Tübingen nach Stes. Maries de la Mer

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Aufbrüche ans Mittelmeer und neue Eindrücke

Zwei ehemalige Schulfreunde von Martin waren nach Metzingen gegangen – weniger zum Studieren, als vielmehr, um ein Leben der Bohėme zu führen. So schlugen sie und mit ihnen eine Clique langhaariger, folglich sogenannt fortschrittlicher Kommilitonen, vor, doch einmal an Pfingsten zum sogenannten „Zigeunerfest“ nach Stes. Maries de la Mer in die Camargue zu fahren. Kurzfristig reisten Martin und Wilfried nach Metzingen, um die Details zu besprechen. Eigentlich waren in der Woche nach Pfingsten die Seminare geschlossen, nicht jedoch schon am Freitag vorher. Martin hatte an diesem Termin zwar Seminar und sollte auch ein wesentliches Referat zur Entwicklungspsychologie halten, gab aber seinen Teil des Vortrags in die Arbeitsgruppe und ließ über Mitstudenten dem Dozenten jedoch ausrichten, daß er einmal Abstand und eine Woche Mittelmeer bräuchte. Es soll wohl etliche Lacher im Seminar gegeben haben.

Martin hatte zu Beginn des Studiums noch alte Kontakte zu alten Schulfreunden, fühlte er sich doch in Bonn noch nicht so richtig angekommen. Er traf an Wochenenden in Köln oftmals Wilfried, der dort Medizin studierte. Eines Samstagnachmittag holte Martin Wilfried in dessen Studierstube ab. Wilfried hatte gerade eine Suite Anatomie zu lernen gehabt. Jeden kleinen Knochen auch noch auf Latein! Gigantisch, wie man das behalten konnte. Am Ring gab es eine Diskothek, Café de Paris, man konnte auch sagen, Ball der einsamen Herzen. Am Tresen saß jedesmal ein blonder Langweiler und ließ den Autoschlüssel seines Ford Mustang wieder und wieder über die Finger gleiten. Beindruckt hat es nach Martins Beobachtungen keines der anwesenden Mädchen. Postbotinnen und Krankenschwestern waren die beiden Gruppen, die häufig anwesend waren. Und Martin wurde von einer solchen erhört und sie nahm ihn auch mit nach Hause. Festlegen wollte er sich aber wieder noch nicht. Mit seinem Freund hatte er schließlich vor Wochen den „Krankenschwesternreport“ gesehen und ging davon aus, daß vor allem nachts die jungen Frauen nur darauf warteten, endlich in die Krankenzimmer einfallen zu können.

An diesem Abend waren Martin und Wilfried mit einem höhersemestrigen, adeligen Medizinstudenten, von der blauen Tanne oder so ähnlich, in dessen nagelneuem Minicooper unterwegs. Martin ließ sich vor Abgang mit besagter Krankenschwester kurz darüber „briefen“, wann mit den fruchtbaren, gefährlichen Tagen bei der Frau zu rechnen sei. Mulmig war ihm schon. Sie nahm zum Glück die Pille, wie sich hinterher herausstellte.

Mittelmeerfieber

An Pfingsten also war Martin mit besagtem Wilfried unterwegs nach Stes. Maries de la Mer zum „Zigeunerfest“. Mit einem Zweimannzelt und seinem Käfer in 15 Stunden anstrengender Fahrt durch die Nacht – um am Morgen die Sonne in den Überschwemmungsläufen der Camargue glitzern und die Herden von Flamingos im kniehohen Wasser stehen zu sehen. Die beiden trafen sich gemeinsam mit Freunden und Bekannten aus Metzingen, Frankfurt und anderen Städten für eine Woche Strandleben. Zu der Zeit konnte man noch in den Dünen zelten. Die Prozession der „Heiligen Marien“ und ihre Segnung am Meeresstrand war wie jedes Jahr ein Ereignis. Die „Zigeunerwallfahrt“ der Sinti und Roma umfaßte wie jedes Jahr viele – manche in Tracht – bunt gekleidete Menschen, berittene Hirten (Gardiens), Priester und Ministranten.

In allen Straßen des Ortes wurde getanzt und musiziert. Die Landfahrer hatten sich am Ortsrand mit ihren großen Wagen, Zugmaschinen und Großfamilien in Form von Wagenburgen gruppiert. Darin leben sie ihr Leben in der Sippe. In den Cafés erklang Musik, meistens Gitarre mit Gesang und dazu tanzten die bunt gekleideten Landfahrerfrauen. Ob es nur eine Touristenattraktion und Folklore oder Ausdruck von Lebensfreude war – das war den jungen Leuten egal. Sie genossen es und ließen sich vom Flair des Besonderen einfangen.

Die Camargue war um diese Jahreszeit nur noch teilweise überschwemmt und die Gruppe mietete sich später auch Pferde für eine kleinen Ausritt. Immer wieder ging es an diesen Herden von Flamingos, die links und rechts im flachen Wasser standen, vorbei. Alles spiegelte sich im Wasser, wie das Erlebnis auf einer Postkarte. Das Wiedersehen mit ihren Freunden, mit denen Martin und Wilfried in der Zwischenzeit seit ihrem ersten Besuch in Metzingen nur per Brief verkehren konnten, war berauschend. Es war für Martin erst einmal wieder spannend, wen er diesmal neu kennenlernen würde. Sarah aus Metzingen hatte sich von ihrem Freund getrennt, dieser war jedoch mit seiner Schwester angereist und so hoffte Martin endlich einmal auf eine nähere erotische Begegnung mit Sarah. Dazu sei sie so kurz nach der Trennung vielleicht später einmal in der Lage, flötete sie. Zugleich versicherte sie Martin, daß sich nichts Näheres entwickeln würde. Man könne sich ja schreiben. Insofern kam ihm die Begegnung mit Ingrid, die etwas später angereist kam, sehr gelegen. Inhaltlich hatten beide eigentlich wenig auszutauschen, da Martin mit seinen hochschulpolitischen Verwicklungen und sie mit ihrem kunstgeschichtlichen Gedankengängen wenig Berührungspunkte fanden.

