Mit dem Landkreis in Polen 2007/08
Die „Schlesische Seele“ entdecken – Menschen in Polen sehen ihr Land am Scheideweg
Wernier Schramm
Tarnowitzer Kulturtage (Polen) im Mai 2007 eröffneten mit einem fulminanten Programm Brillierte zunächst am ersten Abend das Bubenreuther Streichquartet in Schloß Rybna, so gaben am Morgen danach mehr als 400 Jugendliche aus Bildungseinrichtungen rund um das öffentlich geführte Kulturzentrum Karolinka Standing Ovations für eine ungewöhnliche Theatergruppe. Die Theatergruppe der WAB Kosbach (Wohnen und Arbeiten), die in Erlangen und Höchstadt mehrere Häuser für Menschen mit Behinderung eingerichtet hat, zeigte im Rahmen der Tarnowitzer Kulturtage das pantomimische Stück „Anja und die vier Jahreszeiten – eine Traumreise nach der Musik von Antonio Vivaldi“. Das unter der Leitung von Hanne Rußmann und Christine Reymann, in Kooperation mit Bewohnern der Einrichtung, entstandene Stück wurde hinreißend gespielt. Jeder konnte seine sozialen Kompetenzen ausspielen und die Verschränkung von Musik, Bühnenbild und darstellerischem Ausdruck führte immer wieder zu Szenenapplaus. Die Besucher der Abendveranstaltung waren dabei genauso begeistert und es gab wie am Morgen immer wieder Szenenapplaus. Freundschaftlichen Applaus gab es auch für Bodo Steinheimer, stellv. Geschäftsführer der WAB, der die Zuschauer jeweils auf polnisch begrüßte. Auch kleine Gesten der Verständigung werden eben sehr genau wahrgenommen. Landrat Irlinger wie auch sein Kollege Korpak betonten die völkerverbindende Bedeutung der Kulturarbeit und dankten allen Mitgestaltern der Kulturwoche mit einem kleinen Präsent. Die Theatergruppe hat sich, so Landrat Irlinger, als „Brückenbauer in unsere Herzen“ erwiesen und damit ein vorbildliches Beispiel für die Förderung einer „Partnerschaft der Herzen“ gegeben. Diese Verbundenheit gelte es weiter zu vertiefen als „Teil unserer Versöhnungsarbeit“, denn grundsätzlich bewirken viele kleine Schritte einen Weg zum Frieden. Die Worte von Landrat Irlinger stießen bei den Besuchern der Veranstaltung auf große Zustimmung. |
Was wissen wir wirklich über unsere Nachbarn in Polen, was verstehen wir wirklich von der zunehmenden sozialen Not vor allem seit dem „Anschluß“ an den Westen, was kennen wir außer blöden Witzen und unerträglich überheblichen Stellungnahmen westdeutscher Politiker? Durch eine Reise nach Oberschlesien wollten einige Westdeutsche das entdecken, was dort die „Schlesische Seele“ genannt wird.
Eine Vorbereitung unserer Reise bestand darin, in einem westdeutschen Geschäft mehrere Pakete gemahlenen und vakuumverpakten Jacobs-Kaffee zu erwerben. Natürlich gibt es den mitlerweile auch „drüben“ – allerdings, so erfahren wir von polnischen Freunden, sei er von minderer Qualität und geschmacklich indiskutabel. Hinter der offenen polnischen Grenze schreit uns der Media-Markt mit riesiger grellbunter Reklame entgegen. Aber auch Lidl, Schlecker und Co. sind schon allhier. Und immer wieder Getreidefelder soweit das Auge reicht, unterbrochen von kleinen Dörfern mit Gebäuden, oft dem Verfall nahe. Später erfahren wir, daß beispielsweise holländische Firmen nach der Öffnung Polens riesige Ländereien aufgekauft haben, die Felder mit großen Maschinen bearbeiten lassen, die Feldfrüchte verladen, nach Holland bringen, sie dort verarbeiten und diese dann auch nach Polen zurückliefern. Einheimische, kleine Zuckerrübenfabriken wurden von westlichen Firmen aufgekauft und dann geschlossen – neue große Betriebe produzieren jetzt einen grobkörnigen Standardzucker. Nun kann man in Polen beispielsweise auch Bosch-Waschmaschinen kaufen. Die einheimische „weiße Ware“, die es vor der Öffnung zu kaufen gab, war zwar nicht „gestylt“ und etwas „klobiger“, aber funktionssicher und extrem langlebig. Die Importware heute, so erzählt man uns, wirkt hingegen störanfällig und erfordert möglicherweise relativ bald einen Neukauf. Der Westen hat mit einem nach der Wende aus der ehemaligen DDR bekannten Vorgehen gezeigt, wie die einheimische Wirtschaft zu exekutieren ist.
