16 Jahre (1967)Nach der Kurzgeschichte von Erich Junge LEV CDG 1967

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Sechzehn Jahre… Textgrundlage

Erzählung von Erich Junge

17. Juli 1952, 8:00 Uhr

AUS DERZEIT NR. 29/1952

 

Sechzehn Jahre… – Seite 1

Martin kam herein und legte das Taschenmesser auf den Tisch. Es war ein schönes Messer, mit dunkelbraunen Hornplatten, einer großen Klinge, einer kleinen Klinge, einem Korkenzieher und einem Glasschneider.

“Gefällt es dir?” sagte Martin. “Es ist ein fabelhaftes Messer”, sagte Bastian. “Ein ganz prima Messer ist das.” Er wog es in der Hand, öffnete es und prüfte die Schneide der langen, glänzenden Klinge.

“Du kannst es gebrauchen?” sagte Martin. “Natürlich”, sagte Bastian, “ich hätte selbst kein besseres finden können. Ist noch etwas übriggeblieben?” fragte er.

“Hier sind zwei Mark dreißig”, sagte Martin, “es hat zwei Mark siebenzig gekostet.”

“Dann wollen wir gehen”, sagte Bastian.

“Du bist also immer noch fest entschlössen?”

“Ich mache mich nicht lächerlich”, sagte Bastian. “Ich habe den Entschluß gefaßt und nun führe ich ihn aus.” – Seine Mutter kam herein. “Mama”, sagte er und küßte sie auf die Stirn, “ich geh noch ein bißchen fort, mit Martin.” Er war fast einen Kopf größer als seine Mutter. Er legte seinen Kopf in ihr Haar, schönes, welches, Funzel. “Zwei Korn”, sagte Bastian. Sie setzten sich. Es war ganz leer. Der Wirt kam hinter der Theke hervor. Bevor er die Gläser auf den Tisch stellte, wischte er sie an seiner blauen, speckigen Schürze ab. Der Korn war hell und durchsichtig wie Wasser. Er brannte im Hals. Sie tranken noch einen. “Geben Sie uns den Koffer”, sagte Martin, als er bezahlte. “Ich habe heute morgen einen Koffer hier untergestellt.” Der Wirt holte den Koffer unter der Theke hervor.

Sechzehn Jahre… – Seite 2

Sie gingen nach draußen. Es war schon fast dunkel. Auf dem Wasser schwammen Papierreste, Holzstücke, und große, buntschillernde Ölflecke. Eine Sirene schrie. Und der Wind knarrte in den Takelagen der Schiffe.

“Es ist doch ein Finne”, sagte Bastian. – “Ja”, sagte Martin, “es ist eine finnische Reederei. Ich habe gehört, daß er gegen acht auslaufen soll. Ein Matrose hat es heute morgen erzählt. Sie gehen nach Malmö und dann, rauf nach Helsinki.”

“Jetzt ist es dunkel”, sagte Bastian. “Ich glaube, ich muß jetzt rüber.” – “Wenn du wirklich willst, mußt du wohl jetzt rüber”, sagte Martin.

Sie stiegen in das kleine Boot, das Martin am Morgen besorgt hatte. Bastian setzte sich vorn hin, Martin hinten. Martin ruderte. Das Boot schaukelte stark und es dauerte eine Weile, ehe sie von der Mauer loskamen.

“Ich möchte ihr Gesicht sehen”, sagte Bastian plötzlich, “ihr Gesicht, wenn sie es erfährt.” Und nach einer Weile: “Ob sie sich was antun wird?”

“Sie liebt dich doch”, sagte Martin. Er ruderte schwer gegen den Wind und gegen das Wasser, das immer zur Mauer drängte. Sie schwiegen und hatten weiße Gesichter. Es war so dunkel, daß ihre Gesichter wie weiße Flecken in der Dunkelheit waren.

