Mediengewalt Amoklauf Erfurt Staatliche Schulberatungsstelle für München
Zentrale pädagogisch-psychologische Beratungsstelle für alle Schulen
in der Landeshauptstadt und im Landkreis München
Dipl.-Psych. Dr. Rudolf Hänsel Rundbrief Nr. 2, Januar 2004, Staatlicher Schulberater
Werteerziehung in Elternhaus und Schule zur Prävention von Gewalt und Nihilismus
Ein Diskussionsbeitrag zur Friedenserziehung
Zustimmung und Kritik zum Rundbrief Nr. 1: “Für eine bewusste ethisch-moralische Werteerziehung – Ein Diskussionsbeitrag zu Erfurt”
Der Diskussionsbeitrag zu Erfurt vom Mai 2002 “Für eine bewusste ethisch-moralische Werteerziehung” hat ein lebhaftes Echo ausgelöst. Lehrkräfte, Eltern, Schüler, Psychologen, Landfrauen, Politiker und Erziehungswissenschaftler sind der Einladung zur Diskussion über Ursachen und Konsequenzen der tödlichen Schulgewalt in Erfurt gefolgt und haben in ihren Antworten überwiegend Zustimmung, aber auch Kritik zum Ausdruck gebracht.
Viele teilten das Unbehagen bezüglich der gegenwärtigen Erziehungssituation in Elternhaus und Schule und die Unzufriedenheit mit der zu beobachtenden Desorientierung und Haltlosigkeit vieler Heranwachsender und bejahten das Anliegen, die ethisch-moralische Wertevermittlung wieder bewusst in den Mittelpunkt der Erziehung zu stellen:
“Ich bin Ihnen ungemein dankbar, dass Sie sich engagieren und das Überlebensproblem unserer Gesellschaft artikulieren. […] Ich wünsche Ihnen weiter Mut und das Anhalten Ihrer Energie, die Thematik voranzubringen und die Zahl namhafter Mitstreiter – quantitativ und qualitativ – so zu vermehren, dass die existentielle Bedeutung der Werteerziehungsaufgabe vor PISA rangiert.” (Lehrer-Fortbildner)
Auch die Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Einigung über Werte, Ziele und Vorbilder in der Erziehung wurde betont:
“Ihr Aufsatz hat mich in meiner Haltung bestärkt. Wir brauchen eine Neubesinnung über Werte, Ziele und Vorbilder in der Erziehung und eine lang andauernde Diskussion in der Öffentlichkeit. Am Ende der Diskussion sollte – hoffentlich – ein breiter gesellschaftlicher Konsens sein.” (Gymnasial-Schulleiter)
“Ihr Diskussionsbeitrag spricht die Probleme deutlich an, die dringend einer Lösung bedürfen. [.] Eine Gemeinschaft kann nur bestehen, wenn sie Mitmenschlichkeit, Solidarität und Nächstenliebe praktiziert. [.] Es gibt keine Bildung ohne Erziehung und keine Erziehung ohne Werte.” (Politiker)
Die Bedeutung der Familie für den Prozess der Werteerziehung wurde in den Zuschriften oft hervorgehoben und deren heutige Infragestellung beklagt:
“Mit Ihrem Rundbrief haben Sie mir richtig aus der Seele gesprochen. Leider wurde die Familie als Grundgerüst einer funktionierenden Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten langsam, aber stetig kaputt gemacht. [.] Welche Werte gelten eigentlich noch in unserer Gesellschaft? Die Kinder bekommen ihre Namen nach irgendwelchen (fragwürdigen) Popstars, Kinohelden oder Sportidolen. Bitte geben Sie immer wieder solche Rundbriefe heraus.” (eine Bäuerin)
Aber es gab auch kritische Rückmeldungen. So wurde von einigen Lehrern und Psychologen meine Überlegung, dass in der Vergangenheit Unsicherheit der Erzieher bei der Jugend zu Desorientierung und Haltlosigkeit geführt haben, als unberechtigter Vorwurf empfunden und zurückgewiesen. Auch vermissten diese Kollegen den Hinweis auf die schlechten staatlichen Rahmenbedingungen, die konstruktives erzieherisches Handeln sehr einschränkten, wenn nicht gar verunmöglichten:
“Gerade an einer klaren Orientierung mangelt es uns nicht, jedoch an der Möglichkeit, sie entsprechend den Bedürfnissen der Jugendlichen und deren Eltern umzusetzen, da weder räumliche noch personelle Mindestvoraussetzungen gegeben sind.” (Förderschullehrerinnen)
Dass diese Unsicherheit und mangelnde Stellungnahme vieler Erzieher auch auf falsche Theorien aus den 70er Jahren zurückzuführen seien, wurde hingegen in Zweifel gezogen:
“Welcher Bezug besteht zwischen dem Täter von Erfurt und ,falschen Theorien in den 70er Jahren’? Ist dies ein kleiner politischer Seitenhieb auf Ihnen missliebige Theorien?” (Schulpsychologe)
Derselbe Kollege fand auch, dass die destruktive Medienwirkung auf Jugendliche überbetont wurde:
“Eine sehr einseitige und negative Sicht der Medien.”
