uns, daß solche „Modediktate“ offensichtlich darauf abzielen, längerfristig gewisse Verelendungsentwicklungen hinnehmen zu lernen.

Die Straße weitete sich zu einem Platz, auf dem sich die Region Semjonow mit handwerklichen Produkten vorstellte. Erwachsene und Kinder trugen prächtige Trachten. Traditionelle Musik und Tanzdarbietungen auf der Straße fesselten unsere Aufmerksamkeit. Auffällig war für uns, daß wir trotz der Feindseligkeiten der deutschen Politik mit ihren rechtswidrigen Sanktionen und der angerichteten Kriegsverwüstungen – Gorki wurde 1943 mehrfach bombardiert – immer freundlich empfangen und bedient wurden. Wer konnte, bemühte sich um einige Worte deutsch.

Unser nächster Termin ist das deutschsprachige  Gymnasium Nr. 1. In der Eingangshalle sind Eltern mit ihren Kindern zu sehen. Eine Großmutter läßt sich stolz mit ihrem Enkelkind, das eine obligatorische Schuluniform trägt, photographieren. Der Aufgang zum Treppenhaus ist wegen möglicher Terrorgefahr mit zwei Drehkreuzen und Wachpersonal gesichert. Es war wohltuend, Schüler zu sehen, die auch in Pausen, höflich miteinander umgingen.

Die Kinder der Unterstufe tragen selbstverständlich eine Schuluniform. Zu unserem Erstaunen begegnet uns ein etwa 11-jähriger Junge mit Anzug, Krawatte und stolz geschwellter Brust. Wir erfahren, daß seit der Sowjetzeit jede Schule ihre eigene Uniform wählen kann, die von Schülern vor allem deswegen gerne getragen wird, weil sie zeigt, auf welche Schule „man“ geht. Jeans werden eigentlich nicht geduldet. Es geht auch darum, daß durchaus modische Kleidung möglich ist, ohne daß daraus ein Schaulaufen materiellen Wohlstands im Sinne einer Ansehenshierarchie entsteht. Der Unterricht wird traditionell, mit Tafel und Kreide durchgeführt. Das erinnert uns daran, daß wir als Lehrer in Deutschland über die Jahrzehnte damit ebenfalls erfolgreich zum Abitur geführt haben. Natürlich gibt es in allen Bildungseinrichtungen Rußlands, die wir besucht haben, auch Computer, aber sie dominieren nicht die Wahrnehmung. Immer noch steht die vom Lehrer geförderte Verbundenheit einer Klassengemeinschaft im Vordergrund. Das ist auch ein großes Stück Einübung in demokratische Einstellungen.  Auffällig ist ein Schild an deroberen Tafelecke: „Putin spricht deutsch. Und DU!“

Beim Besuch einer Oberstufenklasse, die sich auf eine Deutschprüfung vorbereitet, konnten wir ein gelungenes Beispiel von klarer Gedankenführung auch in einer Fremdsprache erleben. Die Lehrerin hatte das Thema Massenmedien mit den Schülern erarbeitet. Es sollten Kriterien dargestellt werden, woran Nachrichten nach ihrem Informationswert beurteilt werden können. Das Surfen im Internet liefert einen permanenten Strom an vielfältigen Eindrücken. Es ginge darum, nach Kriterien der schon erarbeiteten Geschichtskenntnisse etwa Impulse aus dem Netz zu ordnen und zu bewerten. Abgelehnt wurden brutale, grausame Darstellungen von Kampf und Krieg, wie sie beispielweise gewisse Onlinespiele verkörpern. Soziale Netzwerke zu verfolgen „frißt“ zu viel Zeit, erläutert eine Schülerin in gutem Deutsch. Fruchtbringender wäre es, sich im normalen, d.h. realen Leben und dessen Anforderungen zu bewegen statt in eine virtuellen Ersatzwelt zu folgen. Vor allem den Schülerinnen sind Suchtgefahr und Abhängigkeit von medial hervorgerufenen „Erfolgserlebnissen“ bewußt. Sie beobachten auch Bekannte, die stundenlang wie abgetreten im Netz „kommunizieren“. Massenmedien, so die einhellige Meinung, überschwemmen den Zuschauer mit nicht nachprüfbaren „Informationen“ und Bildern. Diese Schüler brachten zum Ausdruck, daß sie keine Zeit dafür haben, mit Freunden im Netz zu „surfen“.