All dies erfuhren wir anläßlich unserer ersten Einladung am Abend unserer Ankunft in der Familie von einem unserer polnischen Freunde, der uns in folgenden den Tagen unseres Aufenthaltes begleitet und gedolmetscht hat. Wir merken bald, daß die polnischen Bürger den Ausverkauf ihrer Wirtschaft genau beobachten. Auf dem Weg zur Gastfamilie war uns eine neuerbaute Kirche in großzügiger Backsteinbauweise mit einer Dacheindeckung aufgefallen, die bei uns als gehobener Standard gilt. In Polen wird keine Kirchensteuer erhoben, die Spendenbereitschaft ist sehr hoch und zur Finanzierung der schmucken Kirche schränken sich die Gläubigen selbstverständlich finanziell ein. Im Kontrast dazu die anschließende Wohnsiedlung mit ihren Hochhäusern, die heruntergekommenen Trabantenstädten am Rande von Industrieansiedlungen bei uns ähneln. Der Außenbereich wird oft von Wohnungsbaugesellschaften mit Minimalaufwand verwaltet, die Wohnungen hingegen sind manchmal Eigentum und in der Regel sehr gepflegt. Die Aufnahme bei unserer Gastfamilie war überwältigend: Zunächst muß ein Besuch natürlich gut essen und das in der wörtlichen Bedeutung von reichlich. Eingebettet ist alles in Geselligkeit und familiärem Umgang, so wie es in den Großfamilien Tradition war und ist. Diese Herzlichkeit und Gastfreundschaft war unsere erste Begegnung mit der „schlesischen Seele“. Das Gemütliche, diese Atmosphäre der Zusammengehörigkeit war und ist charakteristisch für diese Lebensart, die jedoch durch die zunehmende Vereinzelung in Auflösung ist. Jeder gehörte zu einer Straßenbekanntschaft, einer Gemeinschaft, die Bekannte, Verwandte und vor allem die Großfamilie umfaßte. In einem Haus wohnten normalerweise zwei bis drei Generationen zusammen. Jeder war nicht nur für die Familie verantwortlich, sondern auch für die freundschaftlichen Bindungen zur „Straße“, in der man lebte. Im Unterschied zu heute kannte in der „Straße“ jeder jeden, man kannte einander von der Kirche her, war gegenseitig Taufpate. Traf man sich, so war das alles beherrschende Thema, wo und wie Dinge des Alltags – insbesondere Nahrungsmittel – zu bekommen waren. Ein Nachbar hatte Beziehung zu einem Metzger, ein anderer zu einem Lebensmittelhändler, konnte so Kaffee besorgen und so fort. Was ergattert werden konnte, wurde zwischen den Familien ausgetauscht. In der Regel gab es einmal im Monat in einer anderen Familie Kaffeeklatsch und so „lebte“ jeder beim anderen mit. Was sich geändert hat, was kaputt gegangen ist, können unsere Gastgeber benennen: Der Glaube verbunden mit Hoffnung, also die „Seele“ des Menschen, wird auf dem Altar des Materialismus geopfert. Auf der Strecke bleiben Moral, Anstand und die bereits skizzierten Werte der Verantwortung füreinander. Das liberalistische Programm, das ganz Europa im Griff zu haben scheint, dreht sich immer um die Frage, welchen Wert der einzelne Mensch hat. Wieviel kostet uns ein Kind, ein alter Mensch und am Ende werden Jung gegen Alt ausgespielt. Das scheinbar erwachte Interesse am älteren Menschen, wie es beispielsweise die Werbeindustrie vorgaukelt, ist nur vordergründig: Es geht dabei eben nicht um eine Aufwertung der Bedeutung des älteren Menschens für das Gemeinwohl, sondern um die Abschöpfung ihres Einkommens bzw. Vermögens.