Auf diese kritischen Anmerkungen möchte ich kurz erwidern: Aufgrund meiner eigenen langjährigen Erziehungspraxis und Unterrichtstätigkeit ist mir sehr wohl bewusst, dass Eltern, Lehrer und andere Erzieher heute zunehmenden Belastungen ausgesetzt sind und dass Lehrer für ihre päd-agogische Arbeit statt der notwendigen Unterstützung durch Staat und Gesellschaft oft Abwertung und Geringschätzung erfahren. Das steht aber nicht im Gegensatz zu meiner Beobachtung einer auffälligen erzieherischen Zurückhaltung in den letzten Jahrzehnten gerade in Wertefragen, eine Beobachtung, die nicht nur von vielen Erziehenden in ihren Zuschriften, sondern auch von Erziehungswissenschaftlern geteilt wird.
Der Hinweis auf unwissenschaftliche Theorien der 70er Jahre als Ursache für diese Verunsicherung in der Werteerziehung sollte eigentlich entlasten. Gemeint waren z. B. die Antipädagogik, der gewährenlassende Erziehungsstil (Laisser-faire) oder die Meinung, dass die familiäre Erziehung grundsätzlich unterdrückend sei (Repressionstheorem).
Zu den beklagten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen möchte ich anmerken, dass sie tatsächlich für eine gelingende Werteerziehung immer ungünstiger werden und man sich damit nicht abfinden sollte. Aber der uns als aufgeklärte Erzieher zur Verfügung stehende Spielraum für konstruktives Wirken ist immer noch vorhanden und sollte genutzt werden.
Die Gewaltdarstellungen in den Medien (“Unterhaltungs”gewalt) können meines Erachtens in ihren Wirkungen gar nicht kritisch genug bewertet werden, wenn man die Ergebnisse der Medienwirkungsforschung eingehend studiert und mit Jugendlichen, die einmal der Computer- und Videospielsucht verfallen waren, gesprochen hat. Ein 18jähriger Gymnasiast schrieb mir:
“Ich weiß nicht, wie manche Menschen die Dreistigkeit besitzen können, eine (negative) Beeinflussung in Frage zu stellen. Die meisten, die glauben, dass diese Spiele nicht beeinflussen, spielen sie entweder selbst oder haben sie gespielt und sind deshalb geblendet, oder sie haben schlichtweg keine Ahnung von der Materie. [.] Jetzt gilt es, den Erziehern die Augen zu öffnen und Worten Taten folgen zu lassen. Leider braucht es Ereignisse wie Erfurt, damit die Menschen ihre Augen öffnen, denn hätten sie ein bisschen früher ein bisschen mehr getan, wer weiß, wie viel friedlicher unser Zusammenleben jetzt wäre.”
Befürwortende wie kritische Stellungnahmen – das lässt sich abschließend feststellen – stimmten jedoch darin überein, dass es für das Wohl der nachfolgenden Generation und den Bestand unserer Gesellschaft dringend erforderlich ist, über die zu vermittelnden Werte und Normen nachzuden-ken, zu einer Verständigung zu gelangen und die komplexe Aufgabe der Wertebildung und -ver-mittlung entschlossener als bisher anzugehen.
Eine Verständigung über Werte ist nötig und möglich
Was sind überhaupt Werte?