Schülen werden zu Wehnachten Traditionen bei uns vermittelt

Unser Hintergrund war natürlich, daß von der Propaganda in hiesigen Tageszeitungen immer wieder das Märchen von der angebliche Annexion der Krim aufgewärmt wird. Unterschlagen wird hierbei, wie unsere russischen Freunde ausführten, daß erst der auch von Deutschland unterstützte Putsch 2014 gegen die gewählte Regierung in der Ukraine, die anschließende Kampagne gegen die Verwendung der russischen Sprache (etwa 1,5 Mio. Ukrainer sind nach Rußland geflohen, ca. 95% der Ukrainer sprechen russisch), die speziell vom rechten Sektor (vor allem Swoboda) ausgegebene Parole „Kauft nicht bei Russen“, aber auch das Massaker an Russen in Odessa gezeigt haben: Wir wollen nicht länger unter einer Naziregierung leben (bekanntermaßen ist Swoboda die Bruderorganisation der NPD). Kein geringerer als Frank-Walter Steinmeier empfing die von den USA eingesetzte nationalistische „Regierung“ in der deutschen Botschaft. Tatsache ist vor allem, daß bevor die Junta sich über die Waffengewalt des Maidan die Macht an sich riss, niemand von einer Absicht gegenüber der Krim sprach. Die Nato hätte sich noch so gern den Militärhafen Rußlands auf der Krim, Sewastopol, einverleibt.

Die Lehrer der Schulen, die wir besuchten, sehen in der von oben aufoktroyierten Inklusion ein großes Hindernis allen anvertrauten „normalen“ Schülern zum Lernen zu verhelfen. Sie beklagen, daß sie schon genug schwächere Schüler haben, mit denen sie schon immer individuell arbeiten müssen. Wozu braucht es dann noch zusätzlich welche, die schwerhörig, schwersehend, verhaltensauffällig oder geistig behindert sind? Wie kann ein Lehrer, so der Schulleiter, mit 25 normalen Kindern und einem Kind, das solche Probleme vorweist, gemeinsam arbeiten? Das ist in den Augen des Schulleiters kein Unterricht, denn er muß sich diesem einen Kind u.U. die ganze Zeit widmen, statt mit den anderen Kindern zu arbeiten. Dafür gibt es normalerweise sogenannte Korrekturschulen, wo in kleinen Gruppen Schüler mit ähnlichen Schwierigkeiten von speziell dafür ausgebildeten Lehrern gefördert werden können und so ihrem Anspruch auf Bildung nachkommen können. Die behinderten Schüler in Inklusionsklassen merken sehr wohl, daß sie den Standard nicht mithalten können. Die „normalen“ Schüler sind oftmals nach einiger Zeit nicht mehr tolerant, wenn sie leistungsmäßig gebremst werden. Inklusion senkt das allgemeine Bildungsniveau, das weiß man aus Berichten über die Entwicklung in Deutschland. Die USA scheinen ein großes Interesse daran zu haben, Deutschland wirtschaftlich zu schwächen. Auch Rußland soll so von innen her bildungs- und wertemäßig ausgehöhlt werden.