Unsere Gespächspartner machen allerdings auch deutlich, daß aufgrund der zunehmend von außen „eingepflanzten“ monetären Einstellung in die Gesellschaft für ihn am Ende die Euthanasie an der älteren Generation stehe. Ohne „Liebe“, also ohne gelebte innere Verbundenheit miteinander, gebe es keine empfundene Zukunft, kein Leben, das subjektiv als lebens- und schützenswert empfunden wird. Diese Entwicklung sei bereits im ganzen übrigen Westeuropa zu beobachten. Eigentlich könnten die Länder Europas einen Strauß verschiedener gleichwertiger kultureller Qualitäten im breitesten Sinne darstellen. Statt dessen werde alles US-EU-uniform und damit egal gemacht. Nachdenklich fahren wir in unser Hotel zurück.
Am nächsten Morgen, ein Sonntag, fuhren in eine Siedlung, die zu einem ehemaligen Hüttenwerk gehört. Entlang der Straße befindet sich zwischen Gehsteig und Haus jeweils ein kleiner Rasenstreifen mit einer niedrigen Mauerbegrenzung und hölzernen Sitzgelegenheiten. Meist sitzen hier junge und ältere Frauen mit Kaffeebechern und unterhalten sich. Unser Begleiter erklärt einer solchen Gruppe, daß wir das frühere Wohnhaus einer Familie suchen, die Mitte der 50er Jahre aus Polen ausgereist ist. Plötzlich wechseln einige ältere Frauen in die deutsche Sprache. Tief sitzt immer noch die unter der kommunistischen Herrschaft erzwungene Unterdrückung der deutschen Sprache. Eine alte Frau erzählt, daß einmal eine sehr gut polnisch sprechende Mutter und ihr kleiner Sohn auf einen Polizisten trafen. Der Junge konnte nur deutsch, noch kein polnisch und gab sich plötzlich stumm wie ein Fisch. Die Mutter hatte ihm eingeschärft, zu schweigen, sobald sie auf Fremde trafen. Es war kurz nach 1945 lebensgefährlich, in irgendeinen Zusammenhang mit Deutschen gebracht zu werden.
Nach dem Krieg zog ein sich auf eine weit zurückliegene feudale Geschichte berufender polnischer Nationalismus ein, für den Oberschlesien schon immer ein „urpolnisches“ Gebiet war und das nun „gerechtigkeitshalber“ wieder zu Polen gehörte. Aus diesem Grund wurde unabhängig vom Kommunismus von den neuen Machthabern ein Verbot unterstützt, in der Öffentlichkeit deutsch zu sprechen. Die verbliebene deutsche Bevölkerung bezeichnete die Propaganda von den „urpolnischen Gebieten“ als „polnische Wahrheit“. Die Polarisierung zwischen polnischen und deutschen Bürgern hatten sowohl die nationalsozialistische Hetze als auch der Krieg bewirkt, denn vorher wurde sowohl polnisch als auch deutsch gesprochen. Unter Hitler mußten Polen in Oberschlesien ein Stoffdreieck mit einem großen „P“ tragen. Nach dem Krieg durften bis etwa 1948 Deutsche aus Schlesien ausreisen, danach mußten alle Facharbeiter bleiben. Die „Polnisierung“ bestand vor allem auch darin, aus den verbliebenen Deutschen „Polen“ zu machen. Es gab für die Deutschen keine Personalausweise, sondern lediglich „Ausweise mit vorübergehender Gültigkeit“ und keine polnische Staatsbürgerschaft. In vielen Familien gab es Mitläufer aus der NS-Zeit und die Gefängnisse und Lager waren voll mit Häftlingen, die beweisen mußten, nicht mit den „Nazis“ gemeinsame Sache gemacht zu haben oder gegen die Kommunisten eingestellt zu sein. Die Mutter unseres Gastgebers wurde von den Behörden dahingehend bedrängt, ihr Kinder namentlich polnisch werden zu lassen. Wenn sie ihren im Gefängnis sitzenden Mann wiedersehen wolle, dann eben nur durch eine Gegenleistung. Ja, so erzählt man uns, deutsche Vornamen mußten beispielsweise in polnische geändert werden, aus Johannes wurde Jan, aus Adolf-Horst wurde Andre und aus Renate wurde Irena. Hans oder Hannes war ein gebräuchlicher deutscher Vorname und so wurden im polnisch-schlesischen Sprachgebrauch die Deutschen allgemein als „Hannesse“ bezeichnet. Die Deutschen revanchierten sich, indem sie die Polen „Gorolle“ nannten: Die Bergbewohner, die Komischen aus dem Osten.