“Werte sind Vorräte an gesellschaftlich und persönlich Wünschbarem, potenzielle Orientierungsmuster. Sie sind keine konkreten Handlungsvorgaben, keine Normen, sie sind auch nicht einklagbar. Werte sind individuelle Vorstellungen davon, was erstrebenswert sei und damit allgemeine Anhaltspunkte, an denen sich menschliches Verhalten orientieren kann.” (Deutsche Shell, Jugend 2000, S. 97)
Die Mitglieder einer Gesellschaft können sich darüber verständigen, welche dieser Orientierungen für ein friedfertiges, mitmenschliches und gedeihliches Zusammenleben wünschenswert wären:
“Jede Gesellschaft muss durch gemeinsame Werte verbunden sein, so dass ihre Mitglieder wissen, was sie voneinander erwarten können und dass es bestimmte, von allen getragene Grundsätze gibt, die ihnen eine gewaltlose Beilegung ihrer Differenzen ermöglichen. Das gilt für örtliche Gemeinwesen ebenso wie für Staatsgemeinschaften.” (Kofi Annan, “Gibt es noch universelle Werte?”, S. 1 f.)
Es ist also zu klären, welche Werte und Tugenden wir unseren Kindern und Jugendlichen vermitteln wollen, um unsere Institutionen, vor allem unsere Erziehungsziele, Erziehungsmethoden und unsere Erziehungspraxis darauf auszurichten. Da wir in einem historischen Kontinuum leben mit gewachsenen Traditionen, können wir auf ethische Grundlagen in unserem Kulturraum zurückgreifen. Hier gibt es “durchaus allgemeinverbindliche ethische Aussagen, die einen Minimalkonsens an Werten begründen” (Wiater, S. 6). Diese Werte sollten, um allgemeine Geltung beanspruchen zu können, zwei formalen Prinzipien genügen, dem “Prinzip der Verallgemeinerbarkeit” und dem “Prinzip der Gleichbehandlung und Fairness” (Wiater, a.a.O.), denn alle Menschen sind individuelle und zugleich soziale Vernunftwesen, sodass diese beiden Prinzipien unmittelbar einsichtig sind. Das inhaltliche Grundprinzip, dem alle Werte verpflichtet sein müssen, ist:
“Alles Tun und Lassen muss der Humanität (der Selbst- und Höherentwicklung des Menschen, dem Schutz und der Würde des einzelnen und der Menschheit insgesamt) dienen.” (Wiater, a.a.O.)
Wenn wir nun eine Klassengemeinschaft oder Familie als eine Gesellschaft im Kleinen auffassen wollen, können wir als Erzieher reflektieren, an welchen Werten sich Erziehung, Unterricht und klassengemeinschaftliches bzw. familiäres Miteinander orientieren müssten, damit diesen Forderungen (Fairness, Selbst- und Höherentwicklung, Schutz und Würde des einzelnen und der Gemeinschaft) Genüge getan wird. Mit anderen Worten, es stellt sich die Frage, welche Werte in Familie und Schule gelebt und gelegt werden müssten, damit ein gedeihliches Miteinander sowohl für das Hier und Heute als auch für die Zukunft, in der die jungen Menschen die Gestalter der Gesellschaft sein werden, stattfinden kann.
Aus dieser Überlegung lassen sich m. E. eine Reihe von Werten aufstellen, die ich in Anlehnung an von Hentigs Schrift “Ach, die Werte – Über eine Erziehung für das 21. Jahrhundert” als “oberste Güter” bezeichnen möchte. Diesen Werten lassen sich auf einer konkreteren Ebene auch Tugenden (“wertvolle” Eigenschaften) zuordnen:
* Achtung vor dem Menschen, der Unversehrtheit seines Lebens, seiner Würde und vor der Natur (Respekt, Vorsicht, Achtung vor dem Andersartigen)
* Wahrheit (Ehrlichkeit; Bereitschaft, für die Wahrheit einzutreten)
* Freiheit, Selbstbestimmung (Eigenständigkeit, unabhängiges Denken, Eigenverantwortung)
* Bildung und Wissen (Lernbereitschaft, Interesse, Neugier, Sachlichkeit, Ordnung)
* Leistung (Fleiß, Anstrengung, Disziplin, Pflichterfüllung)
* Frieden und Gewaltlosigkeit (Friedfertigkeit, Toleranz, Mut, keine Duldung von Gewalt)
* Gerechtigkeit, Rechtsgleichheit für alle Menschen, Fairness (Bereitschaft zu teilen;
Mitleidensfähigkeit, Kooperation)
* Verantwortung für andere Menschen, für das Gemeinwohl (Mitgefühl, Verantwortlichkeit, Sorgsamkeit, Mäßigung)
* Solidarität (Hilfsbereitschaft, Rücksichtnahme, Brüderlichkeit, Pflichterfüllung, Zuverlässigkeit)
* Freundschaft, Nächstenliebe (Freude an der Individualität des anderen; Herzlichkeit, Treue, Verbindlichkeit, Besonnenheit)
Wenn wir uns dann auf solche Werte geeinigt hätten, würde sich in der Folge die Frage stellen, wie wir – Mitglieder einer Gemeinschaft – dazu kommen, uns in unserem Denken, Fühlen und Handeln an diesen Werten zu orientieren.