Ein gelungenes Beispiel für Bildungsteilhabe liefert uns eine Schule für gehörlose Kinder. Etwas außerhalb und wunderschön in einem Wald gelegen, erreichen wir das Internatsgebäude der Schule, die 1924 von der Stadt Nischni Nowgorod gegründet wurde. Die Farbgestaltung  des Gebäudes erinnert auch uns an Hundertwasser. An Bäumen hängen Vogelhäuschen in verschiedenen Farben und Größen, die Schüler in einer im Gebäude befindlichen Tischlerei als Teil des Unterrichts erstellen. Später werden wir auch dies erleben. Eine uns herzlich begrüßende Betreuerin, Maria, weist auf die Vielfalt der Formen und Farbgebungen hin. Manche Klassen haben zwischen zwei und fünf Kinder, die Lehrer verfügen über eine besondere Ausbildung. Wir erfahren, daß die staatlich geförderte Schule 62 Internatsplätze anbietet.

Gymnaium Sigie, Maja, WS

Voller Stolz zeigen uns die Schüler sowohl die Näherei als auch Schreinerei und Töpferei. In ersterer fällt bereits die Sauberkeit und Ordnung des mit Nähmaschinen, die im Einzelfall nur vom Lehrer bedient werden dürfen sowie Exponaten warmherzig ausgestalteten Raumes auf. Ab und an werden externe Künstler eingeladen, um mit den Schülern zu malen, wobei die Lehrer auch kleinere Teile des Werkes übernehmen. Besonderer Stolz ist die Puppenausstellung. Nirgendwo ist eine Spur von Vandalismus zu sehen. Das liegt nicht nur am jeweiligen Bezug der Schüler zum Gegenstand, vielmehr haben sie auch bereitwillig bei der Ausgestaltung der Räume mitgeholfen. So ist auch ein Stück Mitverantwortung gewachsen. Auch in der Schreinerei wird auf Ordnung geachtet. Jeder Schüler hat einen mit Foto gekennzeichneten Werkzeugkasten und mit Kreide ist auf der Wandtafel vermerkt, was der Kasten enthalten muß. Dies quittiert jeder Schüler mit seiner Unterschrift. Von daher muß bei jedem Gebrauch geprüft werden, ob alle Werkzeuge vorhanden sind. In diesem Klassenzimmer finden sich auch Bleistifte, Kreide und Filzstifte, mit denen die Schüler zu den Werkstücken jeweils Schreibübungen machen. Im Nebenraum finden sich Töpferscheibe und weitere Werkstücke. Auch hier präsentieren uns die Kinder stolz ihre Werke.

Auf dem Weg zum kleinen Theater mit einer Bühne und einigen Zuschauerplätzen, in dem Schüler Pantomimen proben können, fällt uns eine bunt gestaltete Spielklasse auf. Neben einem Bewegungsbad, bestückt mit kleinen Bällen, werden die Sinnesorgane mit Kästen zur Sandmalerei gefördert. In einer Schleife fährt unter der Decke eine kleine Eisenbahn. Dann erfahren wir, daß sich die Tür zum Theater nur dann öffnet, wenn alle Schüler zusammenstehen. Wir werden in den Pantomime-Workshop von begeisterten  Kindern integriert und tanzen am Schluß gemeinsam zur Musik. Diese ist so gestaltet, daß die Bewegungen der Kinder stets dazu passen. Auffällig ist ein größerer Junge der manche Passagen allein gestaltet. Später erfahren wir, daß er aus desolaten Familienverhältnissen kommt und als Autist getestet ist. Eine Kindergemeinschaft, in der alle aufgrund ihres Hörproblems ein ähnliches Handicap haben, läßt Raum für die individuelle Förderung und Entfaltung von Bildungsmöglichkeiten. Die aufgezwungene Inklusion würde diese einmalige Chance für diese Kinder zerstören.

In der Linguistischen Fakultät treffen wir den Dekan Professor Samozhenov. Uns interessiert natürlich die Ausbildung der Deutschlehrer. Neben den Klassikern wie Goethe, Schiller, Lessing, werden z.B. Bert Brecht, Heinrich Böll (den hier in deutschen Schulen offensichtlich kaum noch ein Schüler kennt), Erich Maria Remarque, Immanuel Kant gelesen und interpretiert.