Wilfried hatte sich unsterblich in eine gewisse Gabyverliebt. Sie jedoch ging immer noch mit ihrem Weakmaster, wie der Spitzname in Metzingen lautete. Überhaupt hatten die Metzinger interessante Spitznamen. Ein anderer hieß Waldmeister. Er war leider mit der Realität nicht so sehr in Beziehung, weshalb er einige Zeit später, so hörten die Bonner nach ihrem Aufenthalt am Mittelmeer, psychiatrische Hilfe in Anspruch nehmen mußte.

Obwohl nun Wilfried und Martin nach Stes. Maries in Metzingen Ingrid und ihre Wohnkollegin Alexandra aufsuchten, ließen sich die Differenzen in der Beziehung zwischen Ingrid und Martin, die sehr gerne das Drachenbuch las, nicht überwinden. Wilfried versuchte es zwar mit Alexandra, jedoch war diese wiederum an gesellschaftlichen Fragen mehr interessiert als er. Eigentlich hätten Wilfried mit Ingrid und Martin mit Alexandra besser harmoniert. Ingrid entschied sich nach einem Besuch in Bonn bei Martin dazu, sich mit Wilfried in Köln zusammenzufinden. Leider hatte Martin es versäumt, die Zeichen der Zeit zu erkennen – Alexandra, genannt Alex, hatte ihm brieflich Brücken gebaut – er konnte sie nicht gehen. Inzwischen hatte Wilfried Interesse an gesellschaftspolitischen Fragen gewonnen und sein Verhältnis mit Ingrid, die Martin „Verstiegenheit“ in seinen Gedankengängen vorwarf, ging in die Brüche. Alexandra hatte während der Semesterferien in einem Autozuliefererbe-trieb gearbeitet und Martin in einem Brief von ihren Erlebnissen und Betroffenheiten über die Arbeitsverhältnisse geschrieben. Bedauerlicherweise erkannte Martin auch diesmal nicht, daß zwischen Alexandra und ihm eine tiefere Übereinstimmung in gesellschaftlichen Fragen bestand. Bei ihrem zurückliegenden Besuch in Bonn hatte er, seinem sozialistischen Anspruch folgend, Alexandra mit einem Schwall an Soziologenkauderwelsch überschwemmt. Obwohl sie, ausgehend von den Diskussionen in einem marxistischen Arbeitskreis ihrer Betriebsgruppe, über ein gewisses Grundwissen verfügte, hatte sie Grund, sich bei Martin zu beschweren.

„Die Diskussion am letzten Abend hat nicht allzu viel gefruchtet. Es war so scheißunbefriedigend, ich fühle mich aufgrund dieser Sache so richtig zum RCDS-Sympathisanten abgestempelt, was mir nicht so ganz arg schmeichelt. Meine Argumentation ging wohl hauptsächlich dahin, Dich etwas konkreter zu fassen, damit Deinen Redeschwall etwas aufzufangen, um somit zu einem Dialog zu kommen. Ich werde einfach aggressiv, wenn ich eine konkrete Antwort erwarte, und es kommt nur ein abstraktes Faseln. Solche Diskussionen bringen einfach zuwenig, weil man zuwenig aufeinander eingeht. Ich hatte so das Gefühl, daß Du mir da kaum Raum läßt. Als Deine Freunde seinerzeit da waren, habe ich Euch mal längere Zeit zugehört. Da fiel mir auf, daß dies eigentlich weniger ein Gespräch, als ein Wissensaustausch war, wo tausend Namen, noch mehr Buchtitel fallen. Oft habt Ihr Euch gerechtfertigt, daß Ihr diesen oder jenen Typen noch nicht gelesen habt, was aber schleunigst passieren wird – aber es kam einfach nicht zu einer Diskussion ihrer Ansätze, bzw. zu einem Vergleich. Denk jetzt nicht, ich sähe in Dir einen einzigen Narzißten. Dazu mit einer völligen Wirrnis im Kopf. Das ist beileibe nicht der Fall. Ich finde nur, daß Du das, was da so alles in Deinem Kopf gestapelt ist, etwas verständlicher Deiner Umwelt klarmachen solltest. Es wäre echt gut, wenn Du Dich dazu äußern könntest.“ Leider konnte Martin auf ihre zugeneigten Werbungsversuche nicht eingehen und empfand ihr Anliegen nicht als verständnisvolles Entgegenkommen. Trotz ihrer wohlwollenden Worte fühlte er sich auf den Schlips getreten. Er gefiel ihr grundsätzlich schon. Seine Wortkaskaden bedeuteten für ihn jedoch eine gewisse – scheinbare – Sicherheit vor weiterer Entwertung, wie er sie im Elternhaus erlebt hatte. Das war ihm nicht bewußt und so verhinderte er, ohne es zu wollen, das Entstehen einer näheren, vertrauensvollen Beziehung. Es waren eben „gschlamperte“ Verhältnisse.


[i] Annemarie Kaiser, Das Gemeinschaftsgefühl – Entstehung und Bedeutung für die menschliche Entwicklung, Zürich 1981, S 5