Werte werden erlernt – und dazu braucht es uns Erzieher
Einstellungen, Grundüberzeugungen, Werte und Normen erlernt der Mensch von Beginn seines Lebens an durch Interaktionen mit seiner Umwelt, d. h. mit den Personen, Dingen und Situationen, die sie konstituieren. Die Basis für diese Lernprozesse sind einige wenige Prädispositionen: “Es ist dem Menschen angeboren, dass er sein Handeln als lustvoll/angenehm oder schmerzhaft emp-findet.” (Kerstiens 1987, S. 20, zit. n. Wiater, S. 4) Weiterhin hat ihn die Natur mit der Fähigkeit ausgestattet, “dass er seine Handlungen als erfolgreich oder nicht erfolgreich bewertet. Das ist für ihn überlebensnotwendig, da er sonst keine Ziele erreichen könnte” (a.a.O.). Auch lässt schon das Kleinkind in seinen Reaktionsweisen Grundformen des logischen Denkens erkennen. Damit sind die Voraussetzungen gegeben, dass der Mensch einen Maßstab für das entwerfen kann, was sinnvoll oder sinnlos, was schädlich oder bekömmlich, was gut oder schlecht ist. Im Laufe seines Lebens erwirbt sich jeder Mensch durch Interaktion und Auseinandersetzung mit seiner spezifischen Umwelt eine “ganz persönliche Organisation von Verhaltensmerkmalen, Eigenschaften, Handlungskompetenzen und Selbstkonzepten” (Wiater, S. 4) und damit auch seine persönliche Wertorientierung: “Ob bestimmte Normen und Werthaltungen verhaltensrelevant erscheinen, welche Befähigungen und Fertigkeiten als nützlich und erforderlich empfunden werden, entscheidet sich daher wesentlich an seinen subjektiv und individuell verarbeiteten Sozialisationserfahrungen.” (Wiater, S. 5)
In diesem Prozess der Wertebildung spielen wir Erzieher also eine herausragende Rolle, da wir die Interaktionspartner des Heranwachsenden sind und wir die Umgebung maßgebend gestalten, die für ihn das Lernumfeld bildet. Also sind wir verantwortlich dafür, welche Werte unseren Kindern vermittelt und dass diese auch in ihrem Gefühl verankert werden, damit sie ihr Denken, Fühlen und Handeln leiten.
Obwohl der Wertebildungsprozess von Beginn des Lebens an stattfindet, wird in den folgenden Thesen der Schwerpunkt auf den erzieherischen Umgang mit Schulkindern und Jugendlichen gelegt, da sie vor allem in diesem Alter unsere Werte und Normen oft nicht mehr widerspruchslos annehmen, sondern sie in Frage stellen oder sogar ablehnen und uns damit zur Auseinandersetzung herausfordern.