Der liguistischen Fakultät

Der Alltag an der Linguistischen Universität Nischni Nowgorod (LUNN) in Rußland erinnert an die Schulzeit: Russen beginnen ihr Studium bereits mit 16 oder 17 Jahren, es gibt „Klassenzimmer“ mit Tischen und Kreidetafeln. Die Universität kann nur betreten, wer einen Studenten- oder Lehrausweis besitzt, um das Drehkreuz am Eingang zu öffnen: Wachpersonal auch hier, wie in allen öffentlichen Gebäuden

Auf unsere Frage, wie die Ausbildung der Lehramtsstudenten vonstatten geht, erläutert uns der Dekan: Edel sei der Mensch, hilfreich und gut, so sagte schon Goethe. Die deutsche Kultur bietet verschiedene Ansatzpunkte, um die besten menschlichen Charaktereigenschaften, Werte und Gedanken zur Blüte kommen zu lassen. Indem die Menschen das Gute lesen, es erfassen und aus der Geschichte lernen kann das Studium viel für den Frieden unter den Völkern beitragen. Wir erwähnen als einen Aspekt aus Kants „Was ist Aufklärung?“ den Austritt des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Wie wird man ein mündiger Bürger? Indem man junge Menschen bereits so erzieht, daß sie sich vielfältig bilden, daß sie die Meinung des anderen respektieren und abwägen lernen. Die deutsche Kultur versucht man in der Universität u.a. dadurch zu vermitteln, daß die Studenten einen deutschen Weihnachtsmarkt – einschließlich Stollen und Plätzchen backen nach deutschen Rezepten –  ausrichten. Das russisch-orthodoxe Weihnachten verläuft anders und so kann jeder, der teilnimmt, sich gefühlsmäßig in die andere Kultur einfühlen. Das Gleiche gilt für das Osterfest.

Wie kann der Lehrer auf Frieden und gegen den Krieg hinarbeiten? Wir erwähnen, daß Jugendliche sich leider zunehmend für Kriegs-(PC)Spiele interessieren. Diese werden in Deutschland von einer ganzen Industrie im Verbund mit dem Militär und der Politik gefördert, brachten wir ein. In den Schulen, so der Dekan, besteht eine Aufgabe des Lehrers darin, durch entsprechende Erziehung den Jugendlichen beizubringen, daß Kriegsspiele keine gute Wahl sind. Wir ergänzten dahingehend, daß ein Lehrer, der in der Kenntnis der Spiele seinen Schülern gegenüber einen Vorsprung hat, diese von einer grundwertegeprägten Auffassung her entwerten kann.

In diesem Zusammenhang erwähnten wir die Arbeiten von John Hattie – Neuseeländer, Bildungsforscher, Professor an der University of Melbourne – zur Bedeutung des Lehrers als Steuermann des Unterrichts. Für Hattie darf ein Lehrer kein bloßer Lernbegleiter sein, kein Architekt von Lernumgebungen sein. Von daher verbietet sich das Verständnis eines „Lerncoaches“, der „ab und an vom Rand des Unterrichtsgeschehens eine Bemerkung macht“. Guter, empathischer Unterricht muß vor allem die Schülergemeinschaft formen bzw. bilden und interessant gestaltet sein, erfordert eine stringente Klassenführung und der Lehrer muß sich inhaltlich und strukturell in seinem Fach auskennen.

„Ein guter Lehrer darf keine Zeit mit unwichtigen Dingen verschwenden, und er muss rasch erkennen, wann er auf eine Störung mit Strenge und wann mit Humor reagiert. Noch höher auf der Hattie-Skala rangiert die “teacher clarity”, dass Schüler also verstehen, was der Lehrer von ihnen will. Beide Erfolgsbedingungen für einen gelungenen Unterricht werden stark unterschätzt. In der Pädagogenausbildung spielen sie kaum eine Rolle. Dabei gehen im Leben eines Schülers Wochen an Lernzeit allein damit verloren, dass Lehrer umständlich Arbeitsblätter verteilen. Ganze Stunden erweisen sich als wirkungslos, weil der Lehrer zu Beginn nicht klarmacht, worauf es in den nächsten 45 Minuten ankommt.“[1] Der Lehrer muß also ein kooperativer, bindungsbereiter Mitmensch sein, was weit über die Klassensituation hinausreicht.