Der Schiffsrumpf war groß und schwarz und schien bis in den Himmel zu reichen. Bastian faßte sofort nach der Strickleiter. Das Schiff hatte einen neuen Anstrich bekommen. Die Leiter war noch nicht eingezogen. Martin reichte Bastian den Koffer. “Aber das Messer kannst du doch gut gebrauchen”, sagte Martin. Er sagte es, nur um etwas zu sagen. “Es ist ein fabelhaftes Messer”, sagte Bastian. Jetzt fiel es ihm schwer. Es fiel ihm so schwer, daß er kaum sprechen konnte. Er gab Martin einen Brief. Beinahe wäre der Brief ins Wasser gefallen. “Gib ihn ihr morgen”, sagte er. “Morgen bin ich schon weit.” Es kamen ihm Tränen. Er wollte die Tränen nicht zeigen. Er wandte sich um und stieg langsam nach oben.

Sechzehn Jahre… – Seite 3

“Hör zu”, sagte Martin, “sie haben hinter dem Eingang, wo es zum Maschinenraum runtergeht, einen kleinen Verschlag, da liegen Taue und Ketten und Segelplane. Ich habe den Matrosen ausgehorcht, heute morgen. Ich würde da reingehen.” – “Das ist gut”, sagte Bastian, “das ist bestimmt gut.” Er war schon ein Stück auf der Leiter nach oben geklettert. Er war gar nicht zu sehen. Nur wenn er nach unten blickte, dann sah Martin einen weißen Fleck, Bastians Gesicht. Dann trieb das Boot ab.

Als Martin in die “Ewige Lampe” kam, war sein Mantel ganz naß. Ein starker Regenschauer hatte ihn noch auf dem Wasser, überrascht. Es saßen jetzt ein paar Männer an den Tischen. Ein Neger war darunter. Martin erkannte ihn sofort wieder. Er war Koch auf dem Finnen. “Mister Jim”, sagte der speckige Wirt hinter der Theke zu dem Neger, “es ist Zeit, Sie müssen an Bord.”

“Hallo”, sagte Martin.

“Hallo”, sagte der Neger.

“Herr Wirt, zwei Korn, für Mister Jim und für mich”, sagte Martin. Sie tranken. Dann gingen sie zusammen nach draußen. “Allright”, sagte der Neger, als er ins Boot stieg, und sein weißes Gebiß leuchtete. Er lachte.

Martin lehnte sich gegen einen Schuppen. Er wartete. Auf dem Finnen hatten sie Positionslichter gesetzt, und die beiden Hafenschlepper drehten mit halber Kraft bei.

Es dauerte nicht sehr lange, da kam das Boot zurück, und Martin konnte deutlich das weiße Gebiß des Negers erkennen.

Sechzehn Jahre… – Seite 4

Es fiel Martin sofort auf, daß Bastians Gesicht merkwürdig entspannt war. Es hatte die krankhafte Blässe verloren. “Dieser Nigger”, sagte Bastian, “dieser verdammte Nigger. Jetzt glaube ich es, daß Neger einen sechsten Sinn haben. Die riechen so etwas.”

“Hat er dich rausgeholt?” fragte Martin. – “Ja, er tat so, als ob er etwas in dem Verschlag suchte. Aber ich habe genau gemerkt, daß er mich suchte. Der hat mich bestimmt gerochen.”

“Du hast Pech gehabt”, sagte Martin. “Es war ausgesprochenes Pech.” – “Glaubst du?” – “Ja, es war nur Pech, einfach Pech. – “Aber er war doch ein anständiger Kerl”, sagte Bastian. “Er ist gar nicht mit mir zum Kapitän gegangen. Er hat mich gleich wieder zurückgerudert.” – “Du hast keine Schuld”, sagte Martin. “Du hast deinen Entschluß ausgeführt, bis zur letzten Konsequenz. Daß es nicht geklappt hat, war nicht deine Schuld.”

“Weißt du”, sagte Bastian plötzlich und sein Gesicht war nicht mehr blaß und es sah nicht mehr unglücklich, sah beinahe glücklich aus. “Weißt du, als ich in dem Verschlag hockte, da mußte ich immer daran denken, daß du mir erzählt hattest, sie hätte miserabel ausgesehen. Immer mußte ich daran denken. Warum, meinst du, hat sie so schlecht ausgesehen?” – “Sie liebt dich doch”, sagte Martin. “Ja”, sagte Bastian, “das ist es wohl gewesen.”

“Der Brief”, sagte Martin, “hier ist der Brief.”

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