Fünf Thesen zu einer nachhaltigen Werteerziehung
1. These: Erwachsene müssen im Leben der Jugendlichen gegenwärtig sein
Verlässliche und vertrauenswürdige Bezugspersonen sind von großer Bedeutung für die Entwicklung im Kindes- und Jugendalter. Neueste Forschungen zu Ursachen und Vorbeugung tödlicher Schulgewalt weisen darauf hin, dass in Gemeinschaften, in denen sich diese ereignete, eine große Kluft die Jugendkultur von der Erwachsenenwelt trennt, und fordern eine Überbrückung dieser Kluft:
“Wenn die Erwachsenen im Leben der Jugendlichen nicht gegenwärtig sind, ist es auch nicht möglich, ihre Kinder Erwachsenenwerte wie Selbstvertrauen, Selbstdisziplin, Höflichkeit, gegenseitigen Respekt, Geduld, Großmut und Einfühlungsvermögen in andere zu lehren. Die Welt der Jugend wird von den Erwachsenen nicht gut verstanden. Die empirischen Untersuchungen [in den USA 2002, R. H.] ergaben einen starken Beweis für die Abwesenheit von Beratung und Anleitung durch Erwachsene und speziell durch ihre Eltern. Die Jugendlichen taten viele Dinge, die die Erwachsenen – hätten sie Kenntnis davon gehabt – als gefährlich eingeschätzt hätten.” (Schneider, S. 26)
2. These: Persönlichkeitsbildung Heranwachsender erfordert wechselseitiges Bezogensein und Gebundenheit zwischen dem Jugendlichen und dem Erwachsenen, nicht emotionale Distanzierung
Die amerikanische Erziehungsstilforscherin Diana Baumrind sieht eine wechselseitige Gebundenheit, nicht Distanzierung zwischen Heranwachsenden und Erwachsenen als Hauptaufgabe der Adoleszenz. In einer Untersuchung schreibt sie:
“Ich habe dargelegt, dass Heranwachsende sozial kompetent und moralisch entwickelt sind, wenn sie “interdependent” [wechselseitig gebunden] funktionieren. Die Hauptaufgabe der Adoleszenz ist somit nicht die Bewegung weg von der familiären Abhängigkeit zur Unabhängigkeit, sondern vielmehr zur wechselseitigen Gebundenheit, der Interdependenz. Ich habe behauptet, dass Persönlichkeitsentwicklung (individuation) nicht die emotionale Distanzierung der Jugendlichen von ihren Eltern erfordert, sondern vielmehr ein Neuaushandeln von Rechten und Pflichten der Familienmitglieder. Schließlich habe ich festgestellt, dass die Persönlichkeitsbildung des Jugendlichen nicht nur durch einen innerlich sich vollziehenden moralischen und kognitiven Entwicklungsprozess erreicht wird, sondern durch eine aktive Bindung an einen Beruf oder die Schule, an Freunde und moralische Ideale.” (S. 121)
3. These: Erwachsene haben die Aufgabe, Werte klar zu benennen und mit den Kindern und Jugendlichen in eine Auseinandersetzung darüber einzutreten
Dazu wieder ein Zitat von Diana Baumrind:
“Es (wäre) die Aufgabe der erwachsenen Orientierungspersonen einschließlich der Eltern, die jungen Leute in den gemeinsamen Traditionen ihrer Gesellschaft und in den demokratischen und persönlichen Tugenden zu erziehen, anstatt diese Traditionen in einem wertneutralen Kontext zu präsentieren. Es ist Aufgabe einer jeden Generation, die von der letzten Generation überlieferten Traditionen neu zu bewerten. Unreflektiertes Übernehmen von Werten produziert “foreclosed identities” [zu früh abgeschlossene Identitätsentwicklungen, R. H.]. Unreflektiertes Ablehnen dieser Traditionen liefert andererseits Heranwachsende der Entfremdung aus. Heranwachsende sind am besten in der Lage, diese Traditionen zu reflektieren, wenn Erwachsene ihre Werte klar darlegen und die Jugendlichen ermutigen, sie zu untersuchen und gegebenenfalls zu kritisieren.” (S. 120 f.)
Zu diesem Zweck sollten wir die Jugendlichen dazu gewinnen, mit uns in einen echten, ehrlichen Dialog über die Wertefrage zu treten. Damit dieser gelingt, sollte er folgendermaßen gestaltet sein:
* Unterschiedliche Meinungen, Widersprüche, Emotionen müssen zugelassen werden.
* Wir dürfen ausschließlich argumentative Durchsetzungsstrategien anwenden (ein zentrales Merkmal des “autoritativen Erziehungsstils” von Diana Baumrind).
* Die Kinder und Jugendlichen sollten immer unser Wohlwollen spüren, sicher sein, dass wir die Beziehung nicht abbrechen und merken, dass es uns um sie geht.
* Wir als Erzieher müssen bei aller Einfühlung in die Argumente und Wünsche der Kinder bei unserer eigenen gut begründeten Sicht bleiben: Gewalt in jeder Form ist z. B. unbedingt abzulehnen. Oder: Wir haben als Spezies Mensch eine Verantwortung für andere. Oder: Nur Gerechtigkeit und Versöhnung können zu echter Freundschaft und zum Frieden führen.