Beim Verlassen des Dekanats klingen Gesangstöne an unsere Ohren und der Dekan geleitet uns zu einem mit traditionellen Musikinstrumenten und trachtenmäßig geschmückten Raum, in dem eine gemischte Studentengruppe Volkslieder im Chor singt. Wir werden, auch wenn wir kein russisch können, wie selbstverständlich in die Runde integriert.

Bei der Verabschiedung thematisieren wir unsere Vorstellungen eines grenzüberschreitenden Miteinanders: Indem wir uns austauschen, entsteht Freundschaft zwischen den Nationen: man muß miteinander ins Gespräch kommen. Allein wenn wir einander zuhörten, wäre schon viel gewonnen. Insofern fänden wir es auch gut, wenn man mehr auf Rußland hören würde. Diese Gedanken haben den Dekan sehr berührt. Wie seinerzeit bei der Aussöhnung mit Frankreich sollte der Schüleraustausch auch mit Rußland intensiviert werden. Mehr Verständnis für andere Nationen und Kulturen (die jeweilige Sprache eingeschlossen) könnten speziell aus der Bevölkerung heraus die Kriegsabenteurer in unserer Politik zurückdrängen. Wir brachten zum Ausdruck, daß wir empört darüber sind, daß unsere Politiker sich den Feierlichkeiten zum 75. Jahrestag der Befreiung Deutschlands durch Rußland verweigert hatten. Daran teilzunehmen wäre in der Tat ein wahres Stück Friedensarbeit gewesen – statt immer wieder US-amerikanische Eroberungs- und Zerstörungsfeldzüge zu rechtfertigen oder gar zu unterstützen.

© Ulrike und Werner Schramm, Höchstadt 11/2018


[1]             https://www.zeit.de/2013/02/Paedagogik-John-Hattie-Visible-Learning/seite-2

John Hattie* zum Klassenunterricht

von Renate Caesar, Dipl.-Pädagogin und Gymnasiallehrerin

Der vom Lehrer geführte Klassenunterricht wird heute von den ‚Reformern‘ abgelehnt.

Lehrer, die so unterrichten, werden gezwungen, ihre Unterrichtsmethoden in Richtung ‚Individualisierung‘ etc., zu ändern.

Die ‚Reform‘-Ideen, dass Schüler selbständig forschend, aufgabenbasiert, entdeckend, usw. lernen sollen und dass der Lehrer nur individualisierte Lerngelegenheiten für die einzelnen Schüler schaffen soll – d.h. Materialien verschiedener Schwierigkeitsgerade, Computerprogramme zum Abarbeiten in einer sogenannten ‚Lernumgebung‘ oder ‚Lernlandschaft‘, die Ähnlichkeit mit einem Grossraumbüro hat, bereitstellen – und sich ansonsten zurückhalten muss und nur minimal korrigierend intervenieren darf, sodass die Schüler ‘durch eigene Aktivität, durch Diskurs und Reflexion und Austausch von Einfällen mit anderen Lernenden Wissen erwerben und Bedeutung konstruieren sollen‘, sind laut Hattie dem sogenannten ‚Konstruktivismus‘ entlehnt und stehen den Ergebnissen seiner Analyse von 50.000 Studien fast diametral entgegen.

