Klassentreffen Morsbroich 2000
„Ich war auch mal jung!“
Nach Mitschriften aus einer zeitgenössischen Philosophiestundein einer Oberprima
– 1970 –
Ich war auch mal jung! Ich hab’ meine Unterlagen vergessen. Tatsächlich, ich hab’ das Buch nicht bei mir, und deshalb weiß ich nicht, wie die einzelnen Noten ausgesehen haben.
Aber ich möchte mein Gewissen – ich hab’ nämlich eins – erleichtern. Ja, überhaupt leidet die Ethik unter einem so großen Formalbegriff, dass man sie heute gar nicht mehr sehen kann. Wie handelt der Mensch? Da sagt die Bibel: böse. Gelegentlich auch mal gut, sagt der Skeptiker, und insoweit stellt sich die Frage: Wie soll der Mensch handeln? Und da hat sich Kant aus der ganzen Geschichte mit einem Salto mortale heraus begeben…
[Anm.: Genau an dieser Stelle käme eigentlich der kategorische Imperativ oder die golden rule: „Handle für die Anderen voraussehbar! So wie Du selbst behandelt werden willst.“ Aber das hat man vielleicht in einer früheren oder späteren Stunde behandelt 😉]
Materielle Ethik geht natürlich immer ins Einzelne. Denken Sie nur mal an die Treue: Dem Ehegatten ist die Treue zu halten. Das ist schon ein Gebot, das selbstverständlich nicht mehr formell ist, sondern materiell. Denn es gibt durchaus Verhältnisse, in denen einem das schnurz ist. Denken Sie nur mal an den – ob er existiert, weiß ich nicht – Pascha in Persien, nicht wahr, dem ist es gar keine Wertfrage, ob er seine Frau behält oder verstößt.
Woraus geht denn die ethische Forderung nach Gleichheit hervor? Es könnte ja auch eine juristische sein, ist aber eine ethische. Und die Freiheit: wenn man seine eigene zerstört, wenn man Kettenraucher ist, und 40 Stück am Tag raucht, kann man ohne weiteres darüber hinwegsehen, dass man mit 40 stirbt – das ist meine Freiheit. Bitte? Setzen Sie meinetwegen andere Zahlen ein, der Satz bleibt aber bestehen… Ich muss Ihre Freiheit beschränken, das ist meine Pflicht. Was ich gar nicht gern tue. Was ich doch etwas gern tue, weil ich bei meinen Kollegen angeben kann: Bei mir spuren die Burschen, bei Ihnen ja nicht!
Wer sich dem Arzt ans Messer liefert und tapfer die Schmerzen erträgt, der ist genauso tapfer wie einer, der, ohne mit der Wimper zuzucken, mit seinem Degen gegen zehn Gegner angeht und vielleicht sogar noch gewinnt. Öfter aber den Heldentod stirbt. Die Hartmannsche Ethik, das ist ein Wälzer, den werden Sie nicht verstehen, weil ich ihn nicht verstehe. Wenn ich ein Zehntel davon verstehe, dann verstehen Sie vielleicht ein Hundertstel davon. Welche Leute haben sich sonst noch mit der Ethik befasst? Ich! … Man sollte bei allen Philosophen davon ausgehen, wenn sie nicht so ganz abartig sind. Meinetwegen, der vom mittelalterlichen Gottesbegriff ausgehende Thomas von Aquin (!), damit können Sie von der ersten Stunde an nicht konform gehen.
Ich will Ihnen die ganze Sache mal an meinem eigenen Kasus demonstrieren: Als ich aus Arroganz oder Langeweile im ersten Semester Philosophie belegte, da habe ich kaum was verstanden, auch schon deswegen, weil ich als fixer Stenograph die ganze Vorlesung wörtlich mitschrieb. Wenn ich das nach ’ner Woche noch mal zuhause durchgelesen hatte, dann hatte ich noch weniger verstanden. Das habe ich nachher sein gelassen. Aber ich habe dann doch fleißig mitgeschrieben, und bin dann auch ins Seminar gegangen, und es hat dann so einige Jahre gebraucht – ich will gar nicht mal sagen, dass ich der fleißigste philosophische Arbeiter gewesen bin. Sondern man prüft dann an philosophischen Begriffen so das ganze Leben. Leben bedeutet Denken, und gerade der Primaner ist fleischgewordenes Denken, so hat das mein Lehrer einmal gesagt.
Der Jurist ist ganz einseitig. Z.B. beim Besteigen der Straßenbahn: Wenn die alte Frau, bevor der Schaffner kommt, einen Schlaganfall bekommt, dann denkt der Arzt natürlich gleich daran: Was hat die wohl gehabt (!)? Der Jurist wird gleich fragen: Muss die jetzt noch Fahrgeld bezahlen oder nicht? – Das ist der typische Jurist. Aber der Philosoph denkt im ganzen Leben die Dinge so durch…
Nun will ich Ihnen weitererzählen: Ich habe dann nachher in den letzten Semestern eine ganze Menge verstanden. Eins habe ich nicht verstanden, das war mehr aus Faulheit. Ich hatte einen Vortrag von Nicolai Hartmann gehört über griechische Philosophie. Er zitierte auf Griechisch. Das konnte ich nicht mehr – bei ihm war natürlich bisschen Arroganz dabei. So ähnlich wie die Ärzte untereinander lateinische Ausdrücke gebrauchen und der arme Patient versteht nichts. Oder die Theologen. Dreisterweise habe ich mich nachher trotzdem zum Examen gemeldet, und habe das Doktorexamen auch mit knapper Not bestanden – mündlich jedenfalls mit knapper Not. Doktorexamen, das war mit 27 Jahren.
Und dann kam der Krieg und die Leute lachten und schließlich haben wir dann verloren und ich hab’ gewonnen, denn ich war gesund hinterher. Und nach dem Krieg habe ich dann die Kurve gekratzt und habemich auf Drängen meiner Familie – die wollte Brot haben, das war damals knapp – zum Lehrerberuf entschlossen. Aber dann musste ich noch ein Staatsexamen machen, und das bestand nun darin, dass ich ein philosophisches Examen machen musste. Denn ich hatte immer noch – es war 11 Jahre später – denselben Professor am Riemen, und der prüfte mich.
Glauben Sie nur ja nicht, dass ich in den Jahren Krieg nur mit philosophischem Gepäck herumgelaufen bin! Ich hatte doch Gewehre, Helme und Gasmasken zu tragen. Trotzdem, ich habe auch drei Jahre auf dem Büro gesessen, und auch in einem Jahr Gefangenschaft sehr viel gelesen. Aber Philosophisches nur wenig. Wenn ich Medizin studiert hätte, wäre ich aus der Sache herausgekommen. Oder Erdkunde und Biologie, das macht man nicht am Schreibtisch, sondern da muss man Feldforschung betreiben. Insofern sind Sie, so wie ich es in Ihrem Alter auch war (!), reichlich unreif, um echte Philosophie zu betreiben…
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