4. These: Werteerziehung wird dann nachhaltigen Erfolg haben, wenn bei Kindern und Jugendlichen die Werthaltungen durch praktisches Einüben pro-sozialer Verhaltensweisen gefestigt werden
Damit die pro-sozialen Werthaltungen im Heranwachsenden sich festigen, braucht es auch seine eigene Aktivität. Wir Erzieher müssen deshalb Vorbild sein und uns im Kleinen und Großen für die zu vermittelnden Werte wie Mitmenschlichkeit, Verantwortungsbereitschaft, Gerechtigkeit, Friedfertigkeit usw. aktiv engagieren und unsere Jugend dabei einbeziehen und anleiten: Jemandem eine Freude bereiten; jemandem helfen, der krank ist; einen versöhnlichen Weg für andere Menschen finden, die zerstritten sind; etwas für das Gemeinwohl beitragen, ob in der Familie, im Klassenzimmer oder auf Gemeindeebene; sich für den Frieden in der Welt engagieren; einen materiellen oder ideellen Beitrag leisten zur Verbesserung der Lebensbedingungen anderer Menschen. Die Genugtuung, die das Kind oder der Jugendliche dabei erfährt, schaffen bei ihm eine innere Zuversicht, dass man mit dem Mitmenschen gut auskommen kann, und zeigen ihm, dass es sich lohnt, den positiven, manches Mal etwas längeren Weg zur Befriedigung eigener Bedürfnisse zu gehen. Ein solches Training wird eine stärkere Verbindung zu anderen, weiter entfernten Menschen in seinem Umfeld schaffen, sein Mitgefühl entwickeln. Nur durch eine solche aktive Teilnahme – darauf weist der Entwicklungspsychologe Ervin Staub hin – erlebt das Kind neben der verstandes-mäßigen Einsicht in die Berechtigung der betreffenden Werte auch die dazugehörenden Affekte wie Freude und Genugtuung, die das Überdauern und die Integration dieser Wertorientierung ins Gefühl sichern (vgl. Staub). Auch wird ein junger Mensch, der in pro-sozialen Aktivitäten geübt ist, später im Konfliktfall außer einem spontanen Mitgefühl auch friedliche Lösungsalternativen zur Verfügung haben und wird weniger leicht geneigt sein, auf gewalthaltige Durchsetzungsstrategien zurückzugreifen.
5. These: In der Schule lassen sich die grundlegenden Werte vermitteln
Der schulische Unterricht bietet in jedem einzelnen Fach die Möglichkeit, Werte zu vermitteln und Tugenden einzuüben. Eine besonders gute Gelegenheit hierfür bietet das Ganzklassengespräch über ein fachliches oder soziales Problem. Unter Anleitung des Lehrers können Schüler in solchen Gesprächen lernen, sich gegenseitig vorurteilsfrei zuzuhören, zu erfassen, was der andere sagt und meint, sich in die Gefühlslage des anderen einzufühlen, seine Sichtweise zu achten und zu würdigen, Interesse für die fremde, ihm vielleicht nicht sofort zugängliche Meinung aufzubringen und schließlich den Mut zu finden, die eigene, durch unabhängiges Weiterdenken erworbene Sichtweise beizutragen, unterschiedliche Standpunkte gleichwertig zu diskutieren und gemeinsam eine Lösung zu entwickeln.
Im Fachunterricht kann der Lehrer seine Schüler für die gegenseitige Hilfe gewinnen. Versteht ein Schüler z. B. einen Sachverhalt nicht oder kann er eine grammatikalische oder mathematische Regel nicht anwenden, gewinnt er dessen Mitschüler dafür, ihrem Kollegen bei der Lösung der Aufgabe zu helfen, noch bevor er selbst einspringt. Er überlegt auch, wie derjenige, der Hilfe bekommen hat, dem Helfenden oder einem anderen Mitschüler auf einem Gebiet, das er sich selbst mehr zutraut, beistehen kann. Um Schüler zu dieser gegenseitigen Hilfe anzuleiten, nimmt sich der Lehrer Zeit und vermittelt ihnen das dafür nötige Mit- und Taktgefühl. Der gesamte Prozess schafft in der Klasse mit der Zeit ein Klima der Freundschaft, Solidarität, Sicherheit und Freude am Lernen und Leisten.