„The role of the constructivist teacher is claimed to be more of facilitation to provide opportunities for individual students to acquire knowledge and construct meaning through their own activities, and through discussion, reflection and sharing of ideas with other learners with minimal corrective intervention (…) These kinds of state- ments are almost directly opposite to the successful recipe for teaching and learning as will be developed in the following chapters.“ (John Hattie: Visible Learning, p.26)

Das bedeutet im Klartext, dass unsere ‚Schulreformer‘ , die ‚Reform‘- Machwerke wie den Lehrplan 21 propagieren, etwas vorantreiben, was zumindest nach Aussagen dieses Forschers keinerlei Sinn macht; denn weder das individualisierte Lernen, noch die heterogene und/oder altersdurchmischte Lerngruppe (ADL), noch die Verwendung elektronischer Geräte haben gemäss seinen Ergebnissen einen positiven Einfluss auf die Lernleistung der Schüler (vgl. Visible Learning, Appendix A)

Was hingegen für schulische Lernleistungen höchst wirksam ist, sind die Lern- und Unterrichts- formen „direct instruction“ und „reciprocal teaching“. Beide setzen einen engagierten, in seinem Fach total versierten, leidenschaftlichen Lehrer voraus, der im höchsten Masse aktiv – und direktiv (!) immer in Verbindung mit seinen Schülern steht, genau anleitet, erklärt, kleinschrittig das Gelernte bei allen Schülern überprüft und korrigiert und immer wieder die Schüler unter seiner Anleitung üben lässt, sodass sie schliesslich in der Lage sind, das Gelernte auch auf andere Aufgabenstellungen selbständig anzuwenden.

Genau das Gegenteil passiert heute vermehrt in unseren Schulen. Die Schüler sind sich selbst überlassen, erhalten keine Anleitung oder Erklärung, und die Eltern müssen zu Hause Hilfslehrer spielen.

Selbständigkeit ist das Ziel, nicht die Ausgangssituation des guten Unterrichts

Auf den nächsten Seiten fasse ich Hatties Aussagen zur „Direct instruction“, einer der wirksamsten Lehr- und Lernformen zusammen, die gemäss den von ihm gesichteten empirischen Untersu- chungen hohe Effektstärken, d.h. hohe Lernerfolge, ergab.

Vorab weise ich hierzu auf bedenkliche und folgenschwere Ungenauigkeiten bei der Interpretation und Übersetzung der Hattie-Studie hin:

„Jedes Jahr halte ich Vorträge vor angehenden Lehrern und stelle fest, dass sie schon mit dem Mantra: ‚Konstruktivismus ist gut, direktes Unterrichten (direct instruction) ist schlecht‘ indoktriniert sind. Wenn ich ihnen die Resultate dieser MetaAnalysen zeige, sind sie fassungslos und werden oft ärgerlich, weil man ihnen einen Set von Wahrheiten und Geboten gegen das direkte Unterrichten vorgesetzt hat.“ (John Hattie in Visible Learning, p. 204; Übersetzung die Verfasserin)

Hattie erklärt dann, dass diese Unterrichtsmethode von Kritikern immer wieder verwechselt wird mit einer Unterrichtsweise, die er “didactic teacher-led talking from the front“ (schulmeisterliches, vom Lehrer geführtes Reden von vorne) nennt. (Visible Learning, page 204, Übersetzung die Verfasserin.)

In W. Beywls und Klaus Zierers ‚besorgter‘ Hattie-Übersetzung ist dieser Ausdruck folgendermassen übersetzt: „kleinschrittiges, von der Lehrperson geleitetes Sprechen vom Lehrertisch aus“, (Beywl. Zierer, Lernen Sichtbar machen, S. 242.) Diese Übersetzung erscheint mir fragwürdig, denn das Adjektiv „didactic“ ist nirgendwo in der englischen Literatur und auch in keinem Wörterbuch mit „kleinschrittig“ übersetzt. Stattdessen hat es laut den Wörterbüchern die Bedeutungen: “belehrend“, „schulmeisterlich“, „lehrend“.

Ganz offensichtlich meint Hattie mit seinem zur Abgrenzung verwendeten Begriff „didactic“ also einen Unterricht, der allein vom Lehrer abgehalten wird, keinerlei Schüleraktivitäten verlangt und das Gegenteil von interaktiv ist. Das, so Hattie, ist nicht mit „direct instruction“ gemeint. In der deutschen Übersetzung von Beywl/Zierer wird „direct   instruction“   mit   „direkter Instruktion“ übersetzt. Ich ziehe es vor, von „direktem Unterrichten“ zu sprechen.