Wir fahren durch eine Siedlung im ehemaligen Grubenbereich. Alle Häuser sind mit Eisenankern horizontal durchs Haus gegen Auseinanderbrechen gesichert, an den Fassaden führen in regelmäßigen Abständen Eisenschienen bis zum Dach, die ebenfalls durchs Haus hindurch miteinander verbunden sind – der Untergrund längst geschlossener Gruben „arbeitet“ immer noch. Der Verfall der Häuser ist weit fortgeschritten. Anwohner erzählen, daß die Stadt die Wohnungen den Mietern (bei uns würde man von sozial Schwachen sprechen) zum Kauf angeboten hat, damit sie sie nicht sanieren muß. Dann biegen wir um ein Ecke und sehen an einem Treppenaufgang zum Haus Schrottteile. Vor allem Kinder und Jugendliche ziehen los und schlagen in verfallenen Häusern und Fabrikruinen Rohre oder Eisenträger aus Mauerwerk und Decken. Nicht ungefährlich, aber es bringt etwas Geld. Einige hundert Meter weiter sehen wir ein Mehrfamilienhaus in leichter Schräglage, die Straße scheint plötzlich wie in der Luft zu enden. Das Gelände, so erfahren wir, hat sich durch Grubenverwerfungen um mehr als 35 Meter abgesenkt. Ein großes Gewerbegebiet mit Reparaturwerkstätten und anderen entsprechend genutzen Gebäuden ist nun von einem See überflutet, nur noch vereinzelt ragen Seitenwände der Ruinen aus dem Wasser. Die Straße lag zum Glück am Rand des Gebiets, so daß sie noch benutzbar ist.
Wir fahren zu einem ehemaligen Stahlwerk. Die ehemals in Staatsbesitz gut arbeitenden Hüttenwerke läßt die staatliche Verwaltung nun verfallen, damit der Marktwert sinkt und irgendwann sind Anlagen reif für den Abriß. Zu einem Bruchteil des ursprünglichen Wertes wird dann an ein ausländisches Konsortium verkauft, dem es lediglich um einen billigen Bodenpreis geht. So hat diese Stahlhütte in einer kleineren Stadt in Oberschlesien statt einst 5000 heute nun nur noch 500 Arbeiter, die den noch geldbringenden Kokereiteil aufrechterhalten. Auf einem Schild an verrosteten Rohrleitungen über der Straße kann man ein Angebot lesen: Auf dem Gelände können Abfälle aller Art gelagert werden. Ein Kran fährt geschäftig hin und her, weißer Nebel steigt aus dem Boden.
Auffällig in dem ehemals dazugehörigen Häuserviertel sind die vielen Schnapsbuden, die von früh bis spät geöffnet haben und aus denen Gestalten mit vollen Plastiktüten kommen. Unser Begleiter wird von einem reichlich alkholisierten Mann angesprochen, der ihm gegen ein paar Zloty seinen „Garten“ zeigen möchte. Natürlich gehen wir darauf nicht ein und erfaren von einigen noch halbwegs nüchtern wirkenden Männern, daß in dem Viertel nur noch Polen leben. Nach 1945 waren im Zuge der Westverschiebung der polnischen Grenzen durch Rußland die Deutschen bis auf wenige Ausnahmen – manche Techniker wurden noch gebraucht – vertrieben und ihre Häuser samt der zurückgelassenen Habe von Polen übernommen worden. Die Stadt hat nun ein früher von Deutschen bewohntes Viertel zum Slum verkommen lassen und hierhin all die gepfercht, die anderswo entweder ihre Miete nicht mehr bezahlen konnten oder länger arbeitslos und damit sozial bedürftig waren bzw. sind. Es sind Menschen am Rand der Gesellschaft, ohne jede Pespektive. Schnell sind wir umringt von Kindern, schmutzig und mit hohlem Blick, die Väter lagern apathisch an einem Treppenaufgang und betrinken sich. Als wir zwei Stunden später an den gleichen Ort zurückkehren, weil wir die Adresse einer alten Frau bekommen haben, die etwas über die Geschichte des Viertels erzählen könnte, ist die Stimmung gereizt und wir machen, daß wir verschwinden. Natürlich wohnen im Viertel auch Familien, die Miete zahlen können, die trostlosen Zustände überrollen allerdings auch sie und zu ihrem Verdruß werden sie mit den vielerorts alkoholisierten Familienvätern und Müttern in einen Topf geworfen und als „asozial“ abgestempelt.
Später erzählt man uns, daß bei Deutschen, die in den späten 70ern aus Polen weggegangen sind oder die bleiben mußten, sich die Vorurteile halten: Man schaut auf die Polen herunter, die „keinen Biß haben“, die sich „um nichts kümmern“ und während wir eine Straße mit Häusern einer ehemaligen Grubensiedlung hinuntergehen, fällt einerseits auf: Kaputte Fenster wurden einfach zugemauert, die Dachziegel haben verschiedene Farben und bei manchen Häusern hat jede Etage ihre Fenstereinfassungen in einer anderen Farbe. Also: Vorurteil bestätigt? Mitnichten, denn die Gründe sind vielfältig. Vor der „Wende“ waren beispielsweise Häuser in städtischem Besitz etagenweise vermietet. Gab es nun gerade eine besonders billige Farbe, wurde eben die in großen Mengen von Mietern gekauft und die Fenstereinfassung damit gestrichen – gleichgültig, ob sie als Fassadenfarbe taugte. Nach der „Wende“ wurden viele Häuser den ursprünglichen Eigentümern zurückgegeben, die Farbgebung blieb manchmal aus Kostengründen erhalten, bei manchen Häusern wurden aber auch Fassadenornamente farbenprächtig hervorgehoben.
Der bauliche Zustand der Häuser in von uns besuchten Siedlungen mit sogenannt sozialschwacher Bevölkerung ist schlecht. Der Putz an Außenwänden ist genauso lückenhaft wie in den Treppenaufgängen. Toiletten auf dem Gang sind keine Seltenheit und Namensschilder oder gar einen Klingelknopf sucht man auch oft vergebens. Statt dessen tragen die Wohnungstüren Nummern, haben einen Türspion und Sicherheitsschlösser – die Kiminalitätsrate ist in solchen Siedlungen hoch. Unser Begleiter kennt die Wohnungsnummer für unseren nächsten Besuch. Wir klopfen heftig, denn die Sicherheitstür geht nach außen auf, dahinter erst liegt die eigentliche Wohnungstür. Auch in dieser Wohnung war alles schön und gemütlich eingerichtet. Kein Ikea-Schnickschnack, sondern gepflegte Gediegenheit. Eigentlich hatten diese Gastgeber bereits zwei Tage vorher mit uns gerechnet, dennoch stellt die Frau des Hauses eine Platte mit drei verschiedenen Kuchen nach schlesischen Rezepten auf dem Tisch. Schnell sind wir bei Themen, die viele polnische Bürger beschäftigen. Vor dem 2. Weltkrieg konnte ein Arbeiter oder Handwerker in einem oberschlesischen Betrieb mit seinem Lohn eine mehrköpfige Familie ernähren und die Miete zahlen. Unser Gastgeber erzählt, daß in dieser Dreizimmerwohnung bis weit in die Nachkriegzeit hinein zwei Erwachsene und vier Kinder wohnten. Heute kann eine Familie in der Regel nicht mehr von einem Einkommen leben. Wer Arbeit hat, verdient im Durchschnitt umgerechnet 400 – 500 Euro. Eine Familie kann davon nicht leben und eine 3-Zimmerwohnung kostet etwa 150 Euro, also müssen manchmal vier Personen auf 50 qm leben. Die Zahl der sogenannten „Eurowaisen“ wird auf etwa 2,5 Millionen geschätzt, d.h. ihre Eltern sind aufgrund des Arbeitsplatzabbaus und der Betriebsschließungen gezwungen, in Deutschland, Irland oder Spanien zu arbeiten und die Kinder leben dann oft jahrelang bei Verwandten oder Bekannten. In die Fremde gehen die Eltern mit einen tiefen seelischen Schmerz, ihre Heimat, ihre Kinder zurücklassen zu müssen. Man erzählt uns, daß Menschen diesen Zustand der Arbeitslosigkeit, der Diebstähle und der Gewalt als Chaos empfinden und nicht wenige – so eine kundig wirkende ältere Frau beim Kaffee – wünschen sich für Polen wieder einen Führer, damit das „Chaos“ ein Ende habe.
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Wir erfahren auch: Der Anschluß Polens an die EU offenbart sich als Raubzug, wenngleich traditionell halt- und orientierunggebende Solidargemeinschaften wie die katholische Kirche und die Familie noch nicht ganz geschliffen sind. Aber Polen steht an einem Scheideweg, sagen unsere Gesprächsspartner, denn die mit Macht hineindrängenden medialen Einflüsse mit ihren Gewaltdarstellungen nebst den Abwanderungszwängen zerstören das bislang haltgebende Wertgefüge bei Kindern und Erwachsenen. Diesen haltgebenden „Fundamenten“ – das sind Glaube, Kirche und Familie mit ihren tradierten moralischen Wertvorstellungen – stehen starke, am ‚american way of life’ orientierte politische Interessen gegenüber, so berichtet man uns, und diese arbeiten an der Zerstörung der Familie. Die katholische Kirche Polens wirkt allerdings immer noch als starkes Band für Gemeinschaft, Solidarität und Verbundenheit.
Demokratisches Bewußtsein setzt einen gesellschaftlichen Grundkonsens voraus, der von Generation zu Generation neu erarbeitet und weitergegeben werden muß. Eine am Materialismus orientierte Gesellschaft, in der alle Aktivitäten nach finanziellem Nutzen bewertet werden, zerbricht daran: Was kostet ein Kind, ein alter Mensch? Und am Ende steht die Entsolidarisierung, die Vereinzelung, regen sich über die „Entsorgung“, Ausgrenzung der Schwachen nur noch wenige auf. Die öffentliche Hand führt zwar gemeinsam mit Schulen auf Landkreisebene Projekte durch, die beispielsweise auch durch die Caritas initiiert werden, um junge Leute zur Übernahme von sozialer Verantwortung anzuleiten und gleichzeitig Jung und Alt miteinander zu verbinden. Wenn aber der familäre und religiöse Rückhalt auf anderen Wegen zerschlagen wird, sind die Kinder und Jugendlichen den hineindrängenden Drogenverkäufern und massenmedialen Versuchungen schutzlos ausgeliefert. Ja, sagt ein Gesprächspartner bitter, was der Wehrmacht nicht gelungen ist, wird nun durch die „Öffnung“ des Landes hin zur EU ermöglicht
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Mediamarkt, Saturn – überall schreien die Plakate ihre Sonderangebote den Menschen entgegen. Aber wovon zahlen, wenn der Monatsverdienst gerade nur reicht, weil Mann und Frau arbeiten gehen. Unser Gastgeber geht beim Abschied mit uns zum Hauseingang und zeigt auf ein Plakat: Kredit! Solche Plakate hängen in vielen Hauseingängen und sollen die Bewohner verleiten, den informationstechnischen „Gerätepark“ auf Pump zu kaufen – für viele eine Schraube ohne Ende. Polen soll zudem eurokompatibel gemacht werden, indem der Kurs Euro/Zloty künstlich so verändert wird, daß der Zloty aufgewertet erscheint. Dadurch soll bei der Umstellung auf Euro die Verarmung der Bürger nicht so kraß erscheinen. Und von welchem Geld hat der polnische Staat mehrere F-16 Kampflugzeuge von den USA gekauft, aber nur zwei bis drei Piloten für diese komplizierten Maschinen? Ausbilden will die amerikanische Luftwaffe weitere polnische Piloten allerdings nicht und so dienen teure F-16 nun als Ersatzteillager für die anderen Maschinen. Nein, weder diese noch amerikanische Horchposten oder gar Raketen gegen Osten will auch niemand in Polen, da werden unsere Gastgeber sehr heftig. Und sie wiederholen es immer wieder: Was schwer wiegt und den Aussöhnungsprozeß mit unseren östlichen Nachbarn, die extrem unter dem deutschen Stiefeltritt gelitten haben, erschwert, ist die Be- bzw. Abwertung Polens in der deutschen Außenpolitik. Die Arroganz nicht nur deutscher Spitzenpolitiker den Wahlergebnissen und außenpolitischen Entscheidungen der polnischen Bevölkerung gegenüber wecken – zu Recht – bei dieser mehr als unangenehme Erinnerungen. Polen wurde für sie durch die EU-Mitgliedschaft militärisch-wirtschaftlich ins „europäische Reich“ einverleibt. Aber da sei von der Bevölkerung in Polen aus das letzte Wort noch nicht gesprochen, versichert man uns glaubhaft – hoffentlich.