Sucht ein Schüler ein Wissens- oder Verhaltensdefizit dadurch auszugleichen bzw. zu verbergen, dass er den Lehrer oder die Klassengemeinschaft betrügt, geht der Lehrer nicht darüber hinweg, sondern klärt den Sachverhalt auf und dringt auf Ehrlichkeit im Umgang miteinander, damit sich keine Fehlhaltungen oder gar Korruption verfestigen. Begegnen wir Erzieher dem Kind oder Jugendlichen gleichwertig, offen und mit einem ehrlichen Anliegen, ist er auch bei einer Verfehlung für einen konstruktiven Weg zu gewinnen.
Konflikte unter Kindern und Jugendlichen lassen sich oft nur schwer gewaltfrei lösen. Als Erstes sollte ihnen der Lehrer sagen, dass da, wo Menschen zusammen leben und wirken, durchaus Konflikte entstehen können. Wenn aber beide Konfliktparteien unter Anleitung eines Erwachsenen ihre Anliegen und Beweggründe, die zum Konflikt führten, in Ruhe darlegen können und die jeweils andere Partei diese auch gefühlsmäßig nachvollziehen kann, wird man Lösungen entwickeln, die beide Seiten zufriedenstellen. Das würde sich sowohl auf alle Konflikte unter Klassenkameraden als auch zwischen Erwachsenen und ganzen Völkern wohltuend und konstruktiv auswirken. Bei dem ganzen Prozess ist es wichtig aufzuzeigen, dass Gewaltausübung im Konflikt den anderen verletzt, Wunden hinterlässt, die Freundschaft und den Frieden untereinander stört oder gar beendet und sich negativ auf die ganze Gemeinschaft auswirken kann. Eine Wiedergutmachung des Schadens ist unerlässlich; nicht in Form einer oberflächlich hingeworfenen Entschuldigung, wohl aber durch eine ehrliche Reflexion des eigenen Verhaltens und ein ernsthaftes Nachdenken über eine Wiedergutmachung und deren praktische Umsetzung, die für den angerichteten Schaden – sei er materieller oder seelischer Natur – wirkliche Genugtuung und Trost spendet. Die Gemeinschaft, in der sich der Konflikt zugetragen hat, ist zum Mitdenken bei der Suche nach einer gerechten Lösung mit einzubeziehen. Durch ein solches Einüben gewaltfreier Konfliktlösungen kann die Schule zu einem friedlichen Klima in der Gesellschaft beitragen. Frieden und Versöhnung sind immer möglich!
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Auch dieser Rundbrief ist wieder als Einladung zur Diskussion gedacht; Ihre Stellungnahme dazu ist sehr willkommen. Schulleiter/innen und Beratungsfachkräfte werden gebeten, den Brief auch an Schülereltern und ältere Schüler/innen weiterzuleiten.
Kontaktadresse: Pündterplatz 5, 80803 München; Tel. (089) 38384950 / 51, Fax 38384988
E-mail: Rudolf.Haensel@Schulberatung-Muenchen.de
http://www.schulberatung-muenchen.de und http://www.schulberatung.bayern.de
Literatur:
* Annan, K. “Gibt es noch universelle Werte?”, Tübingen 12. 12. 2003.
Quelle: www.weltethos.org/st_2_xx/s_3202.htm.
* Baumrind, D. (1987). A Developmental Perspective on Adolescent Risk Taking in
Contemporary America. In: Irwin, C. E. (ed.). Adolescent Social Behavior and Health. New
Directions for Child Development. San Francisco, P. 93 – 121. [Übersetzung: Renate Hänsel]
* Deutsche Shell (Hrsg.) (2000), Jugend 2000. Frankfurt/M.
* Hentig, H. v. (1999). Ach, diese Werte – Über eine Erziehung für das 21. Jahrhundert.
München/Wien.
* Schneider, H. J. (2002). Vorbeugung gegen tödliche Schulgewalt. In: forum kriminalprävention
4/2000, S. 26 – 28.
* Staub, E. (1979). Positive Social Behavior and Morality. Vol. 2. Socialisation and Development.
New York. [Übersetzung: Renate Hänsel]
* Wiater, W. (2003). Wertorientiert denken und handeln lernen. In: Katholische
Erziehergemeinschaft (Hrsg.). Christ und Bildung 04/2003, S. 4 – 9.