Aus Hatties Erläuterungen der “7 Schritte des direkten Unterrichtens“, in denen er sich vor allem auf die Studie ‚Adams and Engelmann, 1996‘ bezieht, wird deutlich, dass damit ausgerechnet das klassische Unterrichten als wesentlich hervorgehoben wird, das heutige Lehrer nicht mehr ausüben dürfen, wenn sie schlechte Noten in ihren MABs vermeiden wollen:

Der vom Lehrer geführte Unterricht mit der ganzen Klasse auf ein gemeinsames Lernziel hin

„Direktes Unterrichten umfasst 7 Hauptschritte“

(John Hattie, Visible Learning, p. 204 – 206)

John Hatties 7 Stufen des direkten Unterrichtens beschreiben meines Erachtens das, was jeder gute Lehrer seit mindestens den 70er Jahren im geführten Klassenunterricht – im Hin und Her des fragend entwickelnden Unterrichtsgesprächs mit anschliessenden Übungsphasen und Korrekturen – schon immer tat und noch tut. Falls man ihn denn lässt, und falls er es in seiner Ausbildung noch lernen durfte. Sie stellen das Gegenteil der ungeprüften „Reform“-Methoden dar, mit denen man heute Lehrer und Schüler plagt.

1. Klare Vorstellung von den Lernzielen

  • Bevor er die Lektion vorbereitet, soll der Lehrer eine klare Vorstellung von den Lernzielen haben, die er mit dem zu planenden Unterricht anstrebt. Was genau sollte der Schüler als Ergebnis des Unterrichts nachher können, wissen, verstehen und als wichtig empfinden?

2. Erfolgskriterien der erwarteten Leistung

  • Der Lehrer sollte wissen, was die Erfolgskriterien der erwarteten Leistung sind und diese den Schülern von Anfang an mitteilen.

3. Aufmerksamkeit des Schülers gewinnen

  • Als nächstes muss der Lehrer es schaffen, Engagement und Einsatzbereitschaft für die Mitarbeit bei den Schülern zu aktivieren. In der Terminologie des „direkten Unterrichtens“, sagt Hattie, spricht man gern von einem „Aufhänger“, um die Aufmerksamkeit des Schülers zu gewinnen. Das Ziel ist, die Schüler in eine empfangsbereite Geistes-/Gemütsverfassung zu versetzen, damit sie ihre Aufmerksamkeit auf die Lektion richten und sich die Lernziele zu eigen machen („share the learning objectives“).

4. Informationen vermitteln

  • Nun geht es darum, den Schülern die nötigen Informationen zu vermitteln, die sie für das zu Lernende brauchen; das können ein Vortrag, eine Erzählung, ein Stück Film, ein Tonband oder Bilder etc. sein. Der Lehrer kann auch das Beispiel einer gelungenen Arbeit vorlegen. Wichtige Teilbereiche und Aspekte werden durch Benennen, Vergleichen, Einordnen, Kategorisieren etc. zusammen mit dem Lehrer erarbeitet.

Es muss dann vom Lehrer erfragt und beobachtet werden, ob die Schüler das Vermittelte verstanden haben, („Whether students have got it“), bevor man weiterschreitet. Die Schüler müssen dann zuerst unter Aufsicht des Lehrers zeigen, wie man es richtig macht („practise doing it right“), bevor es ans selbständige Üben geht. Es ist unerlässlich, dass der Lehrer das sichert.

Wenn es Zweifel gibt, dass etwas nicht verstanden wurde, muss die zu vermittelnde Fähigkeit oder das Konzept noch einmal von vorne erklärt werden, bevor das Üben beginnt.

