Auch 2020 noch immer hochaktuell Höchstadt, im Sommer 2009 Bürgergespräch: Fachärzte schlagen Alarm Bedrohung des sozialen Friedens Niedergelassene Facharztpraxen vor dem Aus? „Seit 1. Januar 2009 ist eine erneute Gesundheitsreform eingeführt. Diese führt nun nachweislich durch eine Vergütung in Euro und nicht in der ehemaligen „Muschelwährung“ („Punkte“ ohne Bezug zum Euro Wert) zum Ruin der Fach- und auch Hausärzte“ (Dr. Willauschus). Fachleute kamen zum Bürgergespräch: Dr. Willauschus vom Berufsverband der Fachärzte für Orthopädie und Unfallchirurgie Oberfranken (BVOU), sowie Facharztkollegen und Apotheker. Die Unzufriedenheit der bayerischen Ärzte mit der berufspolitischen und der Honorarsituation ist weiter zunehmend. Außerdem wird seit längerem durch tendenziöse Medienberichte Stimmung gegen Fachärzte gemacht. Sind am Ende Patienten gegen Ärzte ausgespielt und ist unsere weitgehend flächendeckende, gute fachärztliche Versorgung erst einmal ruiniert, könnte es vor allem für sozial schwächere Patienten ein böses Erwachen geben! Die fachärztliche Patientenversorgung etwa von Orthopäden beträgt gegenwärtig für Kassenpatienten 29,28 Euro pro Quartal – unabhängig von der Anzahl der Besuche. Entlassung von langjährigen Mitarbeitern in den Praxen, drastische Leistungseinschränkungen mit Qualitätseinbußen und erheblichen Wartezeiten für Patienten sind zu erwarten. Was bringen rein private medizinische Versorgungszentren (MVZs) mit angestellten Ärzten, was eine Orientierung in der Politik am amerikanischen Gesundheitssystem? | |
Dr. Hans-Ulrich Neglein, Handchirurg, Forchheim Dr. Wolfgang Willauschus, Orthopäde, Bezirksvorsitzender des BVOU Oberfranken Werner Schramm, Aischtaler Fiilmtheater Dr. Eike Schuster, Orthopäde, Forchheim Stefan Grunert, Urologe, Herzogenaurach Dr. Peter Schmied, Internist, Regionaler Vorstandsbeauftragter, Kassenärztliche Vereinigung Bayerns Dr. Margarete Schmitt, Radiologin, Höchstadt | |
„Wir Bürger haben es satt, als bloße Kostenfaktoren angesehen zu werden“ Im Aischtaler Filmtheater konnten Fachärzte und Bürger miteinander das Zauberwort der„Integrierten Versorgung“ im Gesundheitswesen diskutieren. Wenn es so weitergeht, werden Facharztpraxen in absehbarer Zeit schließen müssen. Wenn dabei alle Fachärzte in Bayern nur eine Helferin entlassen, haben wir 10.000 Arbeitslose mehr. In einem per Video eingespielten Vortrag macht Prof. Lauterbach konzeptionell deutlich: Der Gesundheitsmarkt werde immer enger und die Facharztpraxen der 45-55-jährigen Ärzte („Leistungserbringer“) seien in der Regel verschuldet. Sie wissen, daß sie ihre Praxen in 10-15Jahren nicht mehr gut verkaufen können. Folglich sei dadurch die Bereitschaft höher, sich in eines der neu einzurichtenden „Medizinischen Versorgungszentrum“ (MVZ) zu integrieren. Dr.Willauschus malte für Höchstadt folgendes durchaus nachvollziehbare Szenario: Das Krankenhaus könnte schließen, weil sich die Fallpauschalen nicht mehr rechnen, es nicht mehr „rentabel“ arbeiteund wird etwa in ein Alten- oder Pflegeheim umgewandelt. Im Ort verbleiben einige praktische Ärzte und Gemeindeschwestern, die ggfs. nach Erlangen ins MVZ überweisen. Dort arbeiten angestellte Ärzte wie einst in der Polikliniken der DDR ihre Fälle herunter und wenn die Sprechzeiten um sind, müssen die Patienten eben am nächsten Tag wiederkommen. Also: Kein Arzt des Vertrauens mehr und keine freie Arztwahl. Auch das ist bereits Realität für die sozial Schwachen – in den von Prof. Lauterbach gelobten USA. Der dort wie hier propagierte „freie Markt“ des „Wettbewerbs“ ist unmenschlich, weil er auf dem (monetären) Recht des Stärkeren basiert. Zynisch gesagt: Wenn eine Arztpraxis schließen muß, dann hat sie das verdient, weil sie eben nicht marktgerecht gearbeitet hat – so einfach neoliberal ist das. Dr. Willauschus machte auch deutlich, daß er sein Auskommen auch im Ausland finden werde. Leidtragende des Abbaus im Gesundheitswesen seien die Patienten. Das sei nur dort noch nicht angekommen.
Prof. Lauterbach weiter: Die Kassen werden ihren Gewinn nicht mehr mit den Gesunden machen, sondern mit den „Krankheitsepisoden“ derer, die eine der künftig gültigen 80 Krankheiten haben. Also der Patient mit der teuren Krankheitsepisode bringt dann den Gewinn, wenn die Leistung entsprechend kostengünstig erbracht werden kann. Jeder, der nicht eine dieser 80 Krankheiten hat, gilt als gesund und ist auch so versichert, bekommt also im Falle einer Erkrankung also nur einen reduzierten Satz. Pech gehabt. Das gesamte Kostenrisiko wird so auf den Anbieter, also den Facharzt, verlagert. Er muß eben entsprechend anbieten oder er geht unter.
Deutlich vermerkten Anwesende, daß dahinter das neoliberale Konzept der Politikberater von Bertelsmann mit „Gesundheitsmonitor“ und privatisierten Kliniken stecke, denn diese decken dann auch den ambulanten Bereich ab. Der Mensch wird durch ein reines Kosten-Nutzen-Kalkül jedoch seiner Würde beraubt, denn Freiheit geht nicht ohne Gerechtigkeit. Darin waren sich die Besucher einig. Zitiert wurde auch Norbert Blüm, der davor warnt, daß „Deregulierung, Wettbewerb und Kostensenkung“ auf die „Zerstörung eines gemeinwohlorientierten Staates und seiner öffentlichen Aufgaben“ hinauslaufen. Prof. Lauterbach sieht die Niederlande als ein Vorbild an. Aus dem Publikum wurde darauf hingewiesen, daß seit der Einführung der Euthanasie in Holland 1994 immer mehr alte Leute Angst haben, zum Arzt oder ins Krankenhaus zu gehen. Tausende auch von älteren Menschen sind, so die Deutsche Hospizstiftung, bislang unfreiwillig getötet worden – weil es sich nicht „mehr lohnt“.,nicht mehr „rechnet“, weil sie dement sind. Schon vergessen? Die Bayerische Landesverfassung sieht vor, daß „selbständige Kleinbetriebe und Mittelstandsbetriebe … gegen Überlastung und Aufsaugung zu schützen (sind). Sie sind in ihren Bestrebungen, ihre wirtschaftliche Freiheit und Unabhängigkeit sowie ihre Entwicklung durch genossenschaftliche Selbsthilfe zu sichern, vom Staat zu unterstützen“. Auch dadurch wurde klar,daß die Politik gefordert ist, sich endlich wieder um unser aller Wohl statt das von Kapitalmärkten und Rendite-Hedge-Fonds zu sorgen.