5. Üben unter der direkten Aufsicht des Lehrers

  • Dann kommt das angeleitete Üben („guided practice“). Hier müssen die Schüler die Gelegenheit bekommen, ihr Verständnis oder ihre Beherrschung des Neu-Gelernten zu demonstrieren und zwar, indem sie es unter der direkten Aufsicht („supervision“) des Lehrers tun: „Der Lehrer bewegt sich im Klassenzimmer, beurteilt den Lernstand und gibt Rückmeldung und individuelle Hilfestellung, wenn sie gebraucht wird.“

6. Die wichtigsten Punkte nochmals überprüfen, klären und zusammenfassen

  • Der Abschluss einer Lektion ist sehr wichtig: Er soll den Schülern helfen, die Dinge in ihrem Kopf zusammenzufügen, „ein kohärentes Bild zu formen und zu festigen, Verwirrung und Frustration beseitigen“. Er soll die wichtigsten Teile des Gelernten verstärken. Deshalb werden die wichtigsten Punkte nochmals überprüft, geklärt und zusammengefasst.

7. Selbständig üben

  • Nun erst, da sie das Gelernte beherrschen, sind die Schüler fähig, selbständig zu üben. Das kann in Form von Hausaufgaben, Gruppen- oder Einzelarbeit in der Klasse geschehen. Die gelernte Fertigkeit kann dann auch auf einen anderen Kontext angewendet werden. (Wenn man in der Unterrichtsstunde z.B. gelernt hat, aus einem Text über Dinosaurier Schlussfolgerungen zu ziehen, soll dann geübt werden, dasselbe auf einen anderen Text, z.B. über Wale, anzuwenden.)

Liebe Kollegen, Eltern, Mitstreiter gegen den Lehrplan 21,
Ist es nicht unglaublich, dass genau dieses erfolgreiche Vorgehen den Lehrern heutzutage quasi verboten wird?

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John Hattie

John Hattie

John Hattie, ONZM geboren als John Allan Clinton Hattie (* 1950 in Timaru), ist ein neuseeländischer Pädagoge. Seit 2011 ist er Professor für Erziehungswissenschaften und Direktor des Melbourne Education Research Institute an der University of Melbourne (Australien).[1] Zuvor war er Professor für Erziehungswissenschaften an der University of Auckland.

Arbeitsgebiet: In seinen Forschungen beschäftigt er sich vor allem mit Einflussfaktoren auf gelingende Schülerleistungen, mit Kreativität und Modellen des Lehrens und Lernens. Er ist ein Verfechter der evidenzbasierten, quantitativen Forschungsmethoden, um die Wirkungsfaktoren auf Schülerleistungen zu untersuchen.

Bekannt geworden ist John Hattie durch die Hattie-Studie, eine Meta-Analyse über Meta-Analysen, die er in seinem Buch Visible learning präsentierte. Er stellte Indikatoren für gute Schülerleistungen zusammen. Das Times Educational Supplement verglich das Werk mit der „Entdeckung des Heiligen Grals“.

Die Erkenntnisse werden bundesweit in den Fortbildungseinrichtungen der Bildungsministerien rezipiert, so z. B. im hessischen Amt für Lehrerbildung.[3] Bildungsminister Mathias Brodkorb kündigte im Oktober 2014 an, allen Lehrern in Mecklenburg-Vorpommern eine von Klaus Zierer im Auftrag des Schweriner Bildungsministeriums[4] verfasste Kurzfassung der Hattie-Studie zukommen zu lassen.

Im April 2013 erschien die deutschsprachige Ausgabe von “Visible Learning” unter dem Titel “Lernen sichtbar machen” und im Januar 2014 erschien die deutschsprachige Ausgabe von “Visible Learning for Teachers” unter dem Titel “Lernen sichtbar machen für Lehrpersonen”. Die Übersetzung „besorgte“ Klaus Zierer zusammen mit Wolfgang Beywl.

http://www.seniora.org/index.php?option=com_content&view=article&id=697:john-hattie-zum-klassenunterricht&catid=61&